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GESCHICHTE
DER
OHRENHEILKUNDE.
VON
DR- ADAM POLITZER,
O. O. PROFESSOR DER OHRENHEILKUNDE AN DER WIENER UNIVERSITÄT, K. K. HOFRAT,
VORSTAND DER K. K. UNIVERSITÄTSKLINIK FÜR OHRENKRANKE IM ALLG. KRANKENHAUSE IN WIEN.
ZWEI BANDE.
I. BAND.
VON DEN ERSTEN ANFÄNGEN
BIS ZUR MITTE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS.
Mit 31 Bildnissen auf Tafeln und 19 Textfiguren.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1907.
Druck der Union ]>. utsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
DEM ANDENKEN MEINES VEREWIGTEN
FREUNDES
HOFRAT PROF. Dr. HERMANN NOTHNAGEL
GEWIDMET.
Vorwort.
Die Geschichte der Medizin hat bis vor kurzem nur wenig Be-
achtung gefunden. Erst in neuerer Zeit hat das gesteigerte historische
Interesse, das sich gegen die Neige des 19. Jahrhunderts auf allen Ge-
bieten kundgibt, in weiteren ärztlichen Kreisen Eingang gefunden. Auch
hier beginnt die Ueberzeugung durchzudringen, daß der Arzt, soll sein
Beruf voll erfaßt und nicht zum bloßen Handwerk herabgedrückt werden,
den Entwicklungsgang seiner Wissenschaft, wenigstens in ihren Grund-
zügen, kennen muß.
Was von der Medizin im allgemeinen gilt, läßt sich mit verschärf-
tem Nachdruck von ihren Spezialfächern behaupten. Wer Anspruch
darauf erheben will, sein Gebiet nach jeder Richtung hin zu beherrschen,
muß die Leistungen früherer Epochen kennen. Nur das gründlicht'
Studium der Fachliteratur öffnet ihm den Blick für wichtige und un-
entbehrliche Vorarbeiten, und die lebendige Beziehung zwischen den
Leistungen einer früheren Zeit und den Errungenschaften der Gegenwart
werden ihn vor Prioritätsansprüchen schützen, wo es sich um literarisch
festgestellte Leistungen einer früheren Epoche handelt.
Der Gesamtüberblick über das geistige Inventar vergangener Peri-
oden gibt uns aber außer der richtigen Wertschätzung abgeschiedener
Geschlechter auch nützliche Anregungen für eigene Forschung. Die Ge-
schichte einer Spezialwissenschaft soll in gewissem Sinne der Leitfaden
aus der Vergangenheit in die Gegenwart sein und die Grundlage, auf
der die Wissenschaft weiter ausgebaut werden soll.
Dies ist der Grundgedanke, der mich bei der Abfassung der vor-
liegenden Geschichte der Ohrenheilkunde geleitet hat, deren Vorarbeiten
mich so manches Jahr beschäftigt haben. Bedarf es eines Beweises für
die Berechtigung einer solchen Arbeit, so sei auf die Spezialgeschichten
der Anatomie, Chirurgie, Ophthalmologie, Gynäkologie und Syphilidologie
hingewiesen, die sich als vortreffliche Nachschlagebücher erwiesen haben.
Die Sichtung des literarischen Materiales zur historischen Dar-
stellung eines Spezialfaches erfordert große Opfer an Zeit und Mühe
und den bewährten Rat befreundeter Kollegen. Von diesen nenne ich in
y | Vorwort.
. y
erster Reihe Herrn Prof. Dr. Neuburger, dem ich für seine Ratschläge
in der Anordnung des Stoffes und für die zahlreichen Literaturnachweise
zu Dank verpflichtet bin. Desgleichen spreche ich meinen Dank aus
Herrn Prof. De'me'trios Demetriadis in Athen für die Abschrift des
in der Bibliothek zu Athen befindlichen Manuskriptes Nr. 1489, und
endlich den Herren Vorständen der k. k. Hofbibliothek, der Universitäts-
bibliothek und dem Vorstande der Handschriftensammlung der Bibliotheque
Nationale in Paris für die Bereitwilligkeit, mit der sie mir die zu meiner
Arbeit nötigen Werke zur Verfügung stellten.
I>;i-. vorliegende Buch ist fast durchwegs nach den Originalwerken
bearbeitet. Nur dort, wo diese in den Bibliotheken fehlten, mußte zu
den älteren Quellenwerken von Portal, Sprengel, Lincke und zu dem
Literaturwerk St anislaus v. Steins gegriffen werden. Einzelne, trotz
um fassender Quellenforschung nicht zu umgehende Lücken mögen durch
den großen Umfang des zu bearbeitenden Materiales entschuldigt sein.
Möge denn dieses Werk, dessen Abfassung mir bei aller Arbeit
doch auch Stunden reinster Freude gewährt hat, meinen Fachgenossen
nützliche Anregung zu eigenen fruchtbringenden Studien auf dem Felde
unseres Spezialfaches bieten.
A. Politzer.
Inhaltsverzeichnis.
Die Otiatrie bei den alten Völkern des Orients.
Seite
Aegypter 1
Babylonier und Assyrier 4
Juden 6
Inder 7
Anhang: Die Ohrenheilkunde bei den Naturvölkern 10
Die Otiatrie bei den Griechen und Römern.
Stand der Otiatrie bei den Griechen vor Hippokrates.
Die Philosopheme über den Gehörsinn 11
Pythagoras. Heraklit. Erupedokles. Alkmäon. Plutarch. Diogenes von Apollonia.
Demokrit. Plato 12 u. 13
Hippokrates 13
Aristoteles 18
Die Ohrenheilkunde im Zeitraum von Aristoteles bis Galen.
A. Anatomie und Physiologie.
Erasistratus. Herophilus. Rufus von Ephesus. Cicero. Lucretius Carus . . 21
B. Pathologie und Therapie.
Dioskorides. Plinius der Aeltere. Aulus Cornelius Celsus 22
Heraklides von Tarent. Asclepiades 24
Archigenes. Scribonius Largus. Diagoras von Cypern 25
Galen 26
Antyllus. Philumenus. Caelius Aurelianus. Marcellus Empirius. Cassius Felix.
Philagrios 30
Die Otiatrie im Mittelalter.
a) Die Byzantiner.
Alexander von Tralles " 31
Aetius von Amida 36
Paulus von Aegina 37
b) Die Araber.
Abul Kasim 40
Serapion. Rhazes 41
y | j | Inhaltsverzeichnis.
Seite
Haly Abbas, Avicenna 42
Mesuc 43
■ a . tfverroes 44
c) Die Latinobarbaren.
Benedetto Crispo 45
Ruggiero 48
Arnaldus de Villanova 49
Guilelmo Saliceto 51
Bernard von Gordon 53
Henri de Mondeville 56
Guj de Chauliac 58
\ alescus de Taranta 60
Nicola Nicole 61
Bruno da Longoburgo 63
Pietro d'Argellata. Galeazzo di Santa Sofia C3
Giovanni Arcolano. Giovanni da Vigo 64
Jeban Yperman. Anglicus Gilbertus. Johannes de Kethani 65
Zur Anatomie und Physiologie des Gehörorgans im Mittelalter.
Copho junior 69
Ricardus Anglicus 70
Mondino de Liuzzi 70
Betrucci. Mondeville. Petr. de Argellata. Bartolomeo Montagnana .... 71
Die Otiatrie in der Uebergangsperiode zur Neuzeit.
a) Vorläufer der großen Anatomen Italiens.
Achillini 73
Berengario da Carpi 74
Nicolaus Massa 76
Alessandro Benedetti 76
Zerbi 77
Anhang: Lionardo da Vinci 77
b) Die Otiatrie in der Renaissancezeit 77
(16. Jahrhundert.)
I 80
Giov. Fil. In^rassia 8<;
Gabriele Falloppio 89
Bartholomeo Eustachiu 94
c) Zeitgenossen und Nachfolger der großen Anatomen in Italien im
16. Jahrhundert 101
hVnldo Colombo 101
Giulio Cesare Aranzio 103
ConstantiuE Varoliua 104
Volcht-r Koyter .106
Fabrizio ab Aquapendente Hl
Giulio Casseiio jpg
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite
d) Stand der Ohranatomie in Deutschland und Holland im 16. Jahrhundert 122
Felix Plater 123
Kaspar Bauhin 125
Saloinon Alberti 126
e) Stand der Ohranatomie in Frankreich im 16. Jahrhundert . . 127
(TÜnther von Andernach 127
Charles Estienne 128
Vidus Vidius 129
Du Laurent 132
f) Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen im 16. Jahrhundert 135
Theophrastus Paracelsus 136
Johannes Fernelius 137
Hieronymus Mercurialis 139
Hieronymus Capivacci 143
Amatus Lusitanus 144
Petrus Forestus 145
Joh. Heurnius 146
Felix Plater 147
Ambrosius Pare 148
Fabricius Hildanus 151
Gaspai- Tagliacozzi 1° '
Die Otiatrie im 17. Jahrhundert.
a) Anatomie und Physiologie des Gehörorgans im 17. Jahrhundert.
(Erste Periode) 160
Italien 161
Caecilius Folius 162
Domenico de Marchetti 164
Antonio Molinetti 165
D. Bartoli ' '
Giovanni Colle 166
Giambattista Cortesi. Paolo Manfredi 167
Deutschlan d.
Johannes Veslingius 1()'
Michael Lyser l''1,1
J. Heinrich Glaser 171
Johannes Bohnius 1"'
Theophile Bonet l75
Conrad Victor Schneider ' ' _'
Theodor Kerckring. Johann Rupr. Sulzberger ! ' '
Tob. Burckard. Joh. Jessen 1 ' '
Niederlande.
Nicolaas Pieters Tulpius ^v
Sylvius de le Boe **°
v Inhaltsverzeichnis.
Seite
Adrian van Jen Spieghel 179
llils. .loh. Ant. van der Linden. Plempius. Drelincourt. Diemer-
broeck. Gerard Blaes. Deusing 180
D ä n e in a r k.
Thomas Bartbolinus. Nikolaus Steno 181
Kaspar Bartholinua 182
E n g 1 a n d.
Thomas Willis 183
Krane Bacon von Verulam 185
Walther Charleton. Allen Müllen 186
Pra n kr eich.
Jean Kiolan der Jüngere 187
Claude Perrault 188
Jean Mery 192
<i. Lamy 195
Nicolaus Habicot. Theophile Gelee 195
Duverney 19G
Günther Christoph Schelhammer 210
b) Pathologie ixnd Therapie der Ohrerkrankungen im 17. Jahrhundert
bis Duverney 215
Riolan der Jüngere 215
Lazare Riviere 217
De le BoS Sylvius 218
Daniel Sennert 220
Conrad Victor Schneider 221
Michael Kttniiiller 223
Antonius Nuck 225
Matth. Gottfr. Purmann 225
Die Otiatrie in der neueren Zeit.
a) Stand der Anatomie und Physiologie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert 230
Italien.
Ant. Mar Val-.ilva 230
Giovanni Battista Morgagni 243
Giovanni Domenico Santorini 252
Domenico Cotugno 253
Antonio Scarpa 260
Andrea Comparetti 271
Leop. Mar. Antonio Caldani 272
Floriano Caldani 273
F rankreic h.
Raymond Yicussens 275
Nie. Le Cat 278
Jean P. Palfyn ... 279
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
Jean Bapt. Senac 280
Joseph Lieutaud 281
Etienne Louis Geoffroy 282
Felix Vicq d'Azyr 284
Etienne Perolle 285
M. F. X. Bichat 287
Niederlande. England.
Fredrik Ruysch 289
H. Boerhaave 290
J. B. Winslow 292
Bernh. Siegfr. Albinus 293
Fr. Bernh. Albinus 294
John Elliott 295
Deutschland.
Joh. Friedr. Cassebohm 297
Theodor Pyl 302
Gottfried Brendel 303
J. G. Zinn 304
Ph. Fr. Theod. Meckel 305
Aug. Fr. Walther 306
Herrn. Fr. Teichmeyer 307
Joh. Andreas Schmidt 309
Wildberg 309
Albrecht von Haller • • 311
Pathologie und Therapie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert . 315
Uebersicht des Standes der pathologischen Anatomie des Gehörorgans
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 31G
Pathologie und Therapie 319
S y s t e in a t i k e r :
Friedrich H. Hoffmann 320
Gerhard van Swieten 321
De Haen 322
Maxim. Stoll 322
Chirurgen:
Jean Louis Petit 322
Lorenz Heister 325
Heuermann 326
Die Perforation des Processus mastoideus 327
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete 331
Die künstliche Perforation des Trommelfells 336
Dissertationen über Pathologie und Therapie des Gehörorgans im
18. Jahrhundert 339
Martin Naboth 339
Joh. Aug. Rivinus 340
^H Inhaltsverzeichnis.
Seite
über das Foramen Rivini 340
Juli Ileinr. Hofmeister 342
Georg Daniel Wibel 342
Peter Gniditech 342
Wildberg 343
Trampel 343
Lesehevin und Lentis 344
An 1i.mil;-: Die Ohrenheilkunde bei den Chinesen und Japanern ..:... 348
China 348
Japan 350
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . 355
Stand der Ohranatomie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 356
Samuel Thomas Soemmerring 3ä6
Emil Husehke 358
Everard Home 362
Henry John Shrapnell 363
Friedrich Cornelius 365
Thomas Buchanan 366
Anthony Carli&le 368
Pappenheim 369
Tourtual 371
Guilbert Breschet 374
Stiit'ensand 377
Job. Georg Ilg 378
Friedr. Christ. Rosenthal 379
L. L. Jacobson 381
Friedr. Arnold 381
Guarini 383
Ansichten über die Verbreitung und Endigung des Hörnerven 384
Ansichten über die Endigung des Vorhofsnerven 385
Vergleichende Anatomie des < u-hörorgans 388
H.vrtl 388
Literatur 392
Entwicklungsgeschichte des Gehörorgans 394
J. Fr. Meckel 394
Carl Ernst von Baer 395
Günther 397
Seydel 398
Rathke 398
Stand der Physiologie des Gehörorgans in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts 399
Job. Beinr. Ferd. v. Autenrieth 399
J. B. Venturi 4qq
Francois MaLrendie ... _ 4Q2
Johannes Müller 4Q4.
Felix Savart 40g
Marie Jean Pierre Flourens ... 409
Inhaltsverzeichnis. XI II
Seiti
Purkinje 411
Marcus Herz 411
Wollaston 412
Chladni 413
Wheatstone ' • 413
Ernst Heinrich Weber 414
Polansky 416
Literatur der Physiologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts .... 417
Uebersicht der pathologisch-anatomischen Befunde im Gehörorgane
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 418
Literatur 422
Uebersicht der diagnostischen Hilfsmittel in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts 424
Stand des Taubstummenunterrichtes bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 427
Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts 432
England 432
John Cunningharn Saunders 432
John Harrison Curtis 434
Thomas Buchanan 435
William Wright 436
Webster. A. Turnbull 437
George Pilcher 437
John Stevenson. J. Williams. W. Dufton . . 438
James Yearsley 438
Frankreich 439
I. M. G. Itard 439
Antoine Saissy . . 444
Nie. Deleau jeune 44 1
Philippe 449
Gairal. Bonnet. Petrequin. Ducros 4o0
Deutschland 450
Karl Joseph Beck 451
Joseph Frank
Literatur
452
Wilhelm Kramer 456
Gustav Lincke t63
Verzeichnis der Tafeln.
Tafel
Andreas Vesalius 1
Philippus Ingrassia II
Gabriel Falloppius III
Bartolomeus Eustachius IV
Volcher Koyter V
Fabricius ab Aquapendente VI
Julius Casserius VII
Guilelm. Fabricius Hildanus VIII
Thomas Willis IX
Joannes Riolanus X
Claude Perrault XI
Franciscus Deleboe Sylvius XII
Antonio Maria Valsalva XIII
Joann. Bapt. Morgagni XIV
Domenico Cotugno XV
Antonio Scarpa XVI
Raymond Vieussens XVII
Samuel Thomas Soemmerring XVIII
Emil Huschke XIX
Gilbert Breschet XX
Friedr. Arnold XXI
Joseph Hyrtl XXII
Carl Ernst v. Baer XXIII
Johannes Müller XXIV
M. J. P. Flourens XXV
Ernst Heinrich Weber XXVI
Abbe" de L'Ep<§e XXVII
John Cunningham Saunders XXVIII
I. M. Gaspard Itard XXIX
Nie. Deleau Jeune XXX
Wilhelm Krämer XXXI
Die Otiatrie bei den alten Völkern des Orients.
Aegypter. Juden. Inder.
Die Ohrenheilkunde der alten Kulturvölker bis zu den Griechen
kann, wie die Medizin jener Epochen überhaupt, als rein empirische be-
zeichnet werden. In Ermanglung jeder anatomischen und wissenschaftlichen
Grundlage ist sie gleich der in- und externen Heilkunde ohne Zweifel
aus der Ueberlieferung der beim Volke sich allmählich eingebürgerten
Heilmittel hervorgegangen. Gewiß hatten schon die Urvölker, die be-
sonders manchen Mineralien und Pflanzensäften geheimnisvolle Heilkräfte
gegen allerlei menschliche Gebrechen zuschrieben, auch gegen Ohren-
schmerz, Ohrenfluß und Ohrgeräusche mineralische und pflanzliche
Substanzen angewendet, welche, durch Tradition auf die Kulturvölker
vererbt, im Laufe der Zeit als spezifische Ohrmittel galten. Sind doch
jetzt noch verschiedene, seit Jahrhunderten gebräuchliche Pflanzensäfte,
z. B. der ausgepreßte Saft des Sempervivus tectorum u. a., beim Volke
als Mittel gegen Ohrenschmerz und Ohrensausen im Gebrauche.
So geringes Interesse die Otiatrie der alten Kulturvölker bietet, so
konnte dennoch aus historischen Gründen auf deren Schilderung nicht
verzichtet werden, umsomehr als die Otiatrie der Griechen sich von der
Ueberlieferung der älteren Epoche nicht ganz frei zu machen vermochte.
Aegypter.
Die vielseitige ärztliche Tätigkeit der alten Aegypter, welche nach
den uns überlieferten Aufzeichnungen die Spezialisierung der Medizin
in extremster Weise durchführten, mußte sich notgedrungen auch der
Therapie der Ohrenleiden zuwenden. Es läßt sich jedoch aus dem vor-
liegenden Materiale nicht feststellen, ob im Pharaonenlande neben anderen
zahlreichen Spezialisten auch Ohrenärzte tätig waren, da solche in der
übrigens unzuverlässigen Notiz Herodots1) neben Augenärzten, Zahn-
ärzten, Aerzten für Kopf- und Unterleibskrankheiten etc. nicht erwähnt
werden. Ob sich eine eigene Klasse von Leuten mit dem Durchstechen der
Ohrläppchen befaßt hat, ein Eingriff, «1er bis in die frühesten Zeiten zu-
rückdatiert, ist aus den alten Schriften nicht zu erweisen. Als bestimmt
jedoch kann angenommen werden, daß Mißbildungen und die Verstümme-
Politz er, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 1
2 Aegypter.
hing der < Ihren in Aegypten — so wie später bei den Juden — zum Priester-
beruf untauglich gemacht haben-'). Die fremden Gewährsmänner über
ägyptische Beilkunde, wie Herodot, Plutarch, Diodor, Plinius u. a.',
und spätere Autoren lassen uns bezüglich der Uranfänge unserer Fach-
wissenschaft im unklaren. Erst seit Entzifferung der medizinischen Texte
des Papyrus Brugsch*), des Papyrus Ebers**) und des Papyrus Leiden
348 besitzen wir eine klarere Vorstellung über den Stand der Ohrtherapie
bei den Aegyptern. Die verhältnismäßig große Anzahl von Rezeptformeln
für Ohrenleiden, welche sich in diesen vorfindet, gibt uns ein über-
raschendes Bild von dem Bestreben der vor mehr als drei Jahrtausenden
wirkenden ägyptischen Therapeuten, die mannigfachen Beschwerden der
Ohrerkrankungen zu heilen. Einem wissenschaftlichen Fortschritt der
Ohrenheilkunde von roher Empirie zu rationeller Methode stand indes der
gänzliche Mangel anatomischen Wissens entgegen. Die Kenntnisse,
welche gelegentlich bei der Einbalsamierung gewonnen wurden, be-
schränkten sich auf die Form und Umrisse der Eingeweide, doch waren
auch diese zu dürftig, als daß sie wissenschaftlich in Betracht gekommen
wären. Das Gehörorgan scheint nie untersucht worden zu sein.
Wenn an einzelnen Stellen von Gefäßsträngen gesprochen wird, die
zu den Ohren hinziehen, so ist dabei zu bemerken, daß als Gefäßstränge
nicht nur die Blutgefäße, sondern auch andere röhrenförmige Gebilde
verstanden werden, die mit dem Tracheensystem der Arthropoden gewisse
Aehnlichkeit besitzen, wras z. B. aus der Zuzählung der Luftröhre zu den
Gefäßen hervorgeht. Im Papyrus Ebers werden Nase und Ohr***) gemein-
schaftlich abgehandelt. Letzteres führt die Bezeichnung „mester". Die
Bedeutung ..mester" ist durch das koptische Wort und durch Stellen im
Totenbuch, wie „Ich bin das Auge, das sieht, und das Ohr, das hört"
oder die wiederholt in religiösen Texten vorkommende Phrase: „das Ohr
hört", siehergestellt. Sowohl im Papyrus Brugsch (Spalte 15, Zeile 1
bis Spalte 16, Zeile 5) als im Papyrus Ebers (Tafel 103) ist das für
die Ohrenheilkunde in Betracht kommende Buch „Uchedu" (über ulcerum),
eine Urkunde von höchstem Alter, enthalten, welches, wie es in der Ein-
leitung heißt, in Sechem (Letopolis) unter einer Anubisstatue gefunden
wurde. Die in dieser Urkunde befindlichen Notizen über das Ohr zeigen,
welch geringer Wert, trotz der weit vorgeschrittenen Kultur der alten
Aegypter, auf Anatomie gelegt wurde. So lautet eine Stelle: „Der
*) Recueil de monuments Egyptiens. 21»e Partie. Planche 85—107, p. 114
u. HS. Leipzig 1862 u. Allgem. Monatsschrift für Wissenschaft u. Literatur 1853,
p. 44—56.
**) Norske Magazin for Lägevidenskaben III. R., Bd. 10, 1880 u. Nordeskt medicinskt
Archiv Bd. 12, N. 11, 1880 (übersetzt von Lieblein).
*) Abschn. 37: XCI, 2 bis XCIf, 6, Otologie.
***!
Aegypter. 3
Mensch besitzt zwei Gefäßstränge, die zu seinem rechten Ohre ziehen und
von Lebenshauch (Pneuma) durchströmt werden; er besitzt zwei Gefäß-
stränge zu seinem linken Ohre, die Todeshauch (Wind des Todes,
tödliche Luft) durchströmt." Dem Buche Uchedu geht das „Geheimbuch
des Arztes vom Herzen" voraus, welches die Verzweigung der Arterien
(von der Nase ausgehende Pneumagefäße) und der Venen (vom Herzen
entspringend) aufzählt. Auch hier werden dem Ohre je zwei Gefäße
zugeschrieben. „Es sind vier Gefäßstränge zu seinen beiden Ohren; dar-
unter sind zwei Gefäßstränge rechter und zwei linker Hand. Es strömt
Lebenshauch durch das rechte Ohr und Todeshauch durch das linke Ohr."
Ob die Tuba Eustachii als einer dieser „ Gefäßstränge" nach Ana-
logie der Trachea anzusehen ist, oder ob man unter den zwei Röhren
den Gehörgang und die Tuba zu verstehen hat, bleibt dahingestellt*).
Man würde daher zu weit gehen, wollte man aus dieser eigentümlichen
Textierung schließen, daß die Aegypter bereits die Ohrtrompete gekannt
haben**).
Reicher ist der therapeutische Inhalt der genannten Papyrus.
So finden sich im Papyrus Brugsch (Spalte 23, Zeile 6 und 12) Mittel
gegen die „Schwere des Ohres" und gegen „Unreinheit (stercus) des
Ohres" 3). Letzteres ist wohl ein flüssiges Krankheitsprodukt, das mit der
Galle verglichen wird, da es im Texte als Galle bezeichnet wird. Nach
der Lehre von den Kardinalsäften wäre demnach ein Ohrsekret zu ver-
stehen, das dadurch krankhaft ist, weil es zu viel Galle enthielte. Diese
Stelle ist auch deshalb interessant, weil auch noch in späteren Jahrhun-
derten das Ohrenschmalz wegen seiner Farbe und seines bitteren Ge-
schmacks als Derivat der Galle gedeutet wurde.
Im Papyrus Ebers wird die Therapie der Nasen- und Ohrenleiden
(Nase und Ohr waren ja nach damaliger physiologischer Theorie die bei-
den Eingangspforten des Pneuma) zusammen abgehandelt. Von den
98 Tafeln des therapeutischen Textes enthalten 26 Zeilen Ohrtherapie,
diese bildet daher den sechzigsten Teil des ganzen Inhaltes, woraus auf die
Wichtigkeit der Ohrenheilkunde bei den alten Aegyptern geschlossen
werden kann. Hier nur einige kurze Beispiele: „Beginn von den
*) Nach Oefele (briefl. Mitteilung) würde die Stelle im Papyrus Ebers
richtiggestellt so heißen: Nach dem rechten Ohre geht ein Gelaßstrang mit Blut
und ein Gefäßstrang mit belebendem Pneuma (0). Nach dem linken Ohre gehtauch
ein Gefäßstrang mit Blut und ein Gefaßstrang mit tödlichem Pneuma (C02).
**) Bei der Jahrtausende alten Sprache, in welcher der Papyrus abgefaßt ist,
stößt die Deutung der anatomischen Begriffe selbstverständlich auf beinahe unüber-
windliche Schwierigkeiten. Dazu kommt noch, daß verschiedene Körperteile mit
gleichen Bezeichnungen belegt werden , wie z. B. die Nasenmuschel und die Ohr-
muschel, wodurch das richtige Verständnis für die anatomischen Kenntnisse der
Aegypter noch mehr erschwert wird.
Babylonier und Assyrier.
Mitteln für das Ohr; wenig hört es. Eisenoxyd (Hämatit) und
Schleim von Loranthus (Mistelschleim) fein kontundieren mit frischem
Harz. Applizieren in das eine Ohr. Anderes für das Ohr: Es gibt
stinkende Flüssigkeit: Weihrauch in Gänseschmalz, Rahm von der
Kuh, „betet hauit" [ausgeschwitzter Salpeter (?) oder Borax (?)] fein zer-
tnahlen, applizieren in das eine Ohr.
Anderes zur Kühlung des Ohres. Du kannst es kühlen mit
Arzneien. Damit kühlt sich ihm (dem Ohre) die Hitze, wenn der Puls
hämmert (Phlegmone'/). Mache du ihm einen Teig von Grünspan, zer-
mahlen, zum Applizieren darin vier Tage. Bei der Bereitung und bei
der Anwendung dieser Medikamente ist im Papyrus Ebers und B rüg seh
die Anrufung der Gottheit vorgeschrieben.
Der Papyrus Leiden 348 enthält Beschwörungsformeln gegen
Ohrenkrankheiten l).
Wenn wir mit der Ohrenheilkunde der Aegypter begonnen haben,
so geschah dies nur aus dem Grunde, weil wir über die Medizin dieses
alten Kulturvolkes verhältnismäßig am besten orientiert sind. Viel
schlechter ist es um unsere Kenntnis der Medizin der alten Völker West-
asiens und der mediterranen Vorarier bestellt, v. Oefele*) hat durch
seine eifrigen Untersuchungen wohl einiges Licht in die vorhippokratische
Medizin gebracht. Doch bleibt noch viel den künftigen Medikohistorikern
voil »ehalten, wenn einmal das Dunkel, in das die Geschichte dieser Völker
gehüllt ist, aufgehellt sein wird.
Die Medizin der Sumerer, der Kulturvorläufer der Babylonier
und Assyrier, ist uns durch ihre Keilinschriften einigermaßen bekannt
geworden. In dieser Keilschriftliteratur wird das Ohr als das Organ
des Willens bezeichnet.
Was die vorarische Medizin Indiens betrifft, ferner die Medizin der
alten nubischen Völker, der Götterländer und Weihrauchländer, der
alten Nonlwcstafrikaner, der Babylonier etc., so läßt sich ein Bild der
medizinischen Gebräuche dieser Völker aus den notdürftigen Behelfen,
die uns heute noch zur Verfügung stehen, schwer konstruieren ; noch viel
wriiiger läßt sich über unsere Spezialwissenschaft ein Urteil abgeben.
In einem Geburtsprognostikum aus der Zeit des Königs Naramsin aus
Babylonien (um 3750 nach Nabonids Datierung) wird geweissagt: „Wenn
eine Frau ein Kind gebiert, das Löwenohren hat**), so wird ein starker
) Ihindbuch der (beschichte der Medizin von Puschmann, herausgeg. von
Neuburger und Pagel. I, p. 52.
| Ob es Bich bei diesem Ausdruck um eine Ausgeburt der Phantasie oder um
einen Terminus technicus im Sinne unserer „ Hasenscharte" handelt, kann v. Oefele
nicht entscheiden.
Babylonier und Assyrier.
König im Lande sein. Wenn eine Frau ein Kind gebiert, dem das rechte
Ohr fehlt, so werden die Tage des Fürsten lang sein. Wenn eine Frau
ein Kind gebiert, dem beide Ohren fehlen, so bringt es Trauer ins
Land und das Land wird verkleinert. Wenn eine Frau ein Kind gebiert,
dessen rechtes Ohr zu klein ist, so wird des Mannes Haus zerstört
werden."
Auf Tafeln in assyrischer Schrift finden sich Stellen, welche unter
anderem vom ,, Löwenohr "**) und den Ohren des Neugeborenen handeln.
— Für die Medizin der Assyrier kommen die in letzter Zeit aus-
gegrabenen Archive babylonischer Städte in Betracht, deren Verwertung
für die Geschichte der Medizin noch nicht möglich war, und ferner auch
Tausende von Tafelfragmenten, die erst zum geringsten Teil heraus-
gegeben wurden. Ein sogenanntes 19-Tafelwerk enthält auf der 8. Tafel
eine Abhandlung über das rechte Ohr (K 4080 -f- Sm 552). Zwei
medizinische Serien der Bibliothek Ninive, welche jedoch kaum Original-
arbeiten enthalten dürften, behandeln unter anderem otiatrische Gegen-
stände K 4023, K 10498, K 10767, K 11027, K 11788, K 13492,
Sm 379. Die Otitis media acuta, als „Feuer im Herzen des Ohres-
bezeichnet, wird besprochen (K 10453); außerdem finden sich Notizen
über das rechte Ohr und Erkrankungen des inneren Ohres K GG61.
Wahrscheinlich schrieben auch die Assyrier wie die Aegypter den beiden
Ohren verschiedene Funktionen zu. Das Ohrenschmalz galt als Materia
peccans, durch welche schlechtes Pneuma und schlechte Säfte entfernt
werden*).
1) Herodot, Musae seu Historiarum libri IX. Euterp. Cap. 84. -\ 2e i-rjtpix-rj
/.rj.'Jj. ta8s 3<pl osoa-w. fK'fjs voü~ot> sxa-To; tvjtpo? lott xai ob tcXeovouv. Ilävta 3' tYitpäiv
loxl rcXea" ol jj.lv yctp cxf&aXjj.tüv lYjtpoi xateaxeaot, ol 21 xe<paXYK öoovtcuv, etc.
2) Erwähnung des Ohrrings u. a. Pentateuch, Genesis Cap. 35 v. 4. Ezechiel
Cap. 16 v. 12. Ilias XIV, 182: XVIII. 401. Odyssee XVIII, 297.
3) Das Rezept lautet nach Brugsch (Archiv f. Ohrenheilk. Neue Folge.
Bd. I, p. 54): „Mittel, um zu beseitigen die Schwere am Ohre.
Die Pflanze ank 1
Balsam 1
die Pflanze ma 1
past (?) 1
tierisches Fett lu
Die Zahlen beziehen sich auf eine noch nicht fixierte Gewichtseinheit.
4) Meyer in Schwartzes Handbuch der Ohrenheilkunde Bd. II, p. 863.
I Eine Ohrenerkrankung („Ohrenfluß") eines Assyrerkönigs zwischen 700 und
600 v. Chi*, ist beschrieben in den Zeilen 4 u. fg. des Briefes K 8509 aus der Biblio-
thek Sardanapals des Assyrerkönigs (nach der keilinschriftlichen Reproduktion in
Bezolds Catalogue der Cooyunjik Collection; vergl. Oefele in Janus 1903, p. 640).
Juden.
Juden.
Die Medizin der Juden zerfällt in die althebräische und in die tal-
mudische. Da sie ihrem Wesen nach monotheistisch-theurgisch war,
traten erst in einem verhältnismäßig späteren Zeiträume eigentliche
Aerzte auf. Spuren einer Ohrfcherapie finden sich in der Bibel, die
für andere medizinische Fächer. als Quelle herangezogen werden kann,
nicht vor. Dagegen enthält der Talmud einige bemerkenswerte Stellen,
die schon auf eine nicht unansehnliche Therapie hindeuten. Da bei den
Juden die Berührung einer Leiche durch die Religionsvorschriften unter-
sagt war, konnte von einer Anatomie des Menschen keine Rede sein.
Nur die Beobachtungen an Opfertieren führten zu einzelnen anatomischen
Kenntnissen, welche sich jedoch bloß auf das äußere Ohr beziehen. So
werden unter den Fehlern, die ein Tier zum Opfern ungeeignet machten,
aufgezählt: Verletzung des Ohrknorpels durch Spaltung, ein noch so
geringer Ausschnitt im Knorpel, Verdoppelung, Durchlöcherung, Verdor-
rung des Ohrknorpels (so daß bei einem Stich keine Blutung eintritt) etc.1).
Als Leibesfehler, die zum Priesteramte unfähig machten, galten
unter anderem: zu kleine Ohren, Ungleichheit, schwammige Aufgedunsen-
heit und Herabhängen der Ohren2).
Von Wichtigkeit ist, daß Taubstumme in religiöser wie in juridi-
scher Hinsicht den Minderjährigen und Irrsinnigen gleichgestellt waren.
Die Heilmittel für Ohrleiden waren ebenso absonderlich wie bei
anderen Völkern, vielleicht zählte zu ihnen auch Mohnsaft, der öfter
z. B. als Medikament gegen Gift und gegen Zauber erwähnt wird und
auch von griechischen Aerzten vielfach verwendet wurde.
Einer der vier im Talmud namentlich angeführten Aerzte, Manjume,
ein Zeitgenosse Rabbas (um 280 n. Chr.), bezeichnete alle Flüssigkeiten
für das Ohr als schädlich, mit Ausnahme des Saftes von Nieren.
Es heißt nämlich im Traktat Aboda Sara 28 b: Rabbi Abahu litt
an einem Ohrenschmerz, da belehrte ihn Rabbi Jochanan über ein Mittel,
das •••• anwenden soll.
Man nehme dir Niere einer Ziege, mache in sie einen Querschnitt,
lege sie auf Kohlenglut und tue den ausfließenden Saft in lauem Zustande,
nicht kalt und nicht heiß, ins Ohr.
Als andere Mittel werden bei Mangel des obigen empfohlen: Fett
eines Käfers mit Namen Chipuschuta (?) zu schmelzen und ins Ohr zu
geben; oder man tue Oel ins Ohr, mache sieben Dochte aus Weizen-
stroh, das im grünen Zustande abgemäht wurde, binde sie an einem
Ende mit dem Grünen von Knoblauch, bringe das andere Ende in das
Ohr und zünde diese Dochte an, lasse einen nach dem anderen aus-
brennen und verhüte dann, daß Luft ins Ohr kommt. Oder man nehme
Inder. 7
hundert Jahre altes Schilfrohr, fülle es mit Steinsalz, verbrenne es und
verstopfe damit das Ohr. (Bei Ohrenfluß.) Die flüssigen Mittel sind bei
trockenen, die trockenen Mittel bei fließenden Ohren anzuwenden 3).
Im Traktat Sabbat 65, a wird von Baumwolleinlagen gegen .Ohren-
schmalz gesj>rochen, das sich bei alten Leuten anhäufe. Dort heißt es
auch (Seite 152 a), daß das Alter schwerhörig macht.
Nach diesen Stichproben darf man wohl die talmudische Kenntnis
unseres Fachs auf dieselbe Stufe mit derjenigen stellen, die andere in
medizinischer Hinsicht sonst bedeutend vorgeschrittenen Völker des Alter-
tums hatten. Lief doch im Altertum und Mittelalter, wo Anatomie und
Physiologie die vernachlässigten Stiefkinder der Heilwissenschaft waren,
alles auf rohe Empirie hinaus.
Im Mittelalter stellten die jüdischen Aerzte es sich bekanntlich zur
Aufgabe, eigene und arabische Heilkunst dem christlichen Abendlande
zu vermitteln, ein Verdienst, das ihnen auch vom Standpunkt der Ohren-
heilkunde zugesprochen werden muß.
Aus der mittelalterlichen jüdischen Medizin wäre namentlich eine
auf den Lehren der „ Mischnah'' beruhende Anschauung des berühmten
Moses Maimonides (1135 — 1205) hervorzuheben. In seinem Religions-
kodex (IV. Mamzim, V. 6) schreibt er: „Derjenige, welcher seinen Vater
aufs Ohr schlägt und ihn taub macht, ist des Todes schuldig, da es nicht
möglich ist. daß er ohne Verwundung taub geworden, sondern es ist ein
Tropfen Blutes in das Innere des Ohres hineingezogen, wovon es taub
u'. worden ist." (Vgl. Baba kamma 86a und 98a.)
' i Meimoni, Terupelvorschriften.
2I Ibidem.
:;) Die Lehre Rabbi Chaninas: „Man darf die Ohren am Sabbat heben"
(im Jeruschalmi Sabb. 14. 4 heißt es die Töchter der Ohren), welche sich vielleicht
auf eine Phlegmone bezieht , wurde von dem Kommentator Raschi ausgelegt : Das
Geäder der Ohren senkt sich so, daß die Kiefer auseinandergehen, und man muß
sie heben, da sonst eine gefährliche Krankheit entsteht: ob dieses Heben mittels
eines Arzneimittels oder nur mechanisch mit der Hand geschehen soll, ist nicht
erklärt.
Inder.
Obschon die neuere Kritik die Entstehungszeit der ältesten, uns
erhaltenen indischen medizinischen Werke in eine wesentlich jüngere
Periode verlegt, als man nach der archaistischen Form annehmen sollte,
so enthält doch namentlich der berühmte Ayur-Veda, das Buch des my-
thischen Susrutä, gewiß die ältesten Traditionen und bietet ein ebenso
klares, wie unverfälschtes Bild des altindischen Heilwesens x). Was wir
darin von otiatrischen Kenntnissen finden, gilt für einen Zeitraum von
fast zwei Jahrtausenden. Das Charakteristische der indischen Ohrenlicil-
g Inder.
kund, liegt in der fast unermeßlichen medikamentösen Therapie, welche
sich die reiche Pflanzenwelt der Heimat zu Nutzen machte, und in der
Pflege der Otoplastik. Letztere wurde erst in der zweiten Hälfte des
L5. Jahrhunderts durch den sizilianischen Chirurgen Branca, später durch
den Bologneser Tagliacozzi in Europa bekannt.
Diese Kunst nahm, infolge der Strafe des Ohrabschneidens, die auch
bei den Skythen, Persern und in den älteren Perioden der Hellenen üblich
war. großen Aufschwung. Leider ist die betreffende Stelle in dem Ayur-
veda sehr dunkel gehalten2). Sie schließt an einen Absatz an, der mit
großer Weitschweifigkeit vom Durchbohren der Ohrläppchen
handelt, das seit alter Zeit zum Zwecke der Ableitung krankhafter
Säfte und zum Tragen der Ohrringe ausgeführt wurde.
Diese Operation scheint nur von den Aerzten unter Beobachtung
religiöser Vorschriften vollzogen worden zu sein mit einer Umständlich-
keit, von der die genauen Angaben über die bei den verschiedenen Fällen
notwendigen Verbandarten Zeugnis geben3)*).
Die eigentliche Ohrenheilkunde entbehrte ebenso wie die übrigen
medizinischen Zweigwissenschaften der anatomischen Grundlage. Die
anatomischen Kenntnisse beruhten, da religiöse Vorurteile hindernd im
Wege standen, auf einer eigentümlichen Präparationsmethode, die darin
bestand, daß man den Leichnam im fließenden Wasser liegen ließ und
nach sieben Tagen mit Rinden das Erweichte abrieb. Immerhin hatte
diese sonderbare Art anatomischer Forschung einen größeren Wert als
die auf legendarischer Ueberlieferung basierenden Vorstellungen über den
menschlichen Körper bei anderen Völkern. In dem Buche Sarirast'häna
( Somatologie) findet sich über Ohranatomie folgendes. Bei der Aufzählung
von Knochen wird gesagt, daß die Ohren in ihrer Höhlung Knochen von
zarter Beschaffenheit besäßen, mit gelenkiger Verbindung. Später werden
zwei Ohrmuskeln und zehn Ohrgefäße, die teilweise den Schall leiten,
erwähnt. Endlich spricht Susruta von Nerven (wahrscheinlich identisch
mit Kanälen, wie das griechische Jtöpot), welche die Perzeption des
Schalles vermitteln.
Die Krankheiten des Ohres werden entsprechend der indischen
*) Nach einer Uebersetzung von Roth (Tübingen), die sich bei Zeis (Die
Literatur und Geschichte der plastischen Chirurgie. Leipzig 1863. p. 59) findet,
lautet die betreffende Stelle folgendermaßen: „Demjenigen, der kein Ohrläppchen
hat, kann der Arzt eines machen, indem er (den Stoff dazu) aus der Wange nimmt,
mit lebendigem, noch anhängendem Fleisch, nachdem er zuvor (die Stelle) wund
gemacht hat." Gurlt bemerkt zu dieser Stelle, es gehe aus ihr hervor, daß man
zum Ersatz des Ohrläppchens nicht die Haut hinter dem Ohre, wie es später
Tagliacozzi tat. sondern vor demselben aus der Wange entnahm.
schichte der Chirurgie Bd. I. 48. Vergl. auch Grundriß der indo-arischen
Philologie, begr. von S. Bühler. Bd. 111. Jul. Jolly, Medizin. Straßburg 1901.
Inder. 9
Pathologie, soweit sie nicht durch Trauma bedingt sind, von Mißverhält-
nissen in den Lehenselementen: Luft, Schleim und Galle hergeleitet.
Man unterschied l) achtundzwanzig Ohrleiden, darunter verschiedene Arten
von Geschwülsten, Entzündungen, Hämorrhoidalknoten, dann Ohren-
schmerz, Ohrensausen, Ohrenklingen, Ohrenschmalz, Ohrenfluß, Ohr-
eiterung, Ohrjucken, Schwere der Ohren u. a. m.
Der Ohrenschmerz wird z. B. durch Eindringen der Luft verursacht,
die, wenn sie länger verweilt, Ohrgeräusche erzeugt. Das Jucken im
Ohre wird durch Anhäufung von Schleim veranlaßt. Trocknet dieser
durch den Einfluß der Galle (die also auch bei den Indern in der patho-
logischen Erklärung des Ohrenschmalzes eine Rolle spielt) aus, so sammelt
sich Ohrenschmalz an. Ohreiterung kann mit Schmerzen verbunden sein
oder schmerzlos verlaufen. Entzündliche Geschwülste können durch Ver-
letzung oder durch Säfteverderbnis verursacht sein. Eine ausführliche
Beschreibung wird den Krankheiten des Ohrläppchens gewidmet. Als
solche werden Härte und Geschwulst, Schwere, Jucken und Anschwellung
hervorgehoben, wobei wieder Luft, Schleim und Galle als krankmachende
Momente herangezogen werden.
Als allgemeine Regel bei der Therapie der Ohrenkrankheiten
gelten folgende Vorschriften : Trank von flüssiger Butter, Lebenselixir.
Waschen des Kopfes, keine Ermüdung, Beobachtung der brahmanischen
Vorschriften (brahmacharya) und Stille. An Ohrkrankheiten leidende
Personen durften nicht baden.
Die Hauptbestandteile der indischen Apotheke, welche besonders
Pflanzenmittel in Anwendung zog und über einen schier unübersehbaren
Heilschatz gebot, gelangten auch in der Otiatrie zur Verwendung. Dem
Charakter des Landes entsprechend wurden pflanzliche und tierische Fette.
Oele, Harze, dann Milcharten, Honig und ZuckerstofFe bevorzugt. Die
Form der Arzneien waren Salben, Linimente, Pulver, Extrakte, Oele etc.
Wie bei anderen Völkern wurden unter den animalischen Stoffen Milch
und Urin nicht selten bei der Zusammensetzung von Medikamenten in
Gebrauch gezogen. Die Heilmittel waren meist sehr kompliziert.
Bei der Ansammlung von Ohrenschmalz und zur Entfernung von
Würmern bedienten sich die indischen Aerzte des Ohrlöffels oder eines
hörnernen Instruments 5).
Die Physiologie und Pathologie des Gehörsinnes wird nur spekulativ
behandelt.
Von den fünf Elementen, mittels welcher Brahma die Welt durch-
dringt (Erde, Wasser, Licht, Luft und Aether), ist es der Aether, der
dem Gehörsinn als Medium entspricht. Verwirrung der Sinne deutet auf
baldigen Tod: im Bereich des Gehörsinns geben folgende Erscheinungen
böses Omen: Wenn einer nicht existierende Töne hört, dagegen den
\Q Naturvölker.
wirkli« ben Schall nicht oder andersartig wahrnimmt, durch Mißtöne er-
t'ivut. durch angenehme Klänge aber aufgeregt wird etc., so kann er
nach ärztlicher Voraussicht plötzlich dahingerafft werden.
I Wir benützten die lateinische Uebersetzung von Heß ler. Susrutas Ayur-
id. esl Medicinae Systema a venerabili D'hauvantara dernonstratum a Su.sruta
discipulo compositum. Nunc primum ex Sanskrita in Latinum sermonem vertit.
Dr. Fr. Heß ler. Erlang. 1844—45. T. III. Cap. XX, XXI. Die Angaben über die
Entstehung des Ayurveda schwanken zwischen 1500 v. Chr. bis 500 v. Chr.
'-') 1. c. Siitrast'häna cap. XVI.
) Iliidem.
irüa (Ohr-) süla Schmerz, praüada (tönen), karüa sräva Ohrfluß; karüa-
güt'ha Ohrschmutz: püti-karüa Ohreiterung etc.
) In auris cavitate versatum vermem aut madorem, sordes etc. extrabat peritus
medicus cornu aut auriscalpis.
Anhang.
Die Ohrenheilkunde hei den Naturvölkern.
Wir entnehmen aus Bartels Arbeit „Die Medizin der Naturvölker" *) über
Ohrenheilkunde bei den Naturvölkern folgendes:
Nach einem eigentümlichen Glauben der Annamiten (Hinterindien) wird das
Ohr von einem kleinen Tiere (Conräy) bewohnt, welches das Ohr beschützt und da-
selbst auch seine Exkremente, das Ohrenschmalz, absetzt. Ohrenklingen wird hervor-
gerufen, wenn dieses Tier mit anderen eindringenden Tieren oder Fremdkörpern
in Kampf gerät. Geht das Tierchen verloren, so entsteht Taubheit. Bei den An-
namiten ist ferner die Ansicht verbreitet, daß beide Ohren miteinander in Kom-
munikation stehen: deshalb verschließen sie, wenn ihnen z. B. ein Insekt in das
eine Ohr dringt, rasch das andere und glauben dadurch zu bewirken, daß das
Insekt aus Mangel an Luft zum Atmen schnell wieder hinauskriechen müsse. Bei
Ohrenerkrankungen wenden sie Räucherungen mit der Haut einer ungiftigen
Schlangenart an. Die Harrari, ein Volk im östlichen Zentralafrika, legen gegen
ohp'nschmerzen und Taubheit eine Pflanze, die nicht näher bekannt ist, auf das affi-
zierte Ohr. Die Aschanti, ein Negerstamm in Oberguinea (Afrika), bereiten sich
aus versehiedenen Pflanzen einen Saft, den sie bei Ohrenerkrankungen ins Ohr
i. Ferner träufeln die Mittel sumatraner ihren Kindern, die recht häufig
an Ohrennüssen nach Mittelohrentzündungen leiden, ein Mittel ein, welches sie
sich durch Kim lim VOn Klapperöl mit dem Milchsafte einer zu diesem Zwecke an-
gebauten Kaktuspflanze bereiten. Die Taubheit wird von ihnen mit einem eigenen
Namen belogt ; ein Mittel dagegen kennen sie nicht. Endlich erwähnen wir noch
den Lei den .Marokkanern absonderlichen Gebrauch, daß der Arzt O'el in den
Mund nimmt und dieses dem an Ohrenfluß leidenden Kranken geschickt in den
äußeren Gehörgang einspritzt.
i Max Harteis. Die Medizin der Naturvölker. Ethnologische Beiträge zur
Geschichte der Medizin. Leipzig 1893. p. 212.
Die Otiatrie bei den Griechen und Römern.
Stand der Otiatrie bei den Griechen vor Hippokrates.
(Die Philosopheine über den Gehörsinn.)
Die Medizin der Hellenen stand in ihren Anfängen zweifellos unter
dem mächtigen Kultureinfluß der Aegypter und der orientalischen Völker.
Bald jedoch hat sich dieses Kulturvolk von fremdem Einfluß zu eman-
zipieren gewußt, um auf allen Gebieten, sowohl in der Philosophie wie
in der Naturwissenschaft, Originelles zu schaffen. Diese Umformung
alter Traditionen war nach allen Richtungen eine durchgreifende, doch
blieb es der neuesten Forschung vorbehalten, den Anteil der Griechen
von jenem der älteren Kulturvölker zu sondern.
In der ältesten Epoche findet sich nur äußerst wenig, was auf
Otologie Bezug hat. In Betracht kommen eine Anzahl von Stellen in
der Ilias und Odyssee, wo von Verwundung der Ohren und ihrer
nächsten Umgebung mit oder ohne tödlichen Ausgang die Rede ist;
ferner Votivgaben*), die von Geheilten in den Tempeln des Asklepios
gespendet wurden.
Tel »er den Zustand der praktischen Ohrenheilkunde vor Hippo-
krates läßt sich nur ein höchst unklares Bild gewinnen, weil die voraus-
gehenden medizinischen Schriften gänzlich in Verlust geraten sind und
die Fragmente, welche von den ältesten Naturphilosophen in Form von
Zitaten noch vorliegen, begreiflicherweise höchstens das Gebiet der
Ohranatomie und Gehörsphysiologie streifen. Nur die Tatsache steht
fest, daß es bei den Griechen keine otologischen Spezialisten gab und
bei dem Mangel an sicheren anatomischen Kenntnissen höchstens von
einer roh empirischen Behandlungsweise die Rede sein konnte. Immer-
hin wäre schon dieser Epoche vieles von dem zuzuschreiben, was
sich an praktischen Kenntnissen im hippokratischen Kanon vorfindet.
Was die anatomisch-physiologischen Vorstellungen der griechischen
Philosophen anbelangt, die bekanntlich zu ihrer Zeit die Stelle der Natur-
forscher einnahmen und gelegentlich Tierzergliederungen vornahmen, so
wäre darüber folgendes zu berichten:
::) Unter anderem bezieht sich eine aufgefundene Weihinschrift auf die Heilung
eines taubstummen Knaben.
\2 Die griechischen Philosophen über den Gehörsinn.
Pythagoras (etwa 575 v. Chr. bis zur Jahrhundertwende) dachte
sich das Hören als einen nach außen wirkenden Akt und nahm an, daß
von der Seele ein warmer, feiner Hauch ausströme. Heraklit (etwa
17:. v. Chr.) und Anaxagoras (etwa 500—428 v.Chr.)1) erklärten
die Sinnesempfindungen aus dem Gegensatz der Elemente in den emp-
findenden Organen und dem empfundenen Objekt. Das meiste ist uns
über die akustischen Hypothesen des Empedokles und Alkm'äon über-
liefert. Empedokles 2) (etwa 495 — 435 v. Chr.) soll nach Plutarch
einen schneckenförmigen Knorpel (xo/XwöStj? /övSpo?) im Ohr entdeckt
haben, der, durch die Luft erschüttert, wie eine Glocke einen Ton von
sich gebe. Sinnesempfindungen kämen überhaupt dadurch zu stände,
wenn sich der Elementarbeschaffenheit nach gleichartige Teilchen der
Objekte mit den entsprechenden Emanationen (owcoppoai) der Sinnesorgane
in den ..Poren" begegneten; die Wahrnehmung selbst erfolge in der Seele.
Der Schall beruhe demgemäß auf dem Zusammentreffen der Luftteilchen
in der Ohrhöhle und hänge in seiner Qualität ab von den Poren, durch
und gegen welche er sich bewege. Trotz der Erwähnung des schnecken-
förmigen Knorpels wäre es aber gewagt, Empedokles daraufhin für den
Entdecker des Ohrlabyrinths zu erklären. Alkmäon3) (um 500 v. Chr.),
zugleich Philosoph und Arzt, ein Forscher, der anscheinend auf Grund
von Tiersektionen über ganz ansehnliche anatomische Kenntnisse ver-
fügte, dürfte auch das Gehörorgan zum Gegenstand seiner Untersuchungen
gemacht haben. Eine Stelle bei Aristoteles, wonach Alkmäon be-
hauptete , daß die Ziegen durch die Ohren atmen , berechtigt allerdings
noch keineswegs zur Annahme, daß ihm die Tuba Eustachii bereits bekannt
gewesen wäre, aber er hatte anscheinend eine Vorstellung vom Gehörgang,
da er die Sinneswahrnehmung auf dem Wege von Gängen (rcopot) zum
Gehirn gelangen ließ, und ebenso deuten die Angaben vom xsvöv t) xoiXov
auf Kenntnisse vom inneren resp. mittleren Ohr hin. Diogenes von Apol-
lo nia (etwa 430) 4), der sich um die Gefäßlehre im allgemeinen Ver-
dienste erwarb, beschrieb zum Kopfe ziehende, sich kreuzende Blutadern,
die jederseits im Ohre endigen; er erwähnte die verschiedene Größe der
Ohrmuschel, kannte den Gehörgang und nahm ebenso wie die übrigen
Philosophen an, daß der Hohlraum des Ohres mit Luft erfüllt sei. Seiner
Ansicht nach werde bei Entstehung des Schalls zuerst das Ohr, sodann
die im Kopfe befindliche Luft erschüttert, — Der Zeitgenosse des Hippo-
krates, Demokrit aus Abdera, stellte eine eigentümliche Hörtheorie
auf, welch.' dm materialistischen Lehren dieses Philosophen getreu ent-
spricht. Wie die übrigen Sinneswahrnchmungen, beruht nach ihm das
Hören auf den materiellen Ausflüssen (etöwXa) der Körper, die durch die
Sinnesorgane zur feurig-luftartig gedachten Seele hinströmen und deren
Atome in Bewegung setzten. Das Eindringen geschehe jedoch nicht bloß
Hippokrates. 13
durch die Poren des Ohres, sondern durch den ganzen Körper. Daß es
aber bloß im Ohre zur Schallwahrnehmung kommt, erklärt er daraus,
daß dort ein Hohlraum vorhanden sei, durch den die Teilchen am besten
hindurchgetrieben werden.
Aus der sokratischen Zeit sind uns nur dürftige bedeutungslose
Notizen über das Hören von den Sophisten Protagoras (489 — 404)
und Gorgias (485 — 378) überliefert.
Plato5) (427 — 347) entwickelte im Timäos seine Lehrmeinung
folgendermaßen: „Ueberhaupt wollen wir also als Ton den durch die
Ohren hindurch vermittels der Luft, des Gehirns und des Blutes sich
bis zur Seele verbreitenden Stoß bezeichnen, als Hören aber die dadurch
erfolgende Bewegung bestimmen, welche vom Kopfe beginnend in der
Gegend der Leber aufhört.4' Daß Plato die Wirkung des Gehörten sich
bis zur Leber ausbreiten läßt, hängt damit zusammen, daß nach seiner
Ansicht die Gehörswahrnehmung auf die ganze Seele, also Denken, Emp-
finden und Begehren, einwirkt. Sitz dieser Hauptfaktoren des Seelen-
lebens sind aber nach seiner Theorie Kopf, Herz und Leber.
Die Theorien der Philosophen übten auf die ältesten griechischen
medizinischen Schulen einen starken Einfluß , namentlich auf Kos und
K nid os, deren Lehrmeinungen sich in dem Corpus Hippocraticum wider-
spiegeln.
') Plutarch, De placitis philosophorum. v. Dübner, Paris 1841. Cap. 16.
2) Plutarch. ibid. Cap. 16. u. Theophrast, De sensu. Cap. 9.
3) Plutarch, ibid. Cap. 16.
4) Plutarch. ibid.
5) Timäos, 29. (Pia tons sämtliche Werke übers, v. H. Müller. Leipzig 1857.
VI. Bd)
Vergl. ferner: Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1893.
Das mir von Dr. Stylio Dimitriades in Kopie übersendete Manuskript
Nr. 14*9 der Bibliothek in Athen aus dem 16. Jahrh.
Hippokrates
(460—377 v. Chr).
Wie die meisten Spezialfächer der Medizin leitet auch die Otiatrie
ihre systematische Entwicklung von den lange fortwirkenden Impulsen
her, die der große Arzt von Kos der Heilkunde gab, da er, von den
naturphilosophischen Spekulationen abstrahierend, der nüchternen Natur-
betrachtung zum Siege verhalf. Medicinam a sapientiae studio separavit,
sagt Celsus. Obschon auch seine Otiatrie auf bloßer Empirie beruht, s<>
läßt sich doch nicht verkennen, daß ihn die sorgfältige, wahrhaft geniale
i Eu.ics8oxXyk . rjiv ixoiiv y'.vcoö-ai xata itpooittiuoiv -vr'j|iatoc t<ü xoyXiu>öec Sitep
ipootv l^iQpT'ÄoS'ot i/'.'jz toö (»zbz xa>8a>vo<; oiy.-r(v alu)po6{jLevov xa< xoitTOjisvov.
] j Hippokrates.
Beobachtung der Krankheitssymtome stets auf die Bahn einer nüchternen
und unsch ä d 1 i c h e n Therapie verwies. Letzteres gerade bildet ein nicht
gering zu schätzendes Moment, da sich früher die rohe, mit den schäd-
lichsten Mitteln Unfug treibende Empirie nirgends mehr als in der Otia-
trie überbot. Eine Anzahl sorgfältigst geschriebener Krankengeschichten,
in denen scharfsinnig auf die Wechselbeziehungen zwischen Ohr und
Gesanitorganismus verwiesen wird, verraten reiche Erfahrung und ein ge-
iibtes Urteil, eine Tatsache, die bei den mangelhaften anatomischen Kennt-
nissen geradezu überraschend wirkt.
Von den dürftigen anatomischen Bemerkungen des Hippokrates
sei einiges hier erwähnt. Der Gehörgang, sagt der Verfasser des Buches
.De Carnibus"1), führe zu einem, sich durch besondere Härte auszeich-
nenden Knochen hin ; der das Ohr umgebende Knochen sei von Hohl-
räumen durchsetzt. Tö os öotsov zb vcotXov knrf/tl ota toö axXvjpoö.
Hippokrates wird von den Historikern für den ersten
Autor erklärt, der das Trommelfell als Bestandteil des Ge-
hörorgans hervorhob. Er sagt, es sei dünn wie Spinngewebe
und durch seine Trockenheit zur Schallaufnahme besonders geeignet:
Tö Sepjia tö ~'/jz xy rj:/-rAi npb<; t(o östsw tw oxXTjptp Xstctöv icttv u>07csp
äoä/v.ov. ^pötatov toö aXXoo Sspü.ato<;. T=xu.7]pia ok rcoXXa ov. ^pöratov
\-/y. jjLdXiata.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß den Forschern und Aerzten jener
Periode, die gewiß nach Tiersektionen die Lage der inneren Organe
und auch den primitiven Bau des Auges kannten, die selbst zur groben
Zergliederung des Gehörorgans erforderliche Fertigkeit gänzlich abging.
Nach dem vorliegenden Quellenmateriale kann mit Bestimmtheit
angenommen werden, daß Hippokrates und seine Zeitgenossen nur sehr
geringe Kenntnisse vom Baue des Gehörorgans besaßen. Der Vergleich
des Trommelfells mit einem dünnen Spinngewebe zeigt, daß Hippo-
krates zu dieser durchaus irrigen Angabe nicht durch anatomische Be-
obachtung gelangt ist. Denn eine noch so oberflächliche Untersuchung
des Gehörorgans an Tieren hätte ihn belehren müssen, daß das Trommel-
fell eine ziemlich resistente Membran ist, und der scharfsinnigen Beob-
achtungsgabe Hippokrates' wäre die Verbindung des Trommelfells mit
dem Hammer nicht entgangen, dessen erst im 15. Jahrhundert Erwähnung
geschieht. Der Vergleich mit einem spinngewebigartigen Häutchen dürfte
vielmehr darauf zurückzuführen sein, daß Hippokrates bei Sonnenlicht
in der Tiefe des Gehörganges einen Teil des glänzenden Trommelfells
sehen konnte.
Der mangelhaften anatomischen Kenntnis des Gehörorgans ent-
spricht ;iuch die durchaus irrige Ansicht des Hippokrates über die
physiologische Funktion des Ohres. Nach ihm beruht das Hören auf
Hippokrates. 1 5
folgendem Grundsatz: Nur Gleiches kann von Gleichem empfunden
werden, darum diene auch nur das Harte im Organismus als Gehörorgan.
Der Schall, welcher durch das äußere Ohr und die trockene zarte Mem-
bran eindringt, hallt an dem harten Knochen mit seinen Hohlräumen
wieder. Falsch sei die Ansicht einiger zeitgenössischen Naturforscher,
welche meinten, das Hirn sei es, das wiederhalle, denn dieses sei ja von
feuchter und weicher Beschaffenheit, während doch nur Trockenes und
Hartes tönen könnte *). Die Apperzeption des Schalles dagegen vollziehe
sich erst im Gehirn, denn der in den Ohrräumen widerhallende Schall
sei bloß verworrenes Geräusch, und erst, was davon durch eine in der
Hirnhaut befindliche Oeffnung in das Hirn gelange, werde deutlich
gehört-)- Aehnlich lautet auch eine Stelle im Buche De Morbo sacro 3).
In der Pathologie des Hippokrates, in der wir ihn als scharf-
sinnigen Symptomatologen bewundern, werden als die wichtigsten Ur-
sachen der Ohrkrankheiten die vier Kardinalsäfte, namentlich Schleim
und Galle, angeführt. Außerdem gilt für die Entstehung oder Ver-
schlimmerung der Ohrleiden die Art der Jahreszeit und der Wind-
richtung als wichtig. Ohrenflüsse seien im Sommer besonders häufig,
Südwinde machen wegen ihrer Feuchtigkeit schwerhörig ; trockene Nord-
winde dagegen bessern das schlecht gewordene Gehör. Auch das Alter
sei von Einfluß auf die Natur der Krankheit, so überwiegen bei Kindern
Ohrenflüsse, während bei älteren Leuten am häufigsten Schwerhörigkeit
vorkomme 4).
Von den Beziehungen zwischen Erkrankungen des Gehörorgans
und anderer Organe waren Hippokrates einige bekannt. So wußte
er, daß Entzündungen der Tonsillen auf die Ohren übergehen können0),
daß Ohreiterung oft in Konnex mit schweren zerebralen Leiden stehe,
und auch bei Pneumonie vorkomme, daß Schwerhörigkeit oder Taubheit
manchmal ein febriles oder prämortales Symptom bilde.
Im 7. Buch der Epidemien beschreibt er ein bei Spitzköpfigen vor-
kommendes Krankheitsbild, bestehend aus Ohrenfluß, Kopfschmerz, hohe
und enge Gaumenwölbung nebst unregelmäßiger Zahnstellung, ein Sym-
ptomenkomplex, der von Körner*) als Folgezustand von adenoiden Vege-
tationen gedeutet wird. Der Gehörshalluzinationen und subjektiven Ohr-
geräusche wird an mehreren Stellen gedacht, vorkommend bei Psychosen.
Delirien, bei hohem Fieber, nach erschöpfenden Blutungen, beim Eintritt
der Menses6).
Im 2. Buche De Morbis wird auch die Entstehung der subjektiven
Ohrgeräusche auf die Wahrnehmung der Pulsation in den Kopfgefäßen
*) Die Ohrenheilkunde des Hippokrates. Vortrag in der 07. Vers, deutsch.
Naturf. u. Aerzte 1895. Wiesbaden 1896.
IQ Eippokrates.
zurückgeführt. Die dadurch hervorgerufene Schwerhörigkeit wird zum
Teil als Folge der Geräusche, zum Teil als Folge der Kongestionen ge-
l'.lutfluß aus dem Ohre wird in einer Krankengeschichte des
7. Buchs der Epidemien erwähnt, wo es sich wahrscheinlich um einen
Fall von Basalfraktur handelt.
Auch in der allgemeinen Prognostik und Semiotik, deren un-
vergängliches Hauptergebnis in den berühmten Aphorismen niedergelegt
ist, verwendet Hippokrates Ohrsymptome, so z. B. soll süßes Ohren-
schmalz ein Zeichen des nahenden Exitus bilden.
In der Prognosestellung der Ohrenkrankheiten fand er, daß Taub-
heit, die auf ein Fieber folgt, durch Nasenbluten oder Durchfall geheilt
werde, daß akute Ohrentzündungen oft schon am dritten Tag letalen
Ausgang herbeiführen.
Unter den Krankheitsbildern findet sich im hippokratischen Kanon
namentlich die Ohreiterung, als Folge der eitrigen Mittelohrentzündung,
ohne jede anatomische Kenntnis, mit ihren klinischen Symptomen be-
schrieben. Die falschen Vorstellungen vom Baue des Gehörorgans waren
die Ursache, daß Hippokrates und seine Nachfolger den primären
Sitz der Erkrankung in das Hirn verlegten, wo eine übermäßige An-
sammlung von Schleim zum Abfluß aus dem Gehörorgane führe, ebenso
wie in anderen Fällen durch die Nase 7). Kommt es zum Abfluß durch
das Ohr, so wird dies als günstiger Ausgang betrachtet; wenn nicht,
so tritt der letale Ausgang nicht durch die Ohreiterung, sondern durch
die Hirnkrankheit ein.
Offenbar rührt diese Auffassung, wie Körner richtig meint, von
der Erfahrung her, daß dem Ausflusse von Ohreiter häufig schwere Hirn-
erscheinungen vorangehen. „Alle diejenigen Schriften der hippokrati-
schen Sammlung, welche sich mit den akuten Ohreiterungen befassen,
stimmen darin überein, daß ein bestimmter Komplex schwerer zere-
braler Symptome mit hohem Fieber nach Eintritt einer Ohreiterung
schwindet, oder, wenn keine Ohreiterung eintritt, den Tod herbeiführt" 8).
Nicht die Hirnsymptome sind Folgen der Ohreiterung bei Hippokrates,
sondern umgekehrt, die Ohreiterung gilt ihm als Folge des zerebralen
Zustandes.
Das klinische Bild, welches er folgendermaßen skizziert, ent-
spricht im allgemeinen unserem heutigen Symptomenkomplexe der
akuten eitrigen Mittelohrentzündung. Der Kranke wirft sich vor
Schmerzen hin und her. fiebert hoch und deliriert. Anfangs besteht
intensiver Schmerz im Ohre, der in die Schläfen und Vorderkopfgegend
und in die Augen ausstrahlt. Der Kopf erscheint voll und schwer, bei
Bewegung tritt bisweilen Erbrechen ein. Außerdem kommt Harndrang
oder Harnverhaltung vor. Der Ohrenfluß stellt sich am 5., 7. oder 8. Tage
Hippokrates. 1 7
ein und beendigt sofort die schweren zerebralen Hirnerscheinungen.
Verhaltung des Ohreiters führt gewöhnlich am 7., 9. oder 11. Tage
den Tod herbei. Der Ohrenfluß ist geruchlos, bald von Anfang an
eitrig, bald im Beginne schleimig oder wässerig, wird später durch Zer-
setzung eitrig.
Die akuten Ohreiterungen treten entweder als selbständige Erkran-
kung oder als Komplikation bei Peripneumomie*), Lipyrie**) und In-
fluenza***) auf. Von einer Miterkrankung des Warzenfortsatzes findet
sich keine Erwähnung, wenn nicht die vom Ohre stammenden Knochen-
eiterungen (owrJjX&ev ürcep toö Coro?) oder manche der als Parotitiden be-
zeichneten Geschwülste ('ä ~ao" oo?) als solche aufgefaßt werden.
Ebenso wie die akuten waren dem Hippokrates auch die chro-
nischen Ohreiterungen, namentlich bei Kindern, bekannt.
Als Symptome der otitischen Meningitis werden von Hippokrates
und später auch von Paul von Aegina und Oribasios Verengerung und
Trägheit der Pupillen, Nackensteifheit, Lichtscheu, Schlafsucht oder
Schlaflosigkeit, unregelmäßiger Puls und Atembeschwerden angegeben.
(Dr. Dimitrios Dimitriades, 1. c. p. 67, 311.)
Von äußeren Ohrenleiden wird einiges über Kontusion der Ohr-
muschel und Bruch des ( )hrknorpels mit ihren Konsequenzen mitgeteilt;
es sind Verletzungen, die bei den Wettkämpfen der Faustkämpfer
häufig vorkamen.
Auch Schädel Verletzungen als Ursache von Taubheit werden
bei Hippokrates erwähnt. „Jemand, der eine Kopfverletzung durch
einen Stein oberhalb der linken Schläfe erhielt, verlor nach dem dritten
Tage die Stimme und hörte nichts." (Dr. Dimitriades, 1. c. p. 75.)
Die Behandlung11) gestaltet sich bei Ohreiterungen durchaus
nicht exspektativ, sondern teils diätetisch, teils lokal. Empfohlen wird
vor dem Durchbruch des Eiters neben magerer Diät Honigwasser,
Gerstenschleim und verdünnter Wein. Auf den Kopf des Kranken wurden
mit heißem Wasser getränkte Schwämme gelegt. Die lokale Therapie
bestand darin, daß das kranke Ohr über Wasserdampf gehalten oder in
dasselbe Mandelöl gegossen wurde. Bisweilen wurden auch Blutentzie-
hungen vorgenommen oder durch Auflegen reizender Salben auf rasierte
StelleD der Kopfhaut eine Ableitung versucht. Verträgt der Kranke die
warmen UmschläLO' schlecht. s<> wird Kälte angewendet. Wenn der
Eiter durchgebrochen, darf der Kranke wieder kräftige Nahrung zu sich
| Nach Körner wahrscheinlich ein mit Pneumonie und Empyema pleurae
komplizierter Gelenksrheumatismus.
**) Nach Littre eine im warmen Klima vorkommende endemische Kieberseuche.
**) Diese Erkrankung war zu Hippokrates' Zeiten in der Gegend von Korinth
epidemisch.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1.
I g Aristoteles.
nehmen. So lange das Ohr stark läuft, läßt man es in Ruhe, später
werden Injektionen mit warmem Wasser, süßem Wein, Frauenmilch oder
ranzigem Oel vorgenommen. Bei langdauerndem Ohrenfluß werden Ein-
streuungen eines feinen Pulvers von Silberglätte, Rauschgelb und Bleiweiß
empfohlen. In der Rekonvaleszenz muß noch einige Zeit der Aufenthalt
in Sonnenglut, in starkem Wind und rauchgeschwängerten Räumen ver-
mieden werden.
Im Buche De Morbis vulgaribus (Lib. VI, Sect. 5) findet sich eine
merkwürdige Stelle, welche darauf deutet, daß sich Hippokrates zu-
weilen kleiner suggestiver Kunstgriffe bediente. Dort heißt es nämlich:
„Wenn jemand an Ohrenweh leidet, so wickle man etwas Wolle um den
Finger, gieße etwas warmes Oel in das Ohr, nehme dann die Wolle in
die hohle Hand, halte sie vor das Ohr, damit der Kranke glaube, sie sei
aus dem Ohre gekommen und, um die Täuschung vollkommen zu machen,
werfe man sie gleich darauf ins Feuer."
In der Behandlung der Ohrwunden 10) verbietet er jeden drückenden
Verband, da ein solcher schmerze und schade. Höchstens sei eine
leichte Befestigung der Ohrmuschel mit Kleister oder Wachspfiaster (tö
fXioxpov a)orjTOv) zulässig. Bei eingetretener Eiterung an der Ohrmuschel
kann man sich des Messers oder des Glüheisens bedienen. Im ersten Falle
muß man einen nicht zu kleinen Schnitt, tief und ergiebig, machen. Will
man das Glüheisen benützen, so muß man die Muschel ganz durchbrennen.
Besonders bemerkenswert ist die Vorschrift, nach der Inzision den eröffneten
Abszeß nicht auszustopfen und keine feuchten Umschläge zu machen!
') Littresche Ausgabe der Werke des Hippokrates (Paris 1839 — 1861).
") De locis in nomine 2.
3) De rnorbo sacro. 14.
4) Aphor. III.
De gland. 7.
c) De morbo sacro 14; Coact. praenot 186, 190; prorrh. I, 143.
7) De gland. II.
8) Die Ohrenheilkunde des Hippokrates von 0. Körner (eine vortreffliche
Abhandlung). Wiesbaden 1896, p. 10.
9) De locis in hom. 12; de morbis II, 14, 16; de morbis III, 2 u. a. and. Stellen.
10) De articulis liber.
Dr. Stylio Dimitriades in Athen. AI A'.ixttuyjv.xc«! <J>AsY|J.ova! toö uiaoo
üitbq xat ex toötwv aovenetaitpeoi? eiti usf^-fs^ia. 5Ev 'AtKjvaic Iv. toü. 0 xoKoyp&yeloo rc. 8.
SaxeXXaptou 1895.
Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1893.
Fuchs, Hippokrates' sämtliche Werke. Leipzig 1900—1902.
Aristoteles
(384—322 v. Chr.).
Auch durch den Philosophen von Stageira, den Lehrer Alexanders,
hat die Anatomie und Physiologie des Gehörorgans nur geringe Förderung
Aristoteles. 19
erfahren. Dies muß umsomehr befremden, als Aristoteles zahlreiche
Sektionen an Tieren vornahm und sich eingehend mit dem Hören der
Tiere, besonders der Fische1), beschäftigte. So hoch aber auch die
Verdienste Aristoteles" für die Medizin im allgemeinen angeschlagen
werden müssen, so finden wir, daß die durch seine Autorität gestützten
Lehrsätze eher hemmend auf den Entwicklungsgang der Otiatrie gewirkt
haben.
Vom menschlichen Gehörorgan waren ihm die Ohrmuschel2) und der
äußere Gehörgang bekannt. Ob er anatomische Kenntnis vom Trommel-
fell besaß, ist zweifelhaft. Wenn es gestattet ist, die vagen Beschrei-
bungen genauer zu deuten, dürfte Aristoteles an Tieren die Ohr-
trompete*) und die Schnecke gesehen, doch wenig beachtet zu haben. Von
der Ohrmuschel war zur Zeit des Aristoteles bloß die Benennung des
Lobus üblich, die übrigen Teile der Ohrmuschel waren nicht speziell
benannt. Es heißt nämlich (De animalibus historiae, Lib. I, Cap. XI):
Der obere Teil des Ohres heißt Ohrmuschel, das andere Ohrläppchen;
das ganze besteht aus Knorpel und Fleisch. Im Inneren gleicht seine
Bildung der des Strombos: der innerste Knochen aber hat Aehnlichkeit
mit dem äußeren Ohr(?) und in ihn gelangt der Ton wie in ein letztes
Gefäß; von da geht ein G#ng in die Wölbung der Mundhöhle (Ohr-
trompete), aber keiner ins Gehirn: aus dem Gehirn erstreckt sich eine
Ader dorthin (nach Aubert -Wimmer Leipzig 18G8).
Bezüglich der Hörfunktion wird von Aristoteles als Träger der
Schallleitung die im Ohre befindliche, von der äußeren abgeschlossene
innere Luft angenommen, die unbeweglich sein muß, damit ihr
alle Differenzierungen des Schalles genau und deutlich übertragen werden
können 3). Sitz des Gehörs ist nach ihm das Hinterhaupt, welches einen
hirnlosen, hohlen, bloß mit Luft gefüllten Raum darstellt. Während die
Augen mit dem Gehirn in Verbindung stehen durch Gänge, die zu den
um das Hirn befindlichen Adern hinführen, verläuft von den Ohren ein
Gang nach dem Hinterkopf).
Diese sonderbare Theorie war die spekulative Konsequenz des
Axioms: Das Ohr ist das Organ für den Luftsinn, es muß demnach die
Natur der Luft haben, so wie die Nase die des Feuers, das Auge die
des Wassers etc.5). Da das Gehör aus Luft besteht, so mußte sich in
logischer Konsequenz auch im Innern des Kopfes Luft befinden und zwar
im Hinterkopf, weil ja ein Loch aus dem Felsenbein dahin sich öffnet.
Die hohe Autorität, welche sich die Lehren des Aristoteles
das ganze Mittelalter hindurch bewahrt haben, waren die Ursache, daß
*) Das Ohr ist innen mit dem Munde durch eine Röhre verbunden, mit dem
Gehirn jedoch durch eine Ader. Handbuch der Geschichte der Medizin I, p. 284.
20 Aristoteles.
noch lange nachher seine falschen Schlüsse über das Gehörorgan als
feststehend angesehen wurden. Wurde ja, wie wir sehen werden, bis
ins 18. Jahrhundert, zu einer Zeit, wo die grob anatomische
Kenntnis des Gehörorgans schon gesichert war, noch an der Aristotelischen
Lehre von der im Ohre befindlichen, eingepflanzten Luft festgehalten und
mit einem, einer besseren Sache würdigen Scharfsinn, mit dem ganzen
Aufgebot scholastischer Spitzfindigkeit die Existenz dieses eigenartigen,
von der äußeren Luft abgeschlossenen „aer innatus1" verteidigt, gestützt
unter anderem auf folgende Stelle des Buches De anima, Lib. II,
Cap. VIII: 6 S' sv zolc waiv i"f/.autr/.ooö|j.r,Tai 7cpö<; tö äxivr^oc elvai, otcw?
äv.v.ßwc ai^D-avsTa'. Traaac xac Sia^opac zftc y/.vr^ascos (at is aer qui in
auribus est collocatus, insitus est, ut sit immobilis, idque propterea, ut
exacte sentiat differentias omnes motus).
Von weit höherem Wert als diese unnatürliche Hypothese ist das,
was Aristoteles über den Schall und über die Bedeutung des Gehör-
sinns für das intellektuelle Leben sagt ü), doch finden sich auch hier An-
sichten, die uns in Anbetracht der Bedeutung des Aristoteles be-
fremden müssen.
In der reichhaltigen fälschlich unter dem Namen des Aristoteles
gehenden Sammlung der Probleme, welche sich auf die Medizin beziehen,
findet sich auch manches auf das Ohr Bezügliche. Z. B. beantwortet der
Autor die Frage, warum das Ohrenschmalz bitter ist, damit, daß es eine
faulige aus Schweiß stammende Salzmasse sei. Ohrgeräusche weichen
bei starkem äußeren Schall, weil stärkerer Schall den schwächeren ver-
dränge. Das Husten beim Kratzen der Ohren erklärt er aus der Ver-
bindung, die das Gehörorgan mit der Lunge und Trachea besitze7).
Dieser Verbindung sei auch das Zusammenvorkommen von Taubheit und
Stummheit zuzuschreiben, ebensowie der Uebergang von Ohrenleiden auf
Affektionen der Lungen*).
') De animal. histor. Lib. IV, Cap. 8. St. v. Stein. Lit. d. Anat, u.Physiolog. 1890.
2) De animal. histor. Lib. I, Cap. XI, 2. 'Axivyjtov qe tö ol»? avfl-pcurco? I/ei
u-övog tö)v iyovxojv toöto to jj.6p:ov. (Ornne animal, quodcumque auriculas habet, eas
movet, praeter hominem.)
3) De anima. Lib. II, Cap. 8.
*) De partibus animal. Lib. II, Cap. 10.
5) De sensu. Cap. II.
6) De sensu. Cap. I. (Schluß.)
7) Problemat. Sect. XXXII. (Quae ad aures pertinent.)
iinstat autem: simul enim et surdi et muti fiunt, et morbi aurium in
pulmonis affectus transeunt, nonnullisque tusses superveniunt scalpentibus aurem.
Die Otiatrie von Aristoteles bis Galen. 21
Die Ohrenheilkunde im Zeitraum von Aristoteles bis Galen.
A) Anatomie und Physiologie.
Die Fortschritte der alexandrinischen Schule auf anatomischem
Gebiete kamen unserem Fache wenig zu gute. Dieses Urteil basiert
allerdings nur auf den Angaben der späteren Autoren, da die Schriften
der Alexandriner nicht auf uns gekommen sind. Nach Galen1) war dem
Erasistratus (um 330 — 250 v. Chr.), der zuerst den Ursprung der
Nerven vom Gehirn feststellte, bereits der Gehörnerv genau bekannt,
und mit höchster Wahrscheinlichkeit läßt sich dasselbe auch von Hero-
philus (ca. 335 — 280 v. Chr.), dem Entdecker des Calamus im 4. Ven-
trikel, annehmen2). Eine über das Wissen des Aristoteles hinaus-
gehende Kenntnis vom Gehörorgan scheint aber auch in dieser Epoche
kaum erworben worden zu sein, doch dürfte mancher beim Zerschlagen
des Schläfebeins auf den verwirrenden Anblick der zahlreichen Gänge
und Löcher gestoßen sein, welche Galen später mit einem Labyrinth
verglich. Darauf deutet wenigstens folgende Stelle beiCelsus hin: „In aure
quoque primo rectum et simpliciter, procedendo flexuosum, juxta cere-
brum in multa et tenuia foramina diducitur, per quae facultas audiendi
est" 3).
Dagegen finden Avir hier bereits spezielle Bezeichnungen der einzelnen
Erhabenheiten und Vertiefungen der Ohrmuschel, welche uns Rufus von
Ephesus4) (ca. 97 n. Chr.) übermittelt. Diese sind in griechischer und
lateinischer Sprache folgende : Xößo? (fibra), xtspo^iov (pinna), IXt£ (helix),
avftsX^ (anthelix), v-ÖT/Ji (concha), xpayoc (hircus), ferner a.vxfopa.fos, avct-
Xößtov.
In der Physiologie des Gehörsinns ist auch in diesem Abschnitt
kaum ein Fortschritt zu verzeichnen. Die Theorien behandelten mit Vor-
liebe den Schall resp. seine Natur oder erläuterten den Nutzen der Form
und Stellung des äußeren Ohres, wobei entweder der Standpunkt der
Stoa oder Epikurs (geb. 341 v. Chr.) maßgebend war. Als Beispiele
wollen wir zweier Römer, des Cicero und des Lucretius Carus
(98 v. Chr. bis 55 n. Chr.) gedenken, um den Gegensatz recht grell zu
beleuchten, Cicero spricht in seiner Schrift „De natura deorum" über
den Nutzen, welchen das Offenstehen der Ohren, die Krümmung des
Gehörgangs (Resonanz) und das Ohrenschmalz (Hindernis für das weitere
Eindringen kleiner Tiere) mit sich bringt und preist die feine Differen-
zierung des Gehörs5). Lucretius Carus dagegen, fußend auf Epikurs
Lehren, verwirft derartige teleologische Lehren gänzlich und vertritt fast
moderne Anschauungen, wenn er sagt:
Nil adeo quoniam natum est in corpore ut uti
Possemus, sed quod natum est, id procreat usum.
22 Celsus.
raultoque creatae sunt prius aures
quam sonus est auditus et ornnia denique menibra
ante fuere ut opinor eorum quam foret usus.
(Titi Lucretii Cari, De rerum natura, Lib. IV, Vers 832—833; 837—840.)
Die Gehörswahrnehmung entstehe durch den Anprall körperlicher Teilchen
auf das Sinnesorgan:
Corpoream quoque enim vocem constare fatendum est,
Et sonitum ; quoniam possunt impellere sensus.
(Ibidem Vers 529, 530.)
B) Pathologie und Therapie.
Die Pathologie war vorwiegend symptomatisch und dementsprechend
erhob sich die Therapie nicht über die rohe Empirie. Die damals herr-
schenden pathologischen Begriffe waren: Ohrschmerz, Ohrentzündung,
Ohrgeschwüre, blutige oder eitrige Ohrenflüsse, Ohrpolypen, Schwer-
hörigkeit, Taubheit und Ohrgeräusche. Die hervorragenden Aerzte unter-
schieden sich von den übrigen nur dadurch, daß sie auf das ätiologische
Moment größere Rücksicht nahmen und daher die Therapie mehr
individualisierend rationeller gestalteten, ferner dadurch, daß sie dem
Fache durch Heranziehung der Chirurgie größere Exaktheit zu verleihen
suchten. In der Tat ist in dieser Periode in chirurgischer Beziehung
manches Neue von bleibendem Werte zu verzeichnen. So finden wir eine
größere Anzahl sinnreich konstruierter Instrumente zur Entfernung von
Fremdkörpern, zur Beseitigung von angeborenen und erworbenen Atre-
sien u. a. m. Auch plastische Operationen wurden ausgeführt, was in-
sofern von historischem Interesse ist, als dieselben bald völlig in Ver-
gessenheit gerieten.
Die zu jener Zeit in Anwendung gekommene materia medica, von
geradezu überquellendem Reichtum, ist uns am ausführlichsten von D i o-
skorides") (1. Jahrhundert n. Chr.) und Plinius dem Aelteren7)
(23 — 79 n. Chr.) überliefert. Produkte des Tier-, Pflanzen- und Mineral-
reiches sind darin vertreten. Mit Vorliebe wurden ölige, ätherische,
harzige, bittere, scharfe, zusammenziehende und betäubende Mittel, meist
in flüssiger Form, verwendet.
Ein übersichtliches Bild vom Stande der Ohrtherapie dieses Zeit-
raums gewährt Aulus Cornelius Celsus*)8), der wohl selbst kein
Arzt war, aber mit großem Verständnis die vorausgegangene medizinische
Literatur benützte**). Celsus empfiehlt bei Behandlung der Ohraffek-
*) Daten aus dem Leben dieses Schriftstellers sind nur spärlich vorhanden.
Sicher scheint, daß er zur Regierungszeit des Tiberius gelebt und sich zeitweilig in
Rom aufgehalten hat.
**) In Rom gab es zu dieser Zeit zahlreiche Spezialärzte, darunter auch Ohren-
ärzte (auricularii).
Celsus. 23
tionen die größte Vorsicht, weil diese nicht immer auf das Organ be-
schränkt bleiben, sondern zuweilen mit Wahnsinn oder Tod enden
können.
Außer diätetischen Vorschriften, Purganzen, Blutentziehungen be-
diente er sich bei Ohren sc hm erzen verschiedener Kataplasmen, mit
warmem Wasser getränkter Schwämme, endlich mannigfacher stets lauer
Einträufelungen in den Gehörgang. Als solche wurden benützt Oel, in
dem Regeuwürmer (lumbrici) gekocht wurden, Saft von bitteren Mandeln
oder von Pfirsichkernen (mali persici), mit oder ohne Zusatz von Mohn,
Myrrhe, Krokus, Bibergeil,' Alaun u. a.
Bei Ohreiterungen, bei denen die Gefahr des Uebergreifens auf
das Gehirn hervorgehoben Avird, empfiehlt er Saft des Lauches gemengt
mit Honig , mit Zusatz von Myrrhe , Krokus , Bittermandeln etc. , bei
fließenden Ohrgeschwüren Ausspülungen mit in Honig gekochtem
Grünspan.
Zur Entfernung von Würmern diente entweder die Sonde oder
Medikamente, welche geeignet sind, die Würmer zu töten, z. B. weiße Nies-
wurz in Essig zerrieben. Um eingekrochene Flöhe zu fangen, soll man
Wolle mit einer klebrigen Substanz, z. B. Harz oder Terpentin, tränken
und damit das Tier herausziehen. Um Steinchen und andere Fremd-
körper zu entfernen, seien Ohrlöffel, Sonden oder ein stumpfer Haken,
ferner Niesmittel oder kräftige Injektionen mit der Ohrenspritze (aut
oriculario clystere aqua vehementer intus compulsa) anzuwenden. Führen
diese Methoden nicht zum Ziele, so soll man den Kranken mit der ent-
sprechenden Seite auf eine schwebend aufgehängte Tafel legen und
mit einem Hammer auf die äußersten Enden der Tafel schlagen, um
durch die Erschütterung den Fremdkörper herauszubefördern *).
Ist die Schwerhörigkeit, bei der man immer das Ohr näher
besichtigen müsse, durch Krusten infolge von Geschwüren ver-
ursacht, so sind erweichende Einträufelungen mit warmem Oel oder
Lauchsaft u. a. anzuwenden und danach Ausspülungen vorzunehmen; Ceru-
minalanhäufungen sind durch die Sonden zu entfernen, was durch voraus-
gehende Spülungen erleichtert wird.
In Fällen von Atresie ist ihre Mächtigkeit durch die Sonden-
untersuchung festzustellen. Oberflächliche (Bildung membranöser
Septa) sollen mit der Sonde durchbohrt werden, während bei in die
Tiefe reichenden Atresien Skalpell, Glüheisen oder Aetzmittel in An-
wendung kommen. Zum Offenhalten des geöffneten Ganges wird ein
Federkiel eingelegt, dessen Außenfläche mit einem die Vernarbung be-
*) Außer dem Ohrlöffel (specillutn auricularium) [VI. c. 7. §§ 5 — 9] führt
Celsus an anderer Stelle noch den Striegel (strigilis) an, welcher dazu dient, flüssige
Medikamente ins Ohr zu gießen [VI. c. 7].
24 Heraklicles von Tarent. Asclepiades.
fördernden Mittel bestrichen ist. Von chirurgischen Leiden er-
wähnt C eis us noch die Durchreißung des Ohrläppchens durch schwere
Ohrgehänge, die mittels blutiger Naht geheilt wird, und den Bruch
des Ohrknorpels. Bei letzterem und anderen Verunstaltungen der Ohr-
muschel kam die berühmte plastische Methode in Betracht, welche
durch Herbeiziehung der benachbarten Hautdecke das Ver-
lorene zu ersetzen trachtete. Celsus widerrät die Vornahme dieser
Operation bei sehr alten oder kachektischen Individuen, weil sie bei be-
stehender Disposition zu krebsigen Geschwüren Anlaß geben könne.
Dies sind die Hauptmomente der Otiatrie des Celsus, resp. die
kritisch überarbeitete Lehre seiner Vorgänger und Zeitgenossen.
Celsus zitiert ebenso wie Galen viele Aerzte. die sich als Therapeuten
in der Otiatrie einen Namen gemacht hatten.
Zu diesen gehören: Aelius Gallus, Andron, Andromachus,
Andronikos, AntipaterArius, Aristarchus, Charixenes, Clau-
dius Damonicus, Chrysanthus, Crato, Heras, Kleon, Kriton,
Menophilus, Musa, Niceratus, Themison, Xenokrates u. a.;
mehrere dieser Namen sind auch auf anderen Gebieten nicht unbekannt.
Von bedeutenderen Aerzten seien noch folgende erwähnt.
Heraklides von Tarent9) (Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr.)
verwendete ein aus Grünspan, Kupferfeilen und Honig zusammengesetztes
Aetzmittel gegen wuchernde Ohrgeschwüre. Der Herophileer 10) Apol-
lonius (Mys), um 30 v. Chr., empfahl eine Menge sehr zusammen-
gesetzter Mittel gegen eine Reihe von Ohrleiden, ohne aber dabei rationell
zu verfahren. Die Formen, in denen er seine Mittel applizierte, waren
Collutiones (z. B. warmes Wasser, Urin und Wein gemischt), Infusilia
(Ziegen- oder Schafmilch erwärmt mit Kuhmilch), Resiccatoria (Myrrhe
und Schwefel mit Oel gemischt), Insufflatoria (Pfeffer zerrieben mit Wein).
Gegen Schwerhörigkeit empfahl er Fomente, Instillationen und beson-
dere Diät.
Flöhe und Würmer entfernte er durch scharfe Pflanzensäfte oder
durch ein Dekokt von Bittermandelöl, während er fremde Körper mittels
Ohrlöffeln, Pinzetten, Häkchen und Sonden, die mit in Terpentin ge-
tauchter Wolle umwickelt waren, beseitigte. Erhärtetes Ohrenschmalz
ließ er zuerst durch eine Auflösung von Salpeter in Essig erweichen,
worauf er das Ohr mit lauem Wasser oder Oel reinigte.
Der berühmte Asclejjiades ir) von Bithynien (Arzt in Rom im
1. Jahrhundert v. Chr.) setzte ein Mittel zusammen, welches gegen jed-
wedes Ohrleiden („ad omnia auriurn vitia") helfen sollte. Es bestand
aus Zimmt, Kassia, Riedgrasblüte, Bibergeil, weißem und langem Pfeffer,
Amomum, Myrobalanum, Weihrauch, Narde, Myrrhe, Krokus und Natrum
in Essigr verrieben und vor dem Gebrauch mit derselben Flüssigkeit ver-
Archigenes. Scribonius Largus. Diagoras. 25
dünnt. Sein Mittel gegen Ohrenschmerz war Einträufelung von Oel, in
dem Kellerasseln oder eine afrikanische Schnecke gekocht waren. Das
letztere Mittel wird nicht wundernehmen, wenn man bei Plinius liest,
daß zu den Ohrmitteln auch Taubenmist und die Asche von Pferdemist
gezählt wurden.
Archigenes12), hochberühmter Arzt in Rom zur Zeit Trajans,
empfiehlt gegen Ohrenschmerzen nebst Aderlässen und Klistieren
auch warme Bähungen, erweichende Umschläge, ölige Einträufelungen.
Zur Entfernung von Fremdkörpern, als deren Folge er zuweilen
Konvulsionen beobachtete, empfahl er Erschütterung des Kopfes, ferner
Niesmittel, wobei Mund und Nase verschlossen wurde und die in das
Ohr eindringende Luft den Körper in den äußeren Gehörgang hinaus-
drückt (Galen, Comp. sec. loc, Lib. III). Auch soll Archigenes nach
Galen zuerst das von Löwenberg in der Neuzeit vorgeschlagene
Adhäsionsverfahren (Anleimung des Fremdkörpers an einen Pinsel)
zur Entfernung von Fremdkörpern ausgeübt haben. Gegen Ohren-
sausen wird eine Mischung von Bibergeil, Schierlingsamen und Essig
angewendet. Von größtem Interesse aber ist seine Bemerkung über die
Behandlung Schwerhöriger, wobei er als Reizmittel starken Schall
anrät, der durch eine „tuba" ins Ohr geleitet werden soll. Die schall-
verstärkende Wirkung von in den Gehörgang eingeführten Röhren war
somit schon Archigenes 13) bekannt.
Endlich sei des S er ib onius Largus 14), eines im 1. Jahrhundert
n. Chr. zur Zeit des Kaisers Claudius lebenden, römischen Arztes, gedacht,
der allerlei Mittel gegen den Ohrenschmerz empfahl, deren bestes
die Flos picis (der mit Wolle aufgefangene Dunst von kochendem Pech)
mit Oel vermischt wäre. Fleischige Exkreszenzen (Polypen) im Ohre
wurden mit Glüheisen oder mit einem aus Alaun, Grünspan und Atra-
mentstein zusammengesetzten Mittel zerstört.
Es lag im Geiste der damaligen Zeit, möglichst künstliche Mittel
anzuwenden, die man für den wesentlichsten Teil der Arzneikunde hielt.
Dabei wurde ohne kritische Sichtung und ohne Indikationsstellung ver-
fahren. Zu den größten Verirrungen dieser Epoche gehört der Mißbrauch
mit Opium, der schon von Diagoras von Cypern*) 15), einem Arzt, der
von Plinius in seiner Naturgeschichte erwähnt wird, getadelt wurde, und
der Unfug mit scharfen Mitteln. Erzählt doch Galen, daß ein Arzt bei
entzündlichem Ohrenschmerz Pfeffer ins Ohr gebracht habe, worauf die
Patientin, vor Schmerz rasend, fast zum Selbstmord getrieben wurde.
Weniger drastisch, doch immerhin schädlich war das Eingießen von
*) Unberechtigterweise wird er von manchen mit dem bekannten Diagoras
von Melos identifiziert.
26 Galen.
kaltem Wasser ins Ohr, worüber Archigen es berichtet. Zu welch'
ekelhaften Mitteln (Rindsurin, Ziegenurin etc.) zuweilen gegriffen wurde,
davon geben die obigen Auszüge genugsam Zeugnis.
*) Galen, Comment de placit. Hippocrat. et Plat. Lib. VI, Cap. 6.
2) Galen, De anat. administr. Lib. IX.
3) De medicina lib ri octo. Lib. VIII, Cap. 1.
4) De appellationibus part. corp. buni. Lib. I, Cap. VI.
5) Cicero, De natura deorum. Lib. II, Cap. 57 u. 58.
6) De materia medica libri sex.
7) De re medica. Lib. I, Cap. 9 — 12.
8) De medicina libri VIII. Lib. VI, Cap. 7 ; Lib. VII, Cap. 8 u. 9.
9) Galen, De conipos. medic. sec. loc. Lib. III, Cap. 1.
10) Galen, ibidem.
n) Galen, ibidem; Celsi, De med. libri VIII. Lib. VI, Cap. 7.
12) Galen, De comp. med. sec. loc. Lib. III, Cap. I.
13) Postea vero acutis vocibus assiduis et vicissim gravibus inclamamus et per
tubam sonitu inmisso malum depellere conamur. Galen, ibidem.
14) Compositiones medicae. Cap. V (ad aurium dolorem).
15) Dioscorides, De materia medica. Lib. IV, Cap. 65: 'Epaahtpaxo; uivtoc
Atocfopav tpfjolv äKOOov.i\xä^t'.^ auxoü tyjv ypyjstv litt t(I)v tuxa'kh(VttßV v.al öcpO-a'/.juomojv,
Stä tö ajxßXocuitli; etvat v.al xapamv.ov.
16) Aetii medici Tetrabiblos IL Sermo I, Cap. 120.
Von den bei Ausgrabungen gefundenen antiken chirurgischen Instru-
menten, welche otiatrischen Zwecken dienten, erwähnen wir hier nach Gurlt fol-
gendes: Freudenberg führt in den Jahrbb. des Vereins von Altertumsfreunden im
Rheinlande XXV, 1857, S. 106 nebst anderen Instrumenten auch kleine, nur 6 — 8V2 cm
lange Ohrlöffel und Sonden an, welche im Bette des Rheins bei Bonn 1856 auf-
gefunden wurden : die eine Sonde besaß einen winklig abgebogenen Griff.
In dem Altertumsmuseum zu Homburg befinden sich ca. 30 ohrlöffelartige
Instrumente, die am anderen Ende spitzig wie Zahnstocher sind. Ohrlöffel und Ohr-
sonden finden sich ferner in der römischen Abteilung des Paulusmuseums zu Worms
und im Antiquarium des Neuen Museums in Berlin. In neuerer Zeit wurden ähn-
liche Instrumente in größerer Anzahl in Rom selbst, auf der Tiberinsel (inter duos
pontes) aufgefunden. (Die Ohrlöffel wurden außer zur Entfernung des Ohren-
schmalzes auch zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem Ohre oder anderen
Kanälen gebraucht.)
Anschließend seien noch die bei Ausgrabungen in Griechenland und Italien
(Veji) in den Aeskulapheiligtümern aufgefundenen Ohrmuscheln aus Terrakotta
erwähnt, welche als Weihgeschenke (donaria) für die erfolgte Heilung oder als
Wunschgeschenk für die erflehte Genesung eines Ohrenleidens dem Aeskulap dar-
gebracht wurden 1.
Galen
(130—200 n. Chr.).
Galen, dessen Schriften fast vierzehn Jahrhunderte hindurch die
Medizin beherrschten und den wissenschaftlichen Fortschritt vermöge
*) G. Alexander (Wien), Zur Kenntnis der etruskischen Weihgeschenke.
Anatomische Hefte 1905.
Galen. 27
ihrer starren Autorität lähmten, verdankt die Otiatrie verhältnismäßig
nur weniges. Seine Anatomie, nur an Tieren (Hunden und Affen) ge-
übt, hat wenig dazu beigetragen, das bisherige Dunkel im Baue des
inneren Ohres zu erhellen. Der von ihm in die Ohranatomie eingeführte
Terminus ..Labyrinth" für das innere Ohr ist bezeichnend für seine Un-
kenntnis der anatomischen Details des Gehörorgans. Seine Therapie
basierte auf der Tradition der Vorgänger, die allerdings einer mehr ratio-
nellen Kritik unterworfen wurden.
Anatomie und Physiologie. Im Buche „De usu partium" erörtert
er teleologisch die Gründe, weshalb die Ohrmuscheln knorpelig seien,
und welche Nachteile es hätte, wenn sie aus knöcherner oder fleischiger
Substanz beständen, und spricht über den Nutzen, welchen die Buchten
und Biegungen, sowie die Unbeweglichkeit oder geringe Beweglichkeit
des menschlichen Ohres mit sich brächten. Wären die Ohren des Men-
schen so groß wie z. B. bei Pferden, Eseln, Hunden und anderen Tieren,
die große Ohren besitzen, so müßte dies zu großen Unbequemlichkeiten
führen, da die Kopfbedeckung durch Hüte, Helme u. a. erschwert wäre1).
Die Teile des Schläfenbeins finden sich im Buche „De ossibus ad
tirones" sehr dürftig beschrieben 2), doch erwähnt er bereits den Warzen-
fortsatz, den Proc. styloideus und zygomaticus.
Vom Trommelfell scheint Galen kaum eine auf Anatomie basierte
Vorstellung gehabt zu haben3). Der äußere Gehörgang erstreckt sich
nach ihm bis zur Dura mater und tritt mit dem Hörnerven in Berührung4),
welcher durch die zwischen dem Gehörgang und dem Nerven liegende
harte Knochenmasse gegen die Wirkung zu starken Schalles geschützt
wird. Von seiner krassen Unkenntnis der Ohranatomie zeugt seine An-
sicht, daß er die vor dem Nerv liegenden Teile des Gehörorgans mit
der Kristallfeuchtigkeit des Auges vergleicht 5).
Die einzige positive Leistung der Galenischen Ohranatomie be-
steht in der Unterscheidung des Gehör- und Antlitznervs, die als Zweige
des von Marin us ,J), dem Lehrer Galens, aufgestellten fünften Nerven-
paares gedacht sind, und die Beschreibung des Verlaufs des N. facialis.
Die eigentliche Ausbreitung des N. acusticus vermochte Galen jedoch
nicht festzustellen. Was den Verlauf des Facialis anbetrifft, so wußte
Galen, daß dieser Nerv nach dem Eintritt in den inneren Gehörgang,
den die Alten das blinde Loch (Foramen coecum) nannten, durch einen
für ihn bestimmten gekrümmten knöchernen Kanal zieht, um dann aus
dem Griffelloche hervorzutreten 7).
Das innere Ohr, dessen einzelne Teile ihm als unentwirrbar erschienen,
wird, wie schon erwähnt, mit einem Labyrinth verglichen 8).
Zu den oben mitgeteilten physiologischen Bemerkungen wollen wil-
der Vollständigkeit halber noch hinzufügen, daß Galen durch das be-
28 Galen.
kannte Beispiel Hadrians, der wegen Schwerhörigkeit die hohle Hand
hinter dem Ohre zu halten pflegte, den Nutzen der Ohrmuschel für die
Schallaufnahme illustriert 9). Aufgabe des Gehörnervs, der weder zu den
harten, noch weichen Nerven gehöre, sei es, die Schalleindrücke zum
Gehirn fortzuleiten 10). Am zuträglichsten für das Ohr ist die mensch-
liche Stimme und Sprache11).
Pathologie. Die Ohrkrankheiten werden von Galen in fünf Klassen
eingeteilt: 'ikaXyia, auris dolor; BapOYjXofa, auditus gravitas; Kw'f&atc, sur-
ditas; Ilapaxooots, obauditio; ITa(oaxo6a;iaTa, auditus hallucinationes*) 12).
Wie Hippokrates, beobachtete auch Galen eitrige Ohrentzündungen
bei Infektionskrankheiten. An einer anderen Stelle spricht er von den
Ohrenschmerzen (ex frigiditate, ex aqua medicata, ex inflammatione,
ex flatulento spiritu aut crassis et viscosis humoribus), von Ohr-
geschwüren, Schwerhörigkeit und 0 h r e n k 1 i n g e n 1 3). Schwer-
hörigkeit und Taubheit können durch eine L'äsion des Gehörorgans selbst
oder des Hörnervs oder endlich durch eine Läsion des Ursprungs des Hör-
nerven im Gehirne bedingt sein. Aus einer Bemerkung Galens scheint
hervorzugehen, daß die mit Facialparalyse komplizierten Hörstörungen
seiner Beobachtung nicht entgangen sind und er erwähnt auch die dabei
zuweilen auftretende Sensibilitätsstörung an der betreffenden Gesichtshälfte.
Therapie14). Das wichtigste Grundgesetz ist nach Galen, in
jedem Fall zu individualisieren, ein Prinzip, das die meisten Aerzte vor
Galen aufs gröblichste verletzten. Zu einer rationellen Behandlungs-
weise könne man nach Galen nur gelangen, wenn man immer die das
Leiden bedingende Ursache berücksichtige. Die Beseitigung der krank-
haften Symptome geschieht durch Anwendung des Gegensatzes, d. h.
Hitze soll durch Kälte, Kälte durch Hitze, Trockenheit durch Anfeuch-
tung u. s. w. überwunden werden.
Ein anderes wichtiges Gesetz, welches Galen aufstellte, ist die mög-
lichste Vermeidung der Narkotika, namentlich des Opiums, das er nur in den
dringendsten Fällen anwendet, weil es die Sinne abstumpfe und schwäche ; auch
solle man stets von den mildesten Mitteln allmählich zu stärkeren ansteigen.
Die meist öligen Mittel wurden mit löffeiförmigen Instrumenten
und stets warm ins Ohr gebracht. Bemerkenswert ist auch der Rat,
bei entzündlichem Ohrenschmerz das Ohr nicht zu berühren und nach dem
Einträufeln mit Wolle zu verstopfen. Von Instrumenten waren die
Ohrsonde, [tTjXwus, [WjXy] s£wtcc;, [MjXwcpis (specillum auriculare), der Ohr-
*) In der Schrift raXiqvoü elaocfürp] •?) '.'/xpö?, Galeno ascripta introductio seu
raedicus, eine der zweifelhaften Galenischen Schriften, werden angeführt : Quetschung
der Ohren (4j rceptd-Xasig), Anschwellung (tö izxzp''r;oni.a), Bruch des Knorpels, Ueberschuß
oder Mangel des Ohrenschmalzes (•<-, xö^eXi'?), Schwerhörigkeit (4) JiapuYptoic*). Taubheit
■ri xuVf (»-•.<;), Eiterausfluß (jiuoüpusic), übelriechender Ausfluß (p^üu.« fo-üosq). Cap. 15.
Galen. 29
löffel, (OTOfXo^i?, (auriscalpium), die Pinzette, Xaßtc, volsella, und die Ohr-
spritze, 6 wr.xö- xXoarqp, wTrfyur/]? , clyster auricularis, zur Applikation
von Medikamenten in Anwendung-.
Spezielle Therapie. Bei Ohre nsch merz infolge von Erkäl-
tung empfiehlt Galen erwärmende Mittel. Mit Vorliebe benützt er
Wolfsmilch oder Pfeffer mit altem Oel vermischt, desgleichen Narden,
Rauten oder Majoranöl. Landleute pflegen, wie er sagt, sich des Oels
zu bedienen, in welchem Zwiebel gebraten worden sind.
Bei entzündlichem Ohren seh merz kommen fette oder ölige
Mittel in Betracht, wie Rosen- oder Nardenöl, Gänse- und Hühnerfett
und bei sehr heftigen Schmerzen ausnahmsweise Opium in Milch und
Eiweiß, mit oder ohne Zusatz von Bibergeil, oder Opium in Most gelöst,
welch letzterer mehr schmerzlindernd wirken soll als süßer Wein.
Gegen 0 h r e n s c h m e r z , der durch Ansam mlung von Dünsten
und zähen Feuchtigkeiten veranlaßt ist, empfiehlt er zweckmäßige Diät,
innere Mittel, welche geeignet sind, lösend zu wirken, und örtlich Pastillen
oder Kollyrium, aus verschiedenen Substanzen hergestellt, unter denen
z. B. Salpeter, ausgewittertes Kali, Zimt, Kassia, Natterwurz, Zaunrübe,
Tausendguldenkraut u. a. aufgezählt werden.
Gegen Geschwüre verwendete er Zubereitungen aus Glaucium
und Essig. Kollyrien aus Krokus und Rosen, aus Myrrhe, Galläpfel, Eisen-
rost, Alaun u. a. m. Von chirurgischem Interesse ist sein Vorschlag, bei
Karies des Gehörgangs hinter dem Ohre einen Einschnitt zu machen und
durch diesen die kariöse Stelle auszuschaben. (De comp. sec. loc, Lib. III.)
Zur Extraktion von Fremdkörpern wurden mit klebriger
Harzwolle überzogene Ohrlöffel angewendet und aufgequollene Körper
(Bohnen, Erbsen) mit einer Spatel zerstückelt und dann entfernt.
Erwähnenswert ist die bereits von Galen beobachtete Tatsache,
daß bei Ohreiterungen der Eiter oft plötzlich ins Gehirn vordringe und
die Veranlassung eines Schlagflusses (apoplexia) werde*).
Gegen Ohrwürmer bedient er sich der Einblasung von gepul-
verter, weißer Nieswurz oder der Einträufelung von Brombeersaft u. a.
Die Therapie bei subjektiven Oh rge rauschen bestand in der
Abstumpfung der Empfindlichkeit durch Opium oder Mandragorasaft oder
in der Anwendung von zerteilenden Mitteln.
Sehr reichhaltig ist die Behandlungsweise Galens bei Schwer-
hörigkeit und Taubheit, wobei er vorwiegend das ursächliche Moment
berücksichtigt. Dahin gehört eine verdünnende Diät, Purganzen, Kaumittel
und örtliche Medikamente, welche dicke und zähe Säfte verdünnenund auflösen.
*) Nicolai Nicoli Florentini philosophi medicique praestantissimi Sermo tertius
de membris capitis. Track VI. De aegritudinibus aurium. Cap. IV. De apostemate
auris p. 207. Venetiis 1533.
30 Galen.
Zum Schlüsse überliefert er uns die therapeutischen Vorschriften einer
Reihe von Aerzten, über die wir im vorigen Abschnitt bereits berichtet haben.
Galens Therapie wurde zwar in den folgenden Jahrhunderten
wesentlich erweitert, jedoch nicht rationeller gestaltet. Der gesunde
Kern seiner Ansichten ist im Gegenteil durch einen Wust von Aber-
glauben und planloser Empirie verhüllt worden. Galens anatomische
Kenntnisse, die durch Jahrhunderte als feststehende Tatsachen anerkannt
waren, haben erst im 16. Jahrhundert durch den Aufschwung der ana-
tomischen Wissenschaft in Italien die richtige Korrektur erfahren.
Aus der nachgalenischen Epoche sind noch anzuführen: Antyllus, der be-
rühmte Chirurg; Philumenus (3. Jahrh. n. Chr.) und Caelius Aurelianus
(5. Jahrh. n. Chr.). von dem gute Beobachtungen der Symptome und Stadien der
akuten Trommelhöhlenentzündung herrühren. Caelius Aurelianus fand, daß bei lang-
dauernder Eiterung der Knochen ergriffen wird und sagt, daß bei Otalgie die eigene
Stimme den Schmerz steigert. (De rnorb. acut, et chron.. Lib. VIII.) Utendum etiam
requie corporis atque abstinentia et silentio suo. Etenim officio aeeepta voce aures
necessario commoventur. et propterea maiores dolores efficiuntur. Zur Abtötung von
Insekten, welche in den Gehörgang eingedrungen waren, empfahl er Speichel von
einem nüchternen Mensehen. Erwähnt seien noch Marcellus Empiricus (4. Jahrh.)
und Cassius Felix (5. Jahrh. n. Chr.), welche sich in ihren Schriften mit Ohr-
erkrankungen befaßten. Philagrios, ein alexandrinischer Arzt irn 4. Jahrh. n. Chr..
der bei Taubheit, falls sich keine andere Ursache feststellen ließ, eine Nervenver-
letzung annahm. (Vergl. Kühn, Bibliotheca medica. 1794.)
') De usu part. Lib. XI, Cap. 12. Nam si durae penitus aeque ac ossa
essent, aut molles ut carnes, duorum alterum necessario aeeideret, aut enim rum-
perentur facile, aut omnino contunderentur. Ob eam sane causam cartilaginosae
extiterunt ... At hominibus magnitudo tanta esset incommoda, dum caput pileis,
aut galeis, aut aliis id genus tegere vellent, quod non raro erant facturi . . .
Merito igitur aut nihil omnino in hominibus moventur, aut exiguum quendam atque
obscurum habent motum.
2) De ossibus ad tirones. Cap. I.
3) De usu part. Lib. VIII, Cap. VI.
4) Method. medendi. Lib. VI.
5) De Symptom, causis. Lib. I, Cap. III.
6) De nervorum dissectione. Cap. IV.
7) De usu partium. Lib. VIII, Cap. VI: Ad aures sane descendere etiam
omnino propaginem quandam a cerebro erat necesse, sensibile extrinsecus oecursurum
excepturam . . .
8) De nervorum dissectione. Cap. IV.
9) De usu part. Lib. XI, Cap. XII. Cujus rei Hadrianus Romanorum consul
testis est locupletissimus, qui, quuni sensum hunc laesum haberet, manus cavas, quo
audiret facilius, a posterioribus ad anteriore speetantes auribus obtendebat.
10) De Symptom, causis. Lib. I, Cap. VI.
n) Ibidem.
''-') De Symptom, causis. Lib. I, Cap. VI.
13) De compos. medicam. sec. loc. Lib. III, Cap. T.
,4) Ibidem.
Die Otiatrie im Mittelalter.
a) Die Byzantiner.
Dem verdienstvollen Wirken Galen s folgen Jahrhunderte trostloser
< >ede und Verfalls, in denen wir umsonst nach einem Fortschritt in der
Medizin überhaupt und noch weniger in der Otologie suchen. Erst im
6. Jahrhundert treten Männer auf den Plan, die sich als Therapeuten und
Chirurgen bleibenden Ruhm erwarben und auch die Otologie in den Kreis
ihrer Beobachtungen zogen. Es sind dies Alexander von Tr alles,
Aetius und Paul von Aegina, von denen ersterer vorwiegend in
arzneilicher, letzterer in chirurgischer Beziehung, unser Interesse be-
sonders in Anspruch nimmt. Ihre Werke waren die letzten Blüten der
alexandrinischen Heilwissenschaft und dienten, gleich denen des Galen
und Aetius, dem Eklektizismus aller späteren Aerzte zur Folie.
Das Werk des Alexander Trallianus hat für die Geschicht-
schreibung den hohen Wert, daß es nicht nur die Bedeutung ihres Autors,
sondern auch die Bedeutung einer ganzen Kulturepoche der Vergessen-
heit entriß. Seine Werke entrollen uns ein Bild des ärztlichen Wissens
der spätalexandrinischen Kulturepoche, deren Nachwirkung entstellt und
verstümmelt in der arabischen, arabistischen und scholastischen Medizin
Jahrhunderte hindurch zu spüren ist.
Bei der spärlichen Anzahl von Quellen, über welche die Geschichte
der Ohrenheilkunde verfügt, sind die Bücher Alexanders von beson-
derer Wichtigkeit und überraschen durch die Fülle ihres Inhalts auf
diesem Gebiete, der als Gradmesser des otiatrischen Wissens weiter Zeit-
räume angesehen werden muß.
Alexander von Tralles
(525—605 n. Chr.).
Alexander wurde zur Zeit des Kaisers Justinians in der lydi-
schen Stadt Tralles als Sohn des angesehenen Arztes Stephan us ge-
boren. Seine Brüder, in anderer Richtung noch berühmter als er, waren
Anthemius, der Erbauer der Sophienkirche in Konstantinopel, Metro-
dorus, ein hervorragender Grammatiker, Olympius, ein trefflicher Jurist,
und Dioskorus, ein ausgezeichneter Arzt. Alexander erweiterte die
:,_' Alexander von Tralles.
reichen medizinischen Kenntnisse, die er sich durch den Unterricht seines
Vaters und des Vaters seines Freundes Cosmas erworben, auf Reisen nach
Italien, Afrika, Gallien und Spanien, indem er überall ohne Vorurteil das
ihm richtig Scheinende aus Theorie und Praxis aufnahm. Später wirkte
er als Archiater oder als Lehrer in Rom und hinterließ der Nachwelt
seine im Greisenalter aufgezeichneten Erfahrungen , ein Denkmal be-
wunderungswürdigen, wissenschaftliehen Strebens, das, wie Meyer sagt,
an Dauerbarkeit und Glanz wetteifert mit dem herrlichen Tempel seines
ältesten Bruders. Obwohl Alexander die Schriften seiner Vorgänger
benützt und oft zitiert, wußte er sich auch gegenüber der damals herr-
schenden blinden Autorität Galens eine große Selbständigkeit des Urteils
zu bewahren.
Das Wirken Alexanders wurde von vielen medizinischen Geschichts-
forschern*) gewürdigt, am gründlichsten und mit den weit besten Aus-
blicken jedoch durch den leider zu früh dahingeschiedenen Prof. Pusch-
mann zu der ihm gebührenden Anerkennung gebracht.
So groß aber auch die Verdienste Alexanders um die Förderung
anderer medizinischer Disziplinen, z. B. der Ophthalmologie, sein mögen,
so befremdlich erscheint uns, nach unseren heutigen Anschauungen,
seine Pathologie und Therapie der Ohrenkrankheiten, abgesehen von einer
Anzahl treffender Bemerkungen, die den scharfsinnigen Beobachter ver-
raten. Ueber seine Otiatrie, die den Inhalt des 3. Buches (Kap. 1 — 7)
seines therapeutischen Werkes bildet1) äußert sich Puschmann folgender-
maßen: „Erfreulicherweise liefert gerade dieser Teil, der sonst von an-
deren Autoren mit einer gewissen Nachlässigkeit behandelt wird, ein
treffliches Zeugnis für die praktische Erfahrung sowohl, wie für die litera-
rischen Kenntnisse Alexanders."
Die pathologischen Begriffe, unter denen er seine Erfahrungen
subsumiert, sind: 1. der Ohrenschmerz, 2. die Ohrentzündung, 3. der
katarrhalische Ohrenschmerz, 4. Ohrensausen, 5. Schwerhörigkeit und
Taubheit.
Als Ursachen des Ohrenschmerzes führt er Dyskrasien , Ent-
zündungen, Verstopfungen, Kälte oder Hitze an. Die wissenschaftliche
Differentialdiagnose wird nun folgendermaßen gemacht: „Die Vermutung,
daß der Schmerz hauptsächlich von der Verstopfung zu dicker und zäher
Säfte herrührt, ist wissenschaftlich dann berechtigt, wenn der Kranke
das Gefühl der Schwere im Kopfe hat, und wenn die genossenen Speisen
und Getränke zu kalte und feuchte Säfte zu erzeugen geeignet waren.
Sollte Spannung vorhanden sein und der Kranke dabei durchaus keine
Schwere im Kopfe oder in den Ohren fühlen, so ist es klar, daß blähende,
*) Dimitriades 1. c.
Alexander von Tralles. 33
dicke Luft, die keinen Ausweg finden kann, hauptsächlich die Ursache
des Schmerzes bildet. Wenn jedoch das Gefühl der Schwere und Span-
nung mit Hitze und klopfenden Schmerzen verbunden ist, so darf man
mit Sicherheit annehmen, daß dem Schmerze Entzündung zu Grunde liege,
welche durch den Zufluß erhitzten Blutes hervorgebracht ist."
Der Sitz einer Entzündung des Gehörorgans ist nach Alexander
bald in der den Gehörgang auskleidenden Haut, bald in dem in der Tiefe
verlaufenden Gehörnerv zu suchen. Manchmal führe dieser Zustand, ver-
möge der nachbarlichen Beziehung des Ohres zum Gehirn, sogar den
Tod herbei, sei es durch Fieber, Wahnsinn oder ein krampfartiges Leiden.
Bei jüngeren Personen komme es nicht so rasch zur Eiterung, weil die
Heftigkeit des Schmerzes die Eiterbildung vereitle.
Sobald jedoch die Entzündung in Eiterung überzugehen droht, wür-
den die Kranken vom Schmerze befreit und fänden Heilung. Chronische
Otorrhoen gehen nach ihm vom Gehirne aus. Der Entzündung stehen
die katarrhalischen Schmerzen nahe.
Blutungen aus den Ohren können Zeichen der Krise sein oder
Vorläufer schwerer Krankheiten. Sie sind als gefährliches Symptom an-
zusehen (Dimitriades, 1. c).
Das Ohrensausen entsteht durch blähende dicke Luft, die keinen
Ausweg finden kann, oder durch zähe, dicke Säfte. Im ersteren Falle
ist es bald vorhanden, bald wieder verschwunden, im letzteren Falle
dagegen tritt es nicht plötzlich ein, sondern nimmt allmählich zu. Zu-
weilen beruht es auf einer Schwäche, wie sie nach Krankheiten zurück-
bleibt, oder auf einer reizbaren Empfindlichkeit des Gehörsinns, wobei
die Kranken die Dämpfe nach oben steigen fühlen. Manchmal hat das
Ohrensausen kritische Bedeutung oder begleitet Krankheiten des Gehirns.
Der Verlust des Gehörs ist entweder mit Fieber verbunden oder
entwickelt sich ohne dieses. Heilbar, meint Alexander, sei die Taub-
heit dann, wenn sie von der Galle herrühre, die nach oben gestiegen ist.
Schwer oder gar nicht zu beseitigen sei sie dagegen in jenen Fällen, in
denen sie von zähen und zu dicken Säften verursacht wird, die sich aufs
Gehör geworfen haben, z. B. bei der Schlafsucht, der Betäubung, dem
chronischen Kopfschmerz und anderen Leiden. Außer, den genannten
pathologischen Zuständen führt er an : Fremdkörper, Würmer und Schmutz
in den Ohren.
Die Therapie Alexanders zeichnet sich durch große Reich-
haltigkeit aus und basiert anscheinend auf strenger Indikationsstellung.
Freilich rationell würde sie nur sein können, wenn die Pathologie auch
eine anatomische Grundlage statt der spekulativ humoralpathologischen
besessen hätte. Immerhin unterscheidet sie sich durch die Methodik vor-
teilhaft von der späterer Autoren.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1.
34 Alexander von Tralles.
Wie sehr Alexander auf Gründlichkeit bedacht war, beweist die
Vorsicht, die er bei Anwendung des Opiums anriet, welches zu jener
Zeit bei Ohrenschmerz aller Art vielfach mißbraucht wurde. Nach
Alexander darf es nur ein- oder zweimal angewendet werden, da ihm
Kranke bekannt sind, die durch Opium die Sprache und die Empfindung
verloren haben. Statt des Opiums empfiehlt er mit Vorliebe das Bibergeil.
Eine strikte Diät ist nach ihm oft das alleinige Heilmittel. So soll
man bei Ohrenschmerz, der durch Entzündung hervorgerufen ist, die
gallenartigen Bestandteile durch passende Nahrung unschädlich machen
und u. a. Lattich, Gurken, Endivien, Melonen, Aepfel, Malven, Fische
mit hartem Fleisch und Speisen, welche die galligen und heißen Säfte
umwandeln, verordnen.
Bei katarrhalischen Schmerzen findet er es irrationell, frühzeitig zu
örtlichen Mitteln zu greifen. Vielmehr seien bei plethorischen Kranken
Bäder und Schröpfköpfe auf das Hinterhaupt, bei Schwächlichen milde
Diät, Ruhe, Bäder und schlaferzeugende Mittel (Mohn) indiziert. Bei
Entzündung, die durch Zufluß erhitzten Blutes verursacht ist, verschmäht
er auch den Aderlaß nicht. Eigentümlich erscheint uns seine Therapie
bei jenen Fällen von Schwerhörigkeit und Taubheit, die fieberhafte
Krankheiten begleiten und nach seiner Anschauung von der nach oben
gestiegenen Galle herrühren. Hier rät er Reinigung des Unterleibs
durch Julianischen Essigmet, Purgiersalze die Euphorbiumharz ent-
halten u. a. Ist der Leib entleert, so soll man zu Medikamenten über-
gehen, die den Schleim beseitigen und die Nase reinigen. Dazu rechnet
er Gurgelmittel, die aus Senf und Läusekraut zusammengesetzt sind,
oder Niesmittel, welche aus Pfeffer, Seifenkraut, weißer Nieswurz
und Hahnenfußkraut bestehen und fein gepulvert mit dem Saft der
Cyklamen und Honig vermengt in die Nase geblasen werden. Dieses
Medikament befreie in vortrefflicher Weise den Kopf von der Menge
der ihn belästigenden Stoffe.
Von der großen Anzahl der Mittel, die gegen die fieberlos ent-
stehende Schwerhörigkeit und Taubheit angewendet wurden, hält er nicht
viel, doch „wenn auch in schwereren Krankheiten die meisten Mittel
keinen nennenswerten Erfolg zu haben scheinen, so muß man trotzdem
darüber nachdenken und darf mit der Hilfe nicht säumen und nichts
unterlassen; denn nicht selten verläuft etwas günstig wider Erwarten".
Solche Mittel waren z. B. der Saft des Kellerassels, Brechmittel die
Nieswurz enthalten, Seebäder, Blutegel, Senfpflaster, Hautabreibungen,
Arteriotomie. Besonders erwähnenswert aber ist die Mitteilung Alexan-
ders, manche Aerzte hätten versucht, dem Uebel durch akustische
Instrumente und Hörrohre, beizukommen. Ja, man scheint bei Taub-
stummen und Schwerhörigen Hör Übungen versucht zu haben, deren
Alexander von Tralles. 35
Nutzlosigkeit freilich daraus hervorgeht, daß sie wieder verlassen
wurden und in Vergessenheit gerieten, um zu Ende des 19. Jahr-
hunderts wiederholt als neue Methode mit überschwenglicher Anpreisung
neuerdings aufzutauchen und nach großen Enttäuschungen wieder auf-
gegeben zu werden. Die betreffende Stelle in Alexander von Tralles
lautet: „Manche2) Aerzte haben nicht bloß diese Mittel verordnet, son-
dern nachher noch die Arteriotomie vorgenommen und dann eine Trom-
pete genommen, das Ende derselben an den Gehörgang gesetzt und ge-
blasen. Andere haben mit großen Schellen Lärm gemacht, und noch
andere haben selbsterfundene Instrumente dazu benutzt."
Zur Charakterisierung der symptomatischen Therapie seines Zeit-
alters sei hier nur angeführt: das Ausspülen der Ohren mit Essig, Honig
und Natron bei Ohrensausen, die warme Einträufelung von in Essig
zerriebenem Bibergeil und Schierlingsamen bei Ohrenklingen, das
Einstreichen einer aus Kardamomsamen, Natron und Feigen bereiteten
Salbe in den Gehörgang zur Beseitigung des Ohrenschmutzes, das
Eingießen des warmen Saftes von Rebhühnerkraut bei 0 h r b 1 u t u n g e n etc.
Ist Wasser in das Ohr gedrungen, so läßt er den Kranken auf dem
Fuße der leidenden Seite hüpfen, wobei er sich nach der nämlichen Seite
abwärts neigen muß. Ins Ohr gedrungene Fremdkörper, die oft
Krämpfe erzeugen und, wenn sie nicht herauseitern, den Tod herbei-
führen, entfernte er wie Galen mit dem Ohrlöffel, den er mit Wolle
umwickelt und in Terpentinharz oder einen anderen leimartigen Stoff
taucht. Indem er dann Niesen erregt und dabei Mund und Nase schließen
läßt, hofft er, daß durch die im Innern des Ohres erzeugte Spannung der
Luft der fremde Körper nach außen getrieben und die Extraktion des-
selben erleichtert wird, oder er spritzt Flüssigkeit ein und sucht den ein-
gedrungenen Körper mit der Haarzange herauszuholen. Andere Aerzte,
erzählt Alexander, haben den Fremdkörper durch Saugen an einem in
die ( )liröffnung gesetzten Rohre entfernt. Durch Einspritzung scharfer oder
narkotischer Substanzen versuchte er Würmer im Ohre zu töten ( Wermut,
Bergminze, Nieswurz, Essig). Sehr reich ist die Behandlungsart Alexan-
ders bei Ohrenschmerz, wobei er nach den oben erwähnten pathologischen
Gesichtspunkten verfährt. Im ganzen und großen schließt er sich hierbei
Galen an, doch hält er sich z. B. bei der Therapie des entzündlichen
Ohrenschmerzes nicht völlig an dessen Vorschriften, sondern empfiehlt
Bähungen mit in warmes Wasser getauchten Schwämmen, oder mit
Wasserdampf, der aus einem Gefäß durch eine Röhre ins Ohr geleitet
wird, ein Verfahren, das sich als Volksmittel bis zum heutigen Tage
erhalten hat.
Von der großen Anzahl der Mittel wollen wir kurz einige erwähnen:
a) Pflanzliche: Nieswurzpulver, Opium, Safran, Pfeffer, Knob-
3t) Aetius.
lauch, Lorbeer, Zwiebel, Saft des Nachtschattens, des Korianders, des
Asphodills, der Zehnvurz, Haselwurz, Zaunrübe, des Mangolds, ver-
schiedene Oele, die als Konstituentia verwendet wurden, wie Mandel-,
Irisöl, Harze, Ysop etc.
b) Mineralische: Bleiglätte, Bleiweiß, Metallschlacke, geschabter
Grünspan, kohlensaures Natron etc.
c) Animalische: Frauenmilch, Hühnerfett, Gänsefett, Harn vom Eber,
Bibergeil, Honig, Wachs, gekochte Heroldschnecken, Kellerwürmer, Regen-
würmer.
Von Instrumenten kommen vor: der Ohrlöffel, die Haarzange; außer-
dem empfiehlt er einigemal einen mit öligen Mitteln durchtränkten
Lampendocht in den Gehörgang zu legen.
Von großem Wert ist die erneute Vorschrift, nichts Kaltes, sondern
nur Erwärmtes in den Gehörgang zu bringen.
Bei Verletzungen und Entzündungen der Ohrmuschel wandte Ale-
xander von Tr alles erweichende Kataplasmen an und wiederholte
das Verbot des Hippokrates, feste Verbände anzulegen.
') Alexander von Tralles, Originaltext und Uebersetzung nebst einer ein-
leitenden Abhandlung von Dr. Th. Puschniann, 3 Bde. Wien 1878.
2) Bd. II, p. 105, 1. c. ('AXsSavopoo TpaXXiavoü ßißXiov tpttov xe^. g' ^epi xacpco-sw^):
xive$ 8s oo [xovov xooxoi?, &XXa xai apxv]pcoxo|jua? Baxepov itpo3"»jveY*«v v.al odXjWYf*
rcpo jö-svxsi; , sl<; xö axpov x-?]«; adtXrciYY0? T0V köoov xyjc av.ort<; •9'Evxs?, ouxw v.ax-rj6X-r(~uv,
'zXzC/o: 8s (j.sxä fievöcXtuv y.cuocövwv ev.x6ji:y(-«v %a: SXXot gT/.'/.üjc s^pYjoavto rcpo^eÄtvooövcec
Aetius
(530 n. Chr.)
Aetius von Amida, Leibarzt und Oberstkämmerer Justinians I.
in Byzanz , aus der alexandrinischen Schule hervorgegangen , galt unter
den Nachfolgern Galens durch lange Zeit als erste Autorität. Seine
Pathologie ist völlig dem Galen entnommen; neu ist nur die Erwähnung
der Ohrpolypen. Seine Therapie der Ohrerkrankungen ist ebenso
kompliziert wie die seiner Vorgänger. So verwendete er bei Ohren-
schmerz „ex frigiditate" warme Umschläge, warme Dämpfe von
mit Wasser gekochtem Absinth als Narkotikum, Frauenmilch gemischt
mit Eiweiß, Oel mit Wolfsmilch oder feinst zerstoßenen Pfeffer mit Wein;
gegen Ohrentzündung Honig, Wein, Nuß- oder Mandelöl, Gänsefett,
Myrrhe mit Alaun und Essig, Fischgalle u. a. Bei Ohren schmerz durch
Eindringen von Wasser ins Ohr empfiehlt er das Aussaugen mittels
einer Röhre. Bei Ohreiterung empfahl er zunächst Reinigung des
Ohrs durch einen mit Wolle umwickelten Ohrlöffel, sodann Ausspülungen
mit Wasser und Wein oder Essig, Honig mit Wein, endlich Sal-
peter oder Alaun, gelöst in Honig und Rosenöl, auf Wolle appliziert;
Paulus von Aegina. 37
gegen profuse Otorrkoen fein gepulverten Eisenrost mit Essig. Das
Ohrentönen bei fieberhaften Krankheiten betrachtete Aetius als un-
günstiges Symptom und erklärt es als Folge des Zuflusses blähender
Dämpfe und zu großer Sensibilität des Ohres.
Um verhärtetes Ohrenschmalz zu beseitigen , versuchte er , es
zunächst durch eine Auflösung von Salpeter in Essig zu erweichen
und hierauf mit einem Ohrlöffel zu entfernen. Zur Entfernung von
Fremdkörpern, die oft Kopf- und Zahnschmerz verursachen, benutzte
er mannigfach geformte Instrumente und mit klebenden Stoffen bestrichene
Sonden.
Beträchtlich ist die Anzahl der absonderlichen Mittel, welche er
zur Behandlung der S chwerhörigkeit und Taubheit empfiehlt, die
er zumeist auf Ansammlung von dicken und zähen Säften zurückführt.
Dahin gehören Purganzen, Gurgel- und Niesmittel, ölige Einreibungen
auf den geschorenen Kopf, örtliche Dämpfe von verschiedenen Dekokten,
Einträufelungen von Lauchsaft, Essig, Rindsurin, Ziegenurin (am besten
der Blase einer frischgeschlachteten Ziege entnommen und in einem Ge-
fäße durch 9 Tage zur Eindickung dem Rauch ausgesetzt) , ferner ver-
schiedene Mittel, deren Bestandteile: Nieswurz, Nasturtium, Origanum,
Ysop, Lorbeerblätter, Bibergeil u. a. waren, in Form von Eingüssen
oder Fomenten.
*) Aetii Medici Graeci Contractae ex veteribus Medicis Tetrabiblos. Prim.
Serm. I u. IT u. III. cap. 139; Secund. Serm. I, cap. 12 D, 121, Serm. II, cap. 73—87.
Paulus von Aegina
(Mitte des 7. Jahrhunderts n. Ch.)
Den letzten Lichtpunkt in der Geschichte der alexandrinischen
Schule bildet Paul von Aegina, dem in chirurgischer Beziehung eine
besondere Bedeutung zukommt. Seine Lehrmeinungen tragen den Stempel
der einfachen, klaren, nüchternen Beobachtungsgabe, wie sie den Hippo-
kratikern eigen war. Alle späteren Aerzte schöpften direkt oder indirekt
aus seinen Werken. Seine uns interessierenden chirurgischen otiatri-
schen Leistungen1) übertreffen weitaus diejenigen des Alexander.
Er beschreibt die Atresien des Gehörgangs und unterscheidet ober-
tliicliliche und tiefe, die er als angeborene oder durch Geschwürs-
prozesse (Granulations Wucherungen) entstandene differenziert. Die ersteren
ließ er mit dem Skolopomachairion (tö axoXo-oa777.iv.ov = Spitzbisturi)
inzidieren, bei den tiefen, deren Prognose eine zweifelhafte ist, empfiehlt
er die Inzision mit einem schmalen und spitzen Messerchen. Polypen
des Gehörgangs entfernte er mit dem „Pterygotom" oder der „Spatha
polypica", worauf eine mit austrocknenden Pulvern bestreute Wieke
38 Paulus von Aegina.
zum Auseinanderhalten der Ränder eingelegt wurde. Bei der Operation
auftretende Blutungen wurden mit Schwämmen gestillt, die in kaltes
Wasser getaucht wurden. Mit einem Aufwand besonderer chirurgischer
Geschicklichkeit ging Paul bei den Versuchen, Fremdkörper aus dem
Ohre zu entfernen, vor. Hier bediente er sich mannigfacher Instrumente,
nebst Sonden und Häkchen auch der Pinzetten und der schon von
Alexander angeführten Saugröhrchen. Wenn die Herausnahme der
Fremdkörper, welche er in solche teilt, die ihre Größe beibehalten
(Steine , Glasstücke , Insekten) , in solche , die aufquellen (wie Bohnen,
Johannisbrotkörner), und in flüssige, nicht durch instrumentellen Eingriff
gelingt, wobei er auch Niesmittel bei Verschließen von Mund und Nase
anwendet, so greift er zum ultimum refugium: halbmondförmige Inzision
hinter der Ohrmuschel und Ablösung des hinteren oberen Abschnittes
des membranösen Gehörganges vom knöchernen Teile, ein Verfahren,
das in schwierigen Fällen auch heute geübt wird. Zur Behandlung der
Kontusionen der Ohrmuschel sind nach ihm keine Arzneimittel nötig,
doch müsse man, um dem Wunsche des Kranken zu entsprechen, einiges
anwenden.
Die nüchterne, rationelle Denkweise des Paulus äußert sich auch
darin, daß er die angeborenen und inveterierten Formen der Taubheit
für schwer heilbar oder unheilbar erklärt. Hingegen beweist seine An-
sieht, durch „Aufsteigen der Galle" veranlaßte Fälle könnten durch
Gallagoga beseitigt werden, aber auch spontan heilen, daß er sich
von der Ueberlieferung seiner Vorgänger nicht gänzlich zu befreien
vermochte.
Die sonst verwendeten Mittel Paulus' sind ebenso zahlreich wie die
seiner Vorgänger. Gegen Ohrenschmerzen empfiehlt er Einträufelungen
von Ol. pegami, Ol. nardi, Ol. lauri, Amarconöl oder Oel in welchem
Zwiebel oder Knoblauch gekocht wurden. Zur Austrocknung fließender
Ohren empfahl er Einlage von mit Alaun bestreuter Wolle oder Destil-
lation mit altem Wein, Gans- oder Fuchsfett, bei hartnäckigen Otorrhoen
Weinhonig, Essighonig, Absud von Linsen oder Rosen, gegen Ohrwürmer
Ausspülung mit Abkochungen von Wermut, Lauch, Centaurium etc.
Die Gicht beruht nach Paulus auf einer Schwäche der Gelenke
und dem Vorhandensein eines Krankheitsstoffes, der bei unzweckmäßiger
Lebensweise sich wie in anderen Organen auch in den Ohren absetzen
kann (III, 78).
Paul von Aegina, Alexander von Tr alles und Aetius
bilden nebst Galen nicht bloß die Quelle für alle späteren byzantini-
schen Aerzte, sondern diese kopierten mehr oder minder sklavisch die
Werke jener Autoren, ohne, von geringfügiger Kommentierung abge-
sehen, selbst etwas zu leisten. Das gilt für Theodorus Pr iscian us,
Die Araber. 39
Leo2), Theophanus Nonnos*)3), der fast wörtlich die otologischen
Kapitel des Trallianus abschrieb, fürActuarius oder Myrepsus4),
der zur Entfernung der Ohrpolypen statt der chirurgischen Methode
Pastillen aus Grünspan, Alaun und Essig verordnete.
Das Erbe der hellenisch -römischen Heilwissenschaft hatten in-
zwischen schon die Araber angetreten.
!) Pauli Aeginetae Medici Opera. De arte medendi. Lib. I, cap. 12; Lib. III,
cap. 23, 24.
2) Suvo^t; iatpix-«] (Conspectus niedicinae) in Errnerius, Anecdota media Graeca.
Lugduni Batavoruni 1840. Lib. IV.
3) Theophanis Nonni epitome de curatione morborum. Gothae et Amstel.
1794. Tom. I, c. 74—90.
*) Nicolai Myrepsi, Alexandrini medicamentorum opus. Sect. 48. cap. 11.
b) Die Araber.
Die auf den Trümmern des Hellenismus sich entwickelnde arabische
Medizin, die durch griechische Aerzte aus Byzanz vermittelt wurde,
stützte sich auf die kaum nennenswerten anatomischen Kenntnisse des
Altertums, ohne selbst etwas zur Erweiterung der exakten Forschung
beizutragen. Es ist daher klar, daß die Ohrenheilkunde durch die arabi-
schen Aerzte nichts Wesentliches gewinnen konnte.
Immerhin sind einige wenige Tatsachen und Gedanken, die der
Arabismus zeitigte, von Bedeutung. Trotz der großen Masse abenteuer-
licher Mittel, welche die Therapie der Araber charakterisiert, wäre es
verfehlt, das Wirken der arabischen Aerzte abfällig zu beurteilen, wie
es von manchen Historikern geschieht; denn ein Blick auf das christliche
Abendland genügt , um zu erkennen , wo in jenem Zeitalter die Heil-
kunst ihre wahre Heimstätte gefunden hat. Die Namen eines Serapion,
Rhazes, Ali, Avicenna, Averrhoes, Mesue und Abul Kasim
verdienen immer mit Ehren genannt zu werden.
Die geringe Förderung der Otiatrie durch die Araber beruht ins-
besondere auf der durch religiöse Gründe bedingten Vernachlässigung
der anatomischen Forschung, ja es scheint sogar als hätte das von den
Hellenen überkommene karge Erbe bei den Arabern noch an Klarheit
der Anschauung eingebüßt. Als Beispiel hierfür seien einige Sätze aus
Rhazes1) und Averrhoes2) angeführt. Ersterer sagt: Auris foramen
in osse duro, quod vocatur petrosum, invenitur. Hoc auteni os valde
tortuosum est et multas habet evolutiones et taliter protenditur usque
ad nervum quinti paris, quod a cerebro exoritur, per quem ht auditus.
*) Bemerkenswert ist, daß Theophanus Nonnos den Exophthalmus als Sym-
ptom der Thrombose des Hirnsinus beschrieb. (Styl. Dimitriades 1. c. p. 85.)
40 Die Araber.
Letzterer: Quia auris est in osse petroso et ideo nominantur in lingua
arabica „agari". Et in ipso sunt viae obliquae multae et tendunt taliter
per viam tortam donec jungantur nervo quinto orto a cerebro, a quo
oritur pellicula extensa supra os petrosum.
Die Physiologie entbehrt jeder Originalität und fußt zum größten
Teil auf der Aristotelischen Ueberlieferung und somit vorzugsweise auf
teleologischer Grundlage.
Auf reellerer Basis steht die Pathologie , die sich aber von der
galenischen und hellenistischen nur wenig unterscheidet und wie diese
vorzugsweise auf der genauen Beobachtung der Symptome beruht. Sie
zählte folgende Begriffe: Ohrenschmerz (ex complexione mala calida et
frigida) mit Abszeß oder ohne Abszeß , Ohrgeräusche (sonitus , tinnitus)
bei Avicenna auch sibilus, Schwerhörigkeit und Taubheit (von Geburt
an oder erworben), Fremdkörper im Ohre (Wasser, feste Körper, Würmer),
Geschwüre, Blutflüsse, Ohrenschmutz (-schmalz). Die Abszesse wurden in
kalte und heiße unterschieden.
Die Diagnose stützte sich außer auf der Berücksichtigung der Aetio-
logie und der subjektiven Angaben auch auf den lokalen Befund, der
womöglich im Sonnenlichte erhoben wurde.
Den größten Raum in den otologischen Abhandlungen der arabi-
schen Werke nehmen die therapeutischen Vorschriften ein , welche sich
durch eine Reichhaltigkeit verschiedenartigster Mittel auszeichneten, die
nur in der indischen Medizin ihresgleichen finden. Pflanzen-, Tier- und
Mineralreich wurden in mannigfacher Kombination in Anwendung ge-
bracht.
Die beliebtesten Mittel waren Oele und Pflanzensäfte allerlei Art,
ferner Milch, Honig, Essig, Alaun und Salpeter, die Narkotika Mohn,
Nieswurz, Bilsenkraut und Bibergeil; nicht selten wurden auch die Galle
vom Rind, vom Bären und Kranich, soAvie der Urin des Rindes oder
der Ziege nicht verschmäht.
Der Form nach zerfielen die Arzneien fürs Ohr in Instillationen
und Infusionen, Pastillen und Pillen, Pflaster und Salben, Bähungen
und Umschläge. Beliebt war auch die Verwendung der Dämpfe von
mannigfachen Dekokten, die man mit einem Trichter ins Ohr appli-
zieren ließ.
Die höchste Stufe erlangte die chirurgische Behandlung durch
Abul Kasim3) (912 — 1013), der im wesentlichen auf Paul von
Aegina fußt, dessen chirurgisches Werk*) jedoch reicher an Erfahrung
ist. Mit Vorliebe benützt er die Kauterisation als Heilmittel bei Ohren-
schmerz, Avobei er das Glüheisen an zehn verschiedenen Stellen rings
*) Kapitel 6 und 7 des II. Buches behandeln die Ohrerkrankungen.
Die Araber. 41
um das Ohr anzusetzen empfiehlt. Bei Atresie des Gehörgangs wurde
durch Sondenuntersuchung ermittelt, ob sie eine tiefe oder ober-
flächliche sei. Bei ersterer verwendete er das Glüheisen, bei letzterer
die Sonde zur Durchbohrung des Verschlusses, wobei er, um eine
Verletzung des Nerven zu vermeiden, vor unvorsichtigem Eindringen
in die Tiefe warnt. Das neuerliche Verwachsen wird durch täglich ein-
zulegende, mit Salbe bestrichene Wieken verhindert. Abul Kasim be-
diente sich außer der Sonden und Kauterien noch verschiedener kleiner
chirurgischer Instrumente verschiedenster Form, wie Messer, Saug-
maschinen etc. Besonders reich war die arabische Medizin in der Erfin-
dung von Instrumenten zur kunstgerechten Beseitigung von Fremdkörpern
im Ohre. Es gab Pinzetten, Kanülen zum Aussaugen des Fremdkörpers
aus dem Gehörgang, kleine Messer zum Zerkleinern aufgequollenen
Samens und endlich Ohrenspritzen. Abul Kasim teilte die Fremd-
körper in vier Kategorien: 1. in solche aus dem Mineralreiche und
andere harte Substanzen, 2. in Samen von Pflanzen, 3. in Flüssigkeiten,
4. in lebende Tiere, eine Einteilung, die praktischen Wert besitzt. Bei
der Entfernung des Fremdkörpers soll immer helles Licht in den
äußeren Gehörgang fallen und die Ohrmuschel entsprechend gerade-
gezogen werden.
Außer der lokalen wurde auch die allgemeine Behandlung nicht
außer acht gelassen. Zu dieser gehören diätetische Vorschriften (Essen,
Trinken, Bäder, Reiten), die Verwendung von Purgiermitteln, Cholagogis
und die häufig geübte Venäsektion.
Aus der älteren Zeit wäre zunächst Serapion1), (9. oder 10. Jahr-
hundert) (Jahjah Ibn Serabi), auch Janus Damascenus genannt,
hervorzuheben. Derselbe warnt im II. Traktat seiner „Praktika" Blutflüsse
aus den Ohren , wenn sie von der Krisis herrühren , durch Styptika zu
stillen und empfiehlt gegen Ohrgeräusche Moschus. Im übrigen befolgt
er eine Therapie, wie sie am ausführlichsten beiAvicenna und Mesue
zusammengestellt ist.
Rhazes5) (850—932); (Muh a med Ebn Secharjah Abu Bekr
el Räzi), der das Ohr bei einfallendem Licht untersuchte, bespricht
eingehend die prophylaktischen Maßregeln zur Verhütung von Ohren-
leiden wie Vermeidung zu schwerer Speisen , von Kälte , von Schlaf
bei vollem Magen u. a. Auch rät er gegen Ansammlung von „Ohren-
schmutz" (welcher wegen seiner Konsistenz Ohrwachs genannt wurde),
wöchentlich einmalige Einträufelung von Mandelöl in den Gehörgang. Er
unterschied Ohrenschmerzen, bei denen Anschwellung und Pulsation
im Gesichte beobachtet wird, andere, die nach Uebersättigung oder in-
folge des Einflusses kalter Winde entstehen , endlich solche , die mit
Ohrentönen verbunden sind. Unter seinen Mitteln gegen Ohrenschmerz
42 Die Araber.
finden sich Aderlaß, Bäder, Einträufelung von Milch, Rosenöl, Sesamöl,
Euphorbium, Bibergeil, Opium, Bei Ohrgeräuschen (sonitus et tinnitus)
applizierte er Opium in Rosenöl oder Mandelöl mit Bibergeil oder Rinds-
galle. Ansammlungen von Ohrenschmalz beseitigt Rh az es folgender-
maßen: Abends wird Oel ins Ohr geträufelt, frühmorgens hat der Kranke
ein Bad zu nehmen, dann leitet er Wasserdämpfe ins Ohr und beseitigt
die erweichten Massen mittels Baumwolle. Würmer im Ohre sind
durch den Saft von Pfirsichblättern und von Wermut oder durch
Pfirsichkernöl zu beseitigen. Zur Austrocknung von Ohrenflüssen dienen
Lösungen von Alaun in Wein oder Mischungen von Safran, Salpeter,
Essig und Wasser.
Seh Averhörigkeit könne von Dämpfen, die sich durch zu reich-
lichen Genuß von Speisen entwickeln, herrühren, oder nach häufigen
Nachtwachen entstehen. In solchen Fällen rät er zum Gebrauch von
Bädern, vielem Schlaf, Waschungen des Kopfes mit warmem Wasser,
Leitung von Dämpfen ins Ohr mittels Trichter u. a.
Ein Mittel gegen Taubheit ist das Hirn des Löwen.
In dem Werke des Haly Abbas (t 994; auch Ali Ben el-
Abbas; Ala ed-Din el Madschusi genannt)6), das in zwei Teile
(„Theorice'' und nPracticeu) zerfällt, wird im V. Buche die Behandlung
der Ohrenerkrankungen vom Standpunkte der internen Medizin, im Ka-
pitel 30 und 31 des IX. Buches vom Standpunkte der Chirurgie be-
sprochen. Er unterscheidet einen Ohrenschmerz ex complexione mala
calida und frigida. Jede der beiden Arten erfordert eine eigentümliche
Therapie nach dem Grundsatz: Contraria contrariis.
Im ersteren Falle empfiehlt er die Venäsektion oder Gallagoga
und lokal Koriander- , Rosen- , Lattich wasser etc. , im letzteren Gurgeln
und örtliche Instillation von Mandelöl, Bären- und Kranichgalle, Myrrhe,
Wolfsmilch, Rindsurin etc. Der Kunstgriff, durch den er Wasser aus
dem Ohre entfernte, ist schon im Talmud enthalten. Man stecke ein
Stück Rohr mit dem feinen Ende in den Gehörgang und zünde die Baum-
wolle, welche um das andere Ende gewickelt ist, an. Gelangt die Hitze
zu den inneren Teilen, so soll man das Rohr möglichst schnell heraus-
ziehen, dann werde sogleich das Wasser nachfolgen.
Avicenna7) (980 — 1037), dessen Name von allen arabischen
Aerzten am bekanntesten wurde, brachte in seinem Hauptwerke, in dem
auch die Ohrenheilkunde sehr eingehend behandelt wird, wenig Originelles.
Seine prophylaktischen Vorschriften enthalten die gewöhnlichen Plattheiten,
seine Therapie zeigt wenig von der rationellen Beschränkung, die man
von einem so gerühmten Denker erwarten sollte. Die wenigen ana-
tomischen Andeutungen suchen vergeblich durch schwerfällige, dunkle
Sprache die Unwissenheit zu verhüllen. Erwähnenswert wegen ihrer Ab-
Die Araber. 43
sonderlichkeit ist die Pathologie der Taubheit. Diese kann nach
Avicenna entweder zentral verursacht sein durch Verstopfung des leeren
Raumes, der den Sitz des Gehörs bildet, oder durch Verstopfung des
Gehörnerven; im ersteren Falle können die „Spiritus" nicht in den Gehör-
raum gelangen, im letzteren Falle ist dem „Spiritus auditorius" der Weg
zum Nerven verlegt. Die Ohrgeräusche werden als „solutus", „tinnitus"
und „sibilus" unterschieden, auch wird das Jucken im Ohre erwähnt.
Der christliche Arzt Mesue8) (f 1015) faßte die Lehren der
Griechen und Araber in ein übersichtliches Ganze zusammen. Nach ihm
ist die angeborene Taubheit gar nicht, die veraltete aber sehr schwer
heilbar. Eine bessere Prognose stellt er in den Fällen von Schwerhörig-
keit, welche durch Eiterungsprozesse hervorgerufen wurden. Die beste
aber dann, wenn die Taubheit durch Fremdkörper bedingt ist oder durch
Ansammlung dicker Dämpfe oder Säfte verursacht wird. Mesue gibt
den Schwerhörigen auch einige diätetische Vorschriften ; er empfiehlt
Bäder, häufige Wagenfahrten, Reiten auf sandigem Boden, außerdem
Instillationen von öligen Mitteln ins Ohr. Bei Ohren schmerzen, die
durch verschiedene schädliche Einflüsse, Avie Kälte, Wärme, Feuchtigkeit,
Trockenheit, oder durch die Galle hervorgerufen sein können, verwendet
er die üblichen Mittel, unter denen auch Eiweiß mit Milch, Mohnöl,
Quittenschleim , Bilsenkraut erwähnt sind , in Form lauer Instillationen,
bei Abszessen erweichende Pflaster und Cerate. Die Geschwüre werden
in akut und chronisch entstandene unterschieden. Erstere müssen zu-
nächst durch Einspritzungen gereinigt Averden (mit einer Mischung von
Honig und Wein oder Oxymel Scillae), worauf zur Austrocknung durch
Alaun, Aloe oder Myrrhe geschritten wird. Bei den chronischen Ge-
schwüren zerfiel die Kur in drei Stadien, in denen zuerst reinigende,
dann austrocknende, endlich die Vernarbung befördernde Medikamente
zur Verwendung kamen. Die Ohrg'eräusche leitet er entAveder Aron
SchAvächezuständen, z. B. bei Rekonvaleszenten, oder von der Krisis in
fieberhaften Krankheiten oder von Ansammlungen von Dämpfen im Kopte
her. Zu ihrer Beseitigung dienende Mittel Averden in großer Anzahl an-
geführt: neben Niesmitteln Instillationen mit Oel, Wolfsmilch, Honig,
Essig, Milch, Lauchsaft, Bibergeil oder ein Präparat des Autors, Avelches
aus Helleborus, Castoreum, Raute, Salpeter, Pfeffer, Rettichsaft, Lauch-
saft, Narden-, Mandel-, Anisöl bestand. Die Entfernung von Wasser im
Ohre wurde auf dreierlei Art versucht: durch heftige Bewegungen
des Kopfes oder des ganzen Körpers, durch Niesen bei Verschluß von
Mund und Nase oder durch Aufsaugen mittels feiner Schwämmchen
oder Meerwolle (lana, quae invenitur in concnis marinis) oder Holunder-
mark, endlich durch Ansaugen mittels Röhrchen.
Erwähnenswert scheint uns an dieser Stelle das von Mesue
44
Die Araber.
em] »fohlene Verfahren zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem
Ohre. Es besteht darin, daß dem Kranken ein Niesmittel verordnet und
ihm aufgetragen wird, durch Verschließen der Nase und des Mundes
den Luftstrom mit voller Intensität gegen die Ohren zu treiben, eine
Prozedur, die augenscheinlich mit dem Valsalvaschen Versuch identisch ist.
Würmer im Ohre sollen durch Instillation von Wermut-, Tausend-
guldenkraut-, Pfirsichblättersaft beseitigt werden, oder man gibt Nies-
mittel und verschließt beim Niesen Mund und Nase.
Auch die beiden spanischen Araber, Avenzoar9) (f 1162) und
sein Schüler Averroes10) (f 1108?), trugen wenig zur Erweiterung
der Otiatrie bei und stützten sich, infolge mangelnder anatomischer
Kenntnisse, auf die alten physiologischen Lehren des Aristoteles und
die Humoralpathologie des Galen. Die Therapie beider enthält nichts,
was nicht schon bei den Griechen und Arabern benützt wurde*).
Die arabische Periode hat vorzugsweise die Bedeutung, das Wissen
der hellenischen Forscher, wenn auch entstellt, erhalten zu haben. Dieses
Verdienst ist vom Standpunkt der Otiatrie freilich nicht zu hoch anzu-
schlagen, da durch die Späthellenen, Araber und ihre Nachbeter ein
nutzloser therapeutischer Wust geschaffen wurde, zu dessen Beseitigung
die Arbeit mehrerer Jahrhunderte erforderlich war.
!) Abubetri Rhazae Mahometi, De re medica, Lib. I, cap. 10.
2) Averrois Liber de Medierna, qui dicitur Colliget, Lib. I. cap. 19.
s) De chirurgia. Arab. et latine cura Jo. Channing Oxon. 1778. Tom. I,
Lib. I, Sect. 5, p. 25; Lib. II. Sect. 2, p. 115—117. Sect. 6, p. 127-135; Lib. I,
Sect, 7, p. 135—137; Lib. II, Sect. 26, p. 179.
4) Practica Joannis Serapionis. Venet. 1550. Track II, cap. 12.
5) Abubetri Rbazae Mahometi opera. Basil. 1544. De re medica, Lib. IX.
cap. 31—36; de facultate animalium, Lib. I, cap. I et cap. 3; ad regem Mansorem
de antidotis, Lib. I, cap. 30; Divisionum Lib. I, cap. 37—39; de re medica Lib. IV,
cap. 23.
6) Liber totius medicinae. Lugd. 1523. Pract. Lib. V, cap. 02—67 ; Lib. IX,
cap. 30—31.
7) Avicennae Medicorum Arabum prineipis Liber canonis; de medicinis
cordialibus et canticis. Basil. 1556. Lib. canon. Lib. XI. Fen. IV, c. 1—26.
8) Mesue Joannis Damasceni opera. Venet. 1689. Grabadin id est com-
pend. secret. medicament. Lib. II. Summa VI, cap. 1 — 8.
9) Abimeron Abynzoahar Liber Theizir. Venet. 1553. Lib. I. Tract. IV
erwähnt, daß Schwerhörigkeit, durch einen Schlag aufs Ohr entstanden, schwer
heilbar sei, da Blut nach innen getreten ist. (Vergl. Maimonides.)
10) Averrois Cordubensis Colliget, Libri VII. Venet, 1553. Lib. I, cap. 19;
Lib. II. cap. 16; Lib. III, cap. 37; Lib. IV, cap. 48; Collect, sect. I, cap. 16.
I Avenzoar schildert ausführlich einen Fall von akuter Otitis. Liber Theizir.
Venet. 1553. Trakt. IV, cap. I.
Die Schulen von Salerno und Montpellier. 45
c) Die Schulen von Salerno und Montpellier.
Die Latinobarbaren.
Die Geschichte der Otiatrie, wie der Medizin überhaupt, bietet vom
7. bis zum 13. Jahrhundert ein trostloses Bild der Stagnation und des
Rückschrittes. Mit dem Zusammenbruch des heidnischen römischen Reiches
war infolge der kriegerischen Wirren zwischen dem Morgen- und Abend-
lande und der alles vernichtenden Völkerwanderung die von Griechenland
nach Rom verpflanzte Kultur und mit ihr der wissenschaftliche Fortschritt
in der Medizin verschwunden. An Stelle der nüchternen Naturbeobachtung
trat der finstere Aberglaube und die Heilung der Krankheiten durch
Wundermittel und Zauberei. Die Heilwissenschaft ward eine Domäne
der Klöster, wo infolge der Aechtung der Anatomie und der naturhistori-
schen Beobachtung durch das Dogma sich eine mehr auf religiöse An-
schauung basierende Mönchsmedizin entwickelt, welche Jahrhunderte
hindurch das Feld behauptete.
Das wichtigste Hemmnis jeglichen Fortschritts in der Medizin war
in erster Reihe das strenge kirchliche Verbot der die Auferstehung
hindernden Leichensektioneu , die als schwere Sünde erklärt wurden.
Dieser Wahn faßte nicht nur bei der vom Aberglauben beherrschten
Laienwelt feste Wurzel, sondern er fand auch bei den als ärztliche Autori-
täten geltenden Männern Eingang. Gab es doch noch im vorge-
schritteneren 14. Jahrhundert Anatomen, die trotz des kirchlichen Verbots
zwar den Mut hatten, Sektionen menschlicher Leichen auszuführen,
aber das Auskochen menschlicher Knochen behufs Mazeration für Sünde
hielten.
Bevor wir auf eine Besprechung der Mitglieder der salernitanischen
Schule näher eingehen, sei mit einigen Worten der Mönchsmedizin
gedacht. Zur Zeit, als die politische und geistige Macht des Klerus in
ihrer größten Blüte stand, als die ganze Wissenschaft durch Kleriker
vertreten wurde, lag auch die Ausübung der Arzneikunst in den Händen
der Geistlichkeit. In Klosterschulen wurde Medizin betrieben und ge-
lehrt. Ein Nutzen für die medizinische Wissenschaft im allgemeinen
oder für die Otiatrie im speziellen ergab sich hieraus nicht. Im Gegen-
teil. Die wissenschaftliche Bearbeitung lag in dieser Zeit unter der
Aegide des Mönchtums (6. — 12. Jahrhundert) gänzlich darnieder und die
Schätze an Wissen, die das Altertum hervorgebracht hatte, blieben un-
berücksichtigt und fielen der Vergessenheit anheim.
Als Beispiel für viele, wie die Mönchsmedizin mit der Otiatrie
verfuhr, teilen wir hier aus dem „Commentarium medicinale" des mai-
ländischen Erzbischofs Benedetto Crispo (f 725 oder 735) die uns
4(5 Die Schulen von Salerno und Montpellier.
interessierenden Stellen mit, die in mehr oder minder plumpen Hexametern
damals gebräuchliche Volksmittel empfehlen.
XV. De verme auris.
Convenit incautis cautas praetendere curas
Nee minus indocili turbentur Corpora sensu.
Cum sopor immensus hominis pervaserit artus
Tum solet indignas animal pentetrarier aures.
Accipe cum saevo citius fei muris aceto,
Nee moram facias, poteris sie pellere vermen.
XVI. De surditate.
At si surditiam pateris, rubros lege vermes
Arboris antiquae, puro si miscis olivo.
Auribus infundis, cupitam tibi redde salutem.
Anserinus adeps prodest. et vulturis atri.
Caeparum suecus iuvat auribus, et bona praestat.
Cum solet incautis aures pervadere lympha.
Saepe solet ventris nimius transcurrere cursus.
Paulatim teneram multorum solvere carnem,
Quem prudens medicina Dei compescere noscit.
Galla asiana iuvat, cerasi longum quoque pomum.
Caseus aptus erit dulei cum munere mellis;
Proderit et calidum hirci de viscere raptum
Appositum ventri secum, quae cognita cura est.
At proprium si forte unguem demittit ab ipso,
Significat citius cupitam iam perdere vitam.
(Coli. Salern. ed. de Renzi I, p. 81.)
Die poetische Form wurde offenbar gewählt weil sie leichter im
Gedächtnis haftet. Von einer wissenschaftlichen Darstellung des Gegen-
standes kann dabei keine Rede sein.
Die ersten Anzeichen beginnender Regsamkeit auf medizinischem
Gebiete finden wir erst im 12. Jahrhundert, ausgehend von den Schulen
von Salerno und Montpellier.
Zwischen der Mönchsmedizin, in der sich die Gebräuche der Volks-
medizin erhalten, und der öden Scholastik liegt wie eine Oase die
Schule von Salerno, die Bewahrerin griechischer Tradition. Ihr Auf-
blühen verdankt sie insbesondere dem Schutze des erleuchteten Kaisers
Friedrich IL, der eine noch heute bewunderungswerte medizinische Studien-
ordnung entworfen hat.
So rühmlich aber auch die Bestrebungen dieser Schule sein mögen,
so finden wir bei Durchsicht der uns überlieferten Collectio Salernitana,
sowie aller medizinischen Schriften aus dem 12. — 14. Jahrhundert kaum
etwas, was als wissenschaftlicher Fortschritt in der Otologie bezeichnet
werden könnte, [da in den neugegründeten Schulen jener Epoche noch
an den Lehren der Hippokratiker, des Galen und Avicenna mit dogma-
Die Schulen von Salerno und Montpellier. 47
tischer Strenge festgehalten wurde. Was wir von neueren Zutaten
in den noch erhaltenen Manuskripten und in den später durch den Buch-
druck veröffentlichten mittelalterlichen Werken finden, ist nichts als spitz-
findige metaphysische Spekulation und Polemik, meist in barbarischem
Latein und in schier unerschöpflicher Breite. Des literarhistorischen
Interesses halber sei der Stand der Otiatrie in der Epoche der Latino-
barbaren kurz geschildert.
Das zum Teil von unbekannten Autoren herrührende, aus dem
12. Jahrhundert stammende Sammelwerk, die „Collectio Salernitana" *),
gewährt den besten Einblick in die Anschauungen und Methoden der
mittelalterlichen Otiatrie. Im Buche „De aegritudinum curatione" wer-
den als Ohraffektionen: Schmerz ohne oder mit bestehender Eiterung,
Geschwür, Würmer, Fremdkörper, Taubheit und Ohrenklingen unter-
schieden.
Was den „Schmerz" anbelangt, so kann seine Qualität (ex calidi-
tate oder ex frigiditate), sein Zusammenhang mit einem Abszeß aus der
Intensität und Dauer des Schmerzes, aus der Beschaffenheit der Um-
gebung des Ohres erschlossen werden. Die Therapie beruht auf dem
Satze : Contraria contrariis und richtet sich nach der vermuteten Ele-
mentarqualität. Die Würmer entstehen aus verdickten Säften vermittels
der Aufnahme belebender Luft und verraten sich durch Jucken und Ohr-
geräusche; man kann sie auch bei der Untersuchung im Sonnenlichte
„aure soli apposita" zuweilen direkt beobachten. Ebenso läßt sich aus
dem Fremdkörpergefühl des Patienten oder durch direkte Untersuchung
im Sonnenlichte das Vorhandensein von Fremdkörpern im Gehörgange
erkennen. Taubheit entsteht durch Verstopfung der Nerven oder aus
den vorgenannten Ursachen, z.B. durch Fremdkörper. Ohrenklingen
ist manchmal Affektionen der Leber oder des Magens zuzuschreiben.
Im letzteren Falle wird es heftiger nach dem Essen und pflegt nach
Erbrechen schwächer zu sein.
Die Behandlung der schmerzhaften Affektionen beruht auf der
Anwendung von Salben (in der Umgebung des Ohres), Kataplasmen,
Instillationen, wozu passende Pflanzensäfte oder Fette benützt wurden.
Einlagen von adstringierenden Pulvern kamen bei Ohrgeschwüren zur
Anwendung. Würmer wurden durch Lösungen von Bitterstoffen (bit-
tere Mandeln, Absinth etc.) getötet, eventuell mit Häkchen (unco ferreo)
extrahiert. Fremdkörper entfernte man teils durch mechanische
Applikationen direkt, teils durch Niesmittel (fiat sternutatio, ore et na-
ribus apprehensis, ut ex impetu spiritus possit educi).
Gegen Schwerhörigkeit, welche, wenn angeboren oder länger als
;:) Ed. Salvatore de Renzi. Nnj.oli 1853. Bd. II. p. l'il— 167.
48 Die Schulen von Salerno und Montpellier.
2 — 3 Jahre dauernd, als unheilbar galt, empfahl man nach dem Vorbild
der alten Autoren eine ganze Reihe von Medikamenten (auch Räuche-
rungen, Gurgel- und Niesmittel). Schwerhörigkeit infolge von Fieber
oder Apoplexie wurde als unheilbar betrachtet.
Anzuerkennen ist es, daß die Salernitaner einen relativ geringen
lli'ilschatz von meist unschädlichen Stoffen aus dem Küchengarten be-
nützten und vor jeder Behandlung die lokale Inspektion des Ohres
forderten: „prirnum considera foramen auris".
Von historischem Interesse dürften einige auf die Otiatrie bezügliche Stellen
aus dem berühmten Lehrgedicht Flos Medicinae scholae Salerni (auch Regimen
sanitatis Salernitanum genannt. Ende des 11. bis Anfang des 12. Jahrhunderts) sein,
welches von Pagel als Quintessenz salernitanischer Heilkunde bezeichnet wird.
Auriculae surdae si te vexatio laedit
Tnstillatur adeps anguillae, moxque recedit.
Hoc et de colubro facias, meliusque valebit,
Aut titulosa (?), sub hac effectum prorsus habebit.
Yirginis urina pueri mala dicta cavebit.
(Renzi, Bd. I.) Kap. 64 — 68 (in Versen) des zitierten Buches (de secretis mulierum,
Renzi, Bd. IV) behandeln die Otiatrie nach obigen Gesichtspunkten.
Weiter enthält das salernitanische Lehrgedicht nebst Rezepten für Ohraltera-
tionen in der Pars quinta, cap. III, folgende leonischen Verse über die Ursachen der
Schwerhörigkeit, der subjektiven Geräusche und des Ohrenschmerzes.
Art. 4. Impedimenta auditus.
Balnea, sal, vomitus, anser, repletio, clamor
Et mox post escam dormire, niinisque moveri,
Ista gravare solent auditum, ebrietasque.
Art. 5. Causae tinnitus.
Motus, longa fames. vomitus, percussio, casus,
Ebrietas, frigus tinnitum causat in aure.
Art. 6. Causae doloris aurium.
Ventus, apostema, dolor, fames. ictus et aestus,
Atque clamor causae sunt quales quatuor istae.
Von dieser traurigen Epoche in der Geschichte der Medizin wenden
wir uns den bedeutendsten Repräsentanten der Schulen von Salerno und
Montpellier zu, denen im folgenden auch nicht zu diesen Schulen ge-
hörige, außerhalb Italiens und Frankreichs wirkende Autoren des Mittel-
alters angereiht wurden. Auf eine strikte chronologische Reihenfolge
konnte hiebei keine Rücksicht genommen werden.
Ruggiero. Der älteste bekannte Chirurg der salernitanischen
Schule Roger behandelt im letzten (44.) Kapitel des ersten Buches*)
i:) Renzi, Coli. Salemit. II, p. 451.
Arnaldus de Villanova. 49
seiner 1180 verfaßten Chirurgia die Ohrerkrankungen. Er spricht dort:
..De doloribus aurium ex quacunque causa perveniant. De cura ejus-
dera, si non sit ibi apostema nee vermis. De signis apostematis
quando est ibi, vel sequi debeat, et cura ejusdem. De vermi ' occi-
dendo in auricula, et extrahendo. De quolibet alio extrahendo, si in
auricula ceciderit. Bemerkenswertes findet sich in dieser Darstellung
nicht. In der Therapie folgt er dem Grundsatze der Araber (Abul
Kasim) und den von uns bereits eingangs erwähnten Prinzipien der
salernitanischen Schule. Dasselbe gilt von dem Textus Roland i und
den Glossulae Quatuor Magistrorum, in welchen die Angaben Rogers
wiederholt sind und die nur wenige unwesentliche Zusätze aus alten
Autoren enthalten*). In der vor Roger datierenden „Practica Petro-
celli (Petronii Petricelli" ; 11. Jahrhundert)5), an der wahrscheinlich
mehrere Autoren gearbeitet haben, findet sich auch einiges über das
Ohr (I. Buch, Kap. 16 „De vicio aurium" und Kap. 17 ..De parotidis"),
die betreffende Stelle ist jedoch, da sie nichts Originelles enthält, für
uns ganz interesselos. Ebenso finden sich in den „Practica" des Ma-
gister Bartholomaeus *) (13. Jahrhundert), des Copho senior2) und
des Archimathaeus 3) einige wertlose Notizen über Ohrerkrankungen.
Aus den ..Tabulae" des Salernitaners Petrus Maranchus4) erwähnen
wir die Arzneimittel: „Confortantia aures; Mellilotum; Laudanum : Herba
citri; Olibanum; Oleum de scolopendria; Oleum lilii; Aristologia; Oleum
camomille", ferner die Educentia humores per aures; Piper; Succus biete;
Succus cappari. Radices; Bidellium; Cassia; Feltaurinum; Fei leoninuni ;
Aristologia coneava (?) ; Oaconidium ; Galbanum ; Elleborus albus. Die
Therapie der Ohrerkrankungen sollte diesen Wust von allerdings kaum
schädlichen Medikamenten lange nicht los werden.
1) Renzi, Coli. Selernit. IV, p. 378.
2) Id. IV, p. 473.
3) Id. V. p. 374.
4) Renzi. Bd. IV. p. 560 u. 563.
5) Renzi. Bd. IV, p. 197—199.
Arnaldus de Villanova. Unter den zahlreichen Jüngern der
salernitanischen Schule sei hier des katalanischen Arztes Arnaud de Yila-
nova (1235 — 1312?) gedacht, dessen Persönlichkeit noch vielfach in
Dunkel gehüllt ist, der aber bei seinen Zeitgenossen hohen Ruhm genoß.
Er verfaßte einen Kommentar über die salernitanische Schule (Scholae
Salernitanae opusculum ) , bewies aber auf dem Gebiete der Medizin in-
sofern eine Selbständigkeit, als er in seinen Arbeiten kein gedankenloser
Nachahmer der salernitanischen Schule noch der Araber gewesen ist.
■■'■■) Id. II, p. 672.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I
50 Arnaldus de Villanova.
Im 33. Kapitel des umfangreichsten seiner Werke, des „Breviarium",
das ihm vielleicht mit Unrecht zugeschrieben wird, bespricht er die
Therapie bei den Ohrerkrankungen (de passione aurium, primo de sur-
ditate , tinnitu et sonitu). Er empfiehlt, Tauben kalte oder warme
Kräuter auf das Ohr zu legen, je nachdem der die Erkrankung hervor-
rufende Eiter (materia faciens aegritudinem) kalt oder warm sei, ferner
auch ein Dekokt verschiedener Arzneimittel, das den Patienten in
das Ohr eingeflößt werden müsse. Bei veralteter chronischer Schwer-
hörigkeit (surditas chronica inveterata) infolge reichlicher Flüssigkeits-
ansammlung (abundantia humorum) schlägt er ein Verfahren vor, das
er im großen und ganzen den Arabern entlehnte, fügte aber aus eigenem
so viel hinzu, daß man darin eine Andeutung des bekannten Valsal va-
schen Versuches erblicken kann*). Wir meinen das Hervorrufen des
Niesens durch Anwendung von Niesmitteln bei gleichzeitigem Verschluß
der Nase. Die betreffende Stelle lautet: „Postea provocetur sternutatio
cum pulvere hellebori albi vel condisi, vel piperis et similibus. Et cum
incipit sternutatio, patiens teneat se fortiter per nares, vel ab alio
teneatur sie, quod per nare spirare non possit, cum sternutat: cum hoc
nam plures antiqui surdi pro certo curati sunt.u
Auch zur Entfernung von Fremdkörpern empfiehlt Arn au d im
35. Kapitel dasselbe Verfahren , wobei er als therapeutisches Moment
neben der lebhaften mechanischen Erschütterung auch den starken Luft-
andrang in Betracht zieht: „ut propter magnum impetum spiritus pos-
sunt extraduci".
Medizinische Kompendien, wie das besprochene „Breviarium" des
Arnaldus von Villanova, gab es im Mittelalter in großer Menge. Jeder
angesehene Arzt schrieb ein solches Buch, in dem er seine in der
Praxis erworbenen Erfahrungen niederlegte. In diesen Werken wird in
der Regel auch der Otiatrie ein kurzer Abschnitt gewidmet. Das wenige,
das heidnischer Gräzizismus, Arabismus und christliche Wissenschaft
für die Otiatrie geleistet haben , wird hier immer wieder als eigene
Weisheit im Lichte einer falschen Gelehrsamkeit von neuem kommentiert,
ohne den Versuch , die in großer Menge gehäuften Absurditäten aus-
zumerzen. Bei dem ausgesprochenen kompilatorischen Charakter, der
speziell der Behandlung der Ohrenheilkunde eigen ist, und bei der ge-
dankenlosen Nachschreiberei kann es nicht wundernehmen, daß die
*) Vergl. K. Baas, Historische Notiz über den Valsal vaschen Versuch und
das Politzersche Verfahren. Münch. med. Wochenschrift Nr. 47, 1903. Doch war
Arnaldus keineswegs der erste, der dieses Verfahren in Vorschlag brachte, viel-
mehr haben bereits vor ihm Archigenes, der Araber Mesue, ferner Guilelmo
Säliceto, Bruno u. a. bei der Entfernung der Fremdkörper diese Methode
empfohlen.
Guilelmo Saliceto. 51
Kapitel über Ohrerkrankungen bei den verschiedenen Autoren einander
oft gleichen. Wenu wir nun dennoch die Werke der einzelnen Aerzte
aus dem Mittelalter auf ihren otiatrischen Inhalt hier eingehender prüfen,
so versuchen wir damit bloß, ein Bild der damaligen wissenschaftlichen
Arbeit auf ohrenärztlichem Gebiete zu entwerfen. Wir beginnen mit
dem Italiener Saliceto.
Guilelmo Saliceto, auch Guglielmo da Saliceto genannt
geb. 121<»), der bekannte mittelalterliche Arzt und Chirurg, gehört zu
den bedeutenderen Männern seiner Zeit*). Vor allem sei betont, daß
er als erster in Mailand Leichen seziert hat. Nach den Angaben der
Medikohistoriker liegt der Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf dem Ge-
biete der Chirurgie. Pageis Verdienst ist es, die Aufmerksamkeit
auf Saliceto und insbesondere auf dessen Arbeit ..Summa conser-
vationis et curationis" in den letzten Jahren von neuem hingelenkt
und die geschichtliche Würdigung S alicetos von modernen Gesichts-
punkten aus inauguriert zu haben. Grunow, Loewy u. a. heben
Salicetos reiche Erfahrung, seine kritische Schärfe, seine große Be-
obachtungsgabe, seine ausführliche Kasuistik, seine hohe Meinung von
der Hygiene u. a. hervor. Was jedoch Guilelmos Verdienste auf dem
Gebiete der Ohrenheilkunde betrifft, so konnten wir weder finden, daß
seine Arbeiten einen Fortschritt in der Entwicklung dieses Faches
bedeuten, noch daß seine Leistungen die seiner Vorgänger übertreffen.
Wenn in seiner reichen Kasuistik auf eigene Beobachtungen von Ver-
hältnissen in seiner Eeimat (nostra contrata, wie Saliceto sich aus-
drückt) hingewiesen wird, so konnten wir dort, wo er über Ohrerkran-
kungen handelt . nichts Originelles entdecken; dieser Teil läßt vielmehr
subjektive Auffassung und Selbständigkeit vollkommen vermissen, da
Saliceto ihn ganz nach dein Vorbilde der Griechen und Araber be-
arbeitet hat.
Am Beginn seines Werkes „Summa conservationis et curationis etc.4*
kommt Saliceto gleich nach den Augenerkrankungen auf die Affektionen
des Ohres zu sprechen (de aegritudinibus aurium), denen er sechs Ka-
pitel (Caj». LVI — LXI) widmet. Jedes Kapitel behandelt eine Krank-
heitserscheinung, das .")6. den „ Ohrenschmerz " (de dolore auris), das 57.
das „ Ohrengeschwür " (de ulcere in aure), das 58. die Subjektiven Ge-
räusche (de sonitu et tinnitu aurium), das 59. die Schwerhörigkeil uw<\
Taubheit (de gravedine auditus et surditate et appellatur a medicis taras),
das tili, die „Ohrwürmer" und das Eindringen anderer [nsekten ins Ohr
(de vermibus aurium et de animalibus intrantibus aures), und das 61.
endlich die Fremdkörper (de his, quae in aurem extrinsecus cadunt). In
Vergl. die französische Ausgabe von Paul Piffeau. Toulouse 1898.
52 Lanfranchi.
jedem dieser Kapitel schildert Guilelmo nach dem bekannten Schema
zuerst die Ursachen, die zu dieser Krankheitserscheinung führen, dann
die Symptome (Signa), aus denen diese sich diagnostizieren läßt und
hierauf die Therapie (Cura).
Bei der Feststellung der Symptome mißt Saliceto die größte
Bedeutung den Angaben des Patienten bei. Von einer objektiven Unter-
suchung ist keine Rede, man wollte denn die von ihm empfohlene In-
spektion des äußeren Gehörganges zur Konstatierung eines eingedrungenen
Fremdkörpers dafür gelten lassen. Die komplizierte Therapie mit einer
o-roßen Menge von äußeren und inneren Mitteln nimmt in seiner Dar-
Stellung den breitesten Raum ein. In der chirurgischen Schrift „Cyrurgia"
des Saliceto (vollendet 1275 oder 1279) werden die Krankheiten des
Ohres im 1. Buche (Kap. 14 — 16) besprochen, für die Entfernung von
Fremdkörpern und Ceruminalanhäufungen verwendet er die alten Me-
thoden; Ohrpolypen werden von ihm abgeschnitten oder mit einem
Seidenfaden oder einem Pferdehaar abgebunden und die Wurzel geätzt.
Lanfranchi (Lanfranc de Milan; f 1306?), ein gebürtiger
Mailänder und Schüler Wilhelms von Saliceto, wird von vielen Me-
dikohistorikern als der größte Chirurg des Mittelalters bis auf Guy de
Chauliac bezeichnet. Hervorgehoben zu werden verdient, daß Lan-
franchi im College de St. Cöme zu Paris einen großen Kreis von wiß-
begierigen Jüngern der Heilkunde um sich scharte, welche daselbst seinen
öffentlichen unentgeltlichen Krankenordinationen und chirurgischen Ope-
rationen beiwohnten, und daß, wie die zahlreichen Manuskripte von mittel-
alterlichen Aerzten in den Bibliotheken zu Paris beweisen, seine Werke
von seinen Berufskollegen viel benützt wurden.
In der „Chirurgia parva" (1270), die gewissermaßen die Einleitung
zu der umfangreicheren Arbeit des Lanfranchi, der „Chirurgia magna'*
(1295, <i), bildet, wird der Ohraffektionen überhaupt keine Erwähnung
getan. Hingegen beschäftigt er sich in der „Chirurgia magna" (III. Doktr.
III. Trakt., 2. Kap.) in ausführlicher Weise mit der Otiatrie, ohne jedoch
irgend einen neuen Gedanken den Mitteilungen der älteren Vorgänger
beizufügen. Nichtsdestoweniger ist seine Darstellung interessanter als
die seiner Zeitgenossen , weil sie durch eine Kasuistik belebt wird , die
wir sonst bei Besprechung der Ohraffektionen in anderen Werken ver-
missen. Lanfranchi beginnt mit einer kurzen anatomischen Beschrei-
bung des Ohres, die noch dürftiger ist als die der Griechen und Araber
und an der wir nichts Erwähnenswertes finden. Nach der anatomischen
Einleitung geht er zur Besprechung der Krankheiten des Ohres (aegri-
tudines aurium) über, deren er bloß zwei annimmt: den „Ohren schmerz"
(dolor auris) und den „Gehörsfehler" (vitium auditus). Was den „Dolor
auris" betrifft, sei er einmal Krankheit, ein andermal Ursache einer
Bernard von Gordon. 53
Krankheit. Hervorgerufen wird er 1. „propter malam complexionem cali-
dam" und zwar bei Abwesenheit eines Apostems und Ulcus, 2. „propter
malam complexionem frigidam", die bedingt wird durch einen „ventus
vel aer frigidus", 3. durch Fremdkörper (ab his, quae ingressa sunt
aurem), 1. de ;ipostemate calido, 5. de apostemate frigido, 6. a ventosi-
tate, 7. ab ulceribus und endlich 8. ab humiditate.
Bei Besprechung der Ulzera erwähnt er folgenden Fall , der jedoch in vieler
Beziehung unklar ist: Optimum est etiam in antiquo auris ulcere cum dolore in
fontanella apostema cum attractiva medicina provocare et provocato novum ibi facere
vulnus: et inde materiam expurgare : sicut feci fratri Petro de nana de praedicto
ordine in lugduno. passus enim longo fuerat tempore : nee poterat sanies expur-
gari! sed cruciatus doloribus perierat. Ego et postquam ad mortem fui vocatus
emplastrum de fermento : quod dicam in antidotario posui super aurem. caput
saepe cum aqua decoctionis maioranae embroeavi : ihique profundum feci vulnus
cum sagitella : et inde quantitatem putredinis extraxi plus quam credibile crederetur.
cum sanie per locum vulneratum noviter exeunte: fortificatus est : et dolores omnino
cessaverunt: et perfecte fuit omnipotentis auxilio restitutus. Aus obigem geht bloß
hervor, daß Lanfranchi bei einer eitrigen Okrerkrankung . die einen bösartigen
Verlauf zu nehmen drohte , mit einem spitzigen Skalpell eine tiefe Inzisionswunde
setzte, aus der sich eine große Menge Eiter entleerte. An welcher Stelle die In-
zision vorgenommen wurde , ob es sich vielleicht um eine Eiterung des Warzenfort-
satzes handelte, läßt sich aus den Angaben Lanfranchis nicht feststellen.
Bei Besprechung der Gehörsverminderung (deminutio auditus) rät
Lanfranchi ,,aures ad audiendum cum subtilibus voeibus incitare".
Hieraus ergibt sich in voller Klarheit, daß schon dieser mittelalterliche
Chirurg Hörübungen vorgeschlagen, wie sie dann in der Folgezeit oft
bei Schwerhörigkeit empfohlen wurden, ohne jedoch jemals einen nennens-
werten Effekt zu erzielen. Endlich sei noch als Kuriosität mitgeteilt,
daß Lanfranchi durch Fett grüner Laubfrösche veraltete Taubheit
heilen will: pinguedo ranarum viridium quae morantur in arboribus
collecta quando decoquuntur, in auribus inieeta habet proprietatem curandi
surdos etiam desperatos.
Bernard von Gordon. Eines der ältesten Mitglieder der angesehnn n
Schule zu Montpellier, der berühmte französische Arzt Bernard de
Gordon, hat in seinem Wirke „Lilium medicinae" (1305), welches er
in anerkennenswerter Uebersichtlichkeit und Knappheit zum Gebrauche
der Aerzte und Studierenden vom Standpunkt des Internisten abgefaßi
hat, den Ohrerkrankungen einen verhältnismäßig breiten Kaum ein-
geräumt. (De passionibus aurium, Particula 111. Cap. VIII — XIV*).)
Die anatomische I'. 'Schreibung des Gehörorgans, die Gordon zu Be-
•_•- i 1 1 1 1 meiner Darstellung mitteilt, ist ebenso kurz als unklar. Er sagt darüber
) Hern. Gordonii opus lilium medicinae inscriptum de morborum prop«'
omnium curatione, septem particulis distributum. Lugduni 1559. ]». 286 — 299.
54 Bernard von Gordon.
folgendes : Instrumentuni auditus est compositum ex osse petroso, nervo expanso et nervo
optico concavo , et aere quieto . et ex diverticulis et circumvolutionibus anfractuosis
in foramine, et cartilagine exteriori apparente circa foramen ad modum ostracorum.
Aus welchem Grunde Gordon den Nervus opticus mit dem Gehör-
organ in Verbindung bringt, ist nicht ersichtlich. Einen ebenso dunkeln
Sinn birgt der Satz, in welchem Gordon die Physiologie des Ohres
bespricht. Dieser Satz lautet: „Intelligendum quod cum aer conquietus.
qui est naturalis in nervo concavo, movetur propter aerem exteriorem,
tunc fit auditus". Gordon meint also, das Hören sei eine Folge der
Erregung der Luft im Inneren des Ohres durch die äußere Luft. Wie
dies zu verstehen ist, wird nicht näher ausgeführt.
Was endlich die Ohrerkrankungen anbelangt, so hat Gordon
den umfangreichsten therapeutischen Werken der Araber das, was ihm
am wichtigsten schien, entnommen und auf diese Weise eine gedrängte
Zusammenstellung der damals gebräuchlichsten Heilmethoden gegeben.
Zuerst bespricht er die Taubheit (Kap. VIII) und ihre verschiedenen
Ursachen.
Er hält vor allem die veraltete Taubheit, die länger als 2 Jahre
gedauert hat, für unheilbar. Taubheit, die bald zunimmt, bald geringer
wird , erklärt er für prognostisch günstig. Bei der Behandlung der
Taubheit, wie bei allen Ohrenerkrankungen überhaupt, empfiehlt er dem
Ohrenarzte auf neun Regeln (novem canones) zu achten, von denen wir
einige herausgreifen wollen. Vor allem seien die anzuwendenden Injekta
lauwarm; man möge sie nie länger als 3 Stunden im Ohre lassen; bevor
ein zweites Medikament angewendet werde, müsse man das erste ent-
fernen und das Ohr sorgfältig reinigen; nur flüssige Arzneien mögen
Verwendung finden, da diese leichter ein- und ausfließen; die Quantität
des Mittels sei eine geringe ; nach Einflößung des Mittels in den äußeren
Gehörgang möge sich der Patient auf das gesunde Ohr legen ; nur reine
Substanzen dürfen benützt werden ; kann eine Behandlung durch Um-
schläge und Pflaster erfolgen, so mögen Injektionen tunlichst vermieden
werden, da alles ins Ohr Gelangende schadet, besonders wenn das
Ohr vorher nicht aufs peinlichste gereinigt wurde.
Daß in diesen Vorschriften so großes Gewicht auf reinliche Mani-
pulationen gelegt wird, ist beachtenswert. Und mit Rücksicht darauf
kann man, wenn man nicht allzu kritisch ist, wohl behaupten, daß die
alten Aerzte im 13. Jahrhundert bereits eine Ahnung von der Nützlichkeit
der Asepsis hatten.
Kapitel IX handelt über die subjektiven Geräusche (De
tinnitu et sibilo). Diese erklärt Gordon als „Verderbnis des Gehörs"
(corruptio auditus), gerade so wie das Mückensehen ein „Verderbnis des
Gesichtes" bedeute.
Bernard von Gordon. 55
Sie entständen dadurch, daß Dämpfe (ventositas et vapor) die Luft
des inneren Ohres heftig erschüttern. Entsprechend den verschiedenen
Qualitäten des Dampfes gebe es auch verschiedene subjektive Geräusche,
wie Glockengeläute, Regenprasseln, Rauschen der Bäume, Gären des
Mostes etc. Nach diesen und ähnlichen Gesichtspunkten teilt Gordon
nun die subjektiven Ohrgeräusche ein und empfiehlt zu ihrer Behandlung
innere und lokale Mittel, die er dem Arzneischatze der Araber entlehnt.
Hierauf geht Gordon im Kapitel X auf die Besprechung des
Ohrenschmerzes und der Ohreiterung über (De dolore auris et
apostemate intriuseco). Am heftigsten sei der Ohrenschmerz infolge
warmer Eiterung (ex apostemate calida) des Ohres und dieser führe auch
zu den schrecklichsten Nebenerscheinungen (ad terribilia accidentia). Am
lebensgefährlichsten sei dieser bei Jünglingen, weniger gefährlich bei
Knaben und am allerwenigsten bei Greisen. In zweierlei Dingen unter-
scheide sich die Behandlung der heißen Ohraposteme von der anderer
Apostome.
Erstens müsse man von der Anwendung von „Repercussivis" absehen
und eher „Mitigativa" anwenden, da zu befürchten sei, daß der Eiter zu
irgend einem edlen Körperteile gelangen könne, wie zum Gehirne, wo er
eine Gehirnhautentzündung (phrenesim aut lethargiam) hervorrufe, oder
zu der Lunge, wo er Lungenerkrankungen verursache (Metastasen?).
Zweitens mögen auch keine ..Maturativa" verordnet werden. Zum Schlüsse
des Kapitels gibt Gordon den Rat, auf alle Vorschriften sorgsam zu
achten, da er viele, die an heißen Ohrapostemen litten, in den Händen
des Chirurgen sterben sah. Zur Illustration seiner Ansicht, daß man bei
akuten Ohreiterungen nicht sofort operativ vorgehen solle, erwähnt er
einen Fall, bei dem die unerträglichen Ohrenschmerzen, die allen Be-
handlungsmethoden nach den Regeln der Kunst des Galenus und
Avicenna widerstanden, durch die von ihm verordneten Einträufelungen
von Oleum de chamomilla ins Ohr geheilt wurden.
Kapitel XI, in dem er das „Ohrgeschwür" und den „Ohren-
fluß* (De ulcere aurium et sanie) bespricht, und Kapitel XII, Avelches
die „Blutung aus dem Ohre" (De sanguine fluente ab auribus) be-
handelt, enthalten durchwegs belanglose Details, die wir als ganz un-
interessant übergehen.
Erwähnenswert Aväre nur die Tatsache, daß G o r d o n vor der Blut-
stillung die gründliche Reinigung des Ohres empfiehlt, damit nachher
keine Eiterung entstehe (ne fiat sanies aut apostema).
Im Kapitel XIII zählt Gordon die Fremdkörper des Ohres
auf (De oppilatione auris a re cadente in eam), z. B. Wasser, Staub,
Flöhe, Würmer etc.; auch die Ohrpolypen rechnet er zu den Fremd-
körpern. Zur Entfernung eingedrungenen Wassers gibt er drei Methoden
56 Henri de Mondeville.
an: Nach vorhergegangener Reinigung des Ohres (corpore igitur mun-
dificato) möge eine Röhre in das Ohr eingeführt werden und irgend
eine niedrig gestellte Person (vilis persona) daran saugen. Oder man
könne zum Aufsaugen ein Kinderspielzeug (syrinx) benützen, mit dein
die Knaben Wasser aufziehen und dann wieder fortspritzen; endlich
kenne man auch ein Rohr mit einem Ende in das Ohr einführen und
an dessen äußerem Ende ein Feuer anzünden, durch welches das Ohr aus-
getrocknei werde.
Zur Entfernuno; von Würmern wird folgender ganz absonderlicher
Vorschlag gemacht: Der Patient lege sich mit dem Ohre auf einen in
der Mitte gespaltenen , ausgereiften Apfel ; dann würden die Würmer
schon zu diesem Lockmittel hinkriechen und man könne sie nun rasch
entfernen.
Polypen ätzt Gordon mit Auripigment oder er entfernt sie auf
operativem Wege.
Das XIV. Kapitel endlich, das sich „De apostematibus accidentibus
extra in radice auris" betitelt, und das Wesen und die Behandlung der
Parotitis bespricht, enthält in keiner Hinsicht etwas Bemerkenswertes.
Henri de Mondeville. Von dem französischen Anatomen und
Chirurgen Henri de Mondeville [1320?], der zuerst als Professor in
Montpellier und später als Leibarzt Philipps des Schönen von Frankreich
sich bei seinen Zeitgenossen großen Ansehens erfreute, ist vom otiatri-
schen Gesichtspunkte nur wenig Rühmliches zu berichten.
Daß die Anatomie des Gehörorgans durch ihn keine Förderung er-
fuhr, daß er sich mit den spärlichen Mitteilungen der älteren Anatomen
zufriedengab, nimmt uns bei dem Umstände nicht wunder, daß im Mittel-
alter Ueberlieferungen als Dogmen galten, an denen niemand zu rütteln
vragte. Wenn wir nichtsdestoweniger die Ausführungen Henris, soweit
sie sich auf das Gehörorgan beziehen, hier wiedergeben, so geschieht
dies bloß aus dem Grunde, weil seine Darstellungsweise vielen seiner
Nachfolger als Vorbild diente.
Au- der von Pagel nach den besten Handschriften zusammengestellten ersten
Ausgabe der Werke Henris zitieren wir die auf die Anatomie des Ohres Bezug
habenden Stellen.
Anathomia organorum auditus et auris. . . . Nervi ergo, qui sunt organa
auditus, oriuntur a cerebro et portant ad ipsum species sonorum et sunt concavi et
dilatantur in orbita foraminis .iuris et ibi multipliciter dividuntur et finiuntur.
Utilitates concavitatis istorum nervorum fuerunt duae: 1. ut spiritua audibilis per
ipsos libere valeat pertransire; 2. ut species sonorum audibilium valeant per eorum
concavitates ad cerebrum deportari. Utilitates, quare foramina aurium fuerunt tor-
tuosa, capitulo de anatomia capitis sunt ostensae. (Henri meint hier folgende
Stelle: Utilitates, quare foramina hujusmodi ossium in auribus fuerunt tortuosa,
fuerunt 2: 1. ut aSr transiena per ipsa ad cerebrum alteretur, ne cerebrum laedat
Henri de Mondeville. 57
et multis revolutionibus degradetur; quia excellens sensibile corrumpit sensurn, ut
patet in secundo de anirna, sed ex ejus longa remanentia in dictis revolutionibus
ejus excellentia minoratur. (Tract. I, Cap. 2, p. 28.) Auris est mernbrum coadjuvans
auditum et est membrum consimile vel officiale, complexione frigidum et siccuin,
cartilaginosum, nervosum, extra caput erninens, plicabile. Utilitas creationis auris
et quare apparens extra caput elevata fuit, ut soni, qui sunt flexibiles, valde sub
ejus umbra laterent, donec essent ab auditus organo apprehensi. Utilitates, quare
auris fuit plicabilis, fuerunt 2: 1. ut possent plicari sub cucufa sive mitra, et haec
utilitas debilis est, quia bruta habent aures plicabiles, quamvis mitra non utantur:
2. quia si non essent plicabiles, multotiens cum obviant corporibus duris extrinsecis,
lederentur. Utilitas, quare cartilaginosa, est, ut sustentetur et nibilominus aliquando
plicetur (Tract. I, Cap. 3, p. 31).
Von den 13 Abbildungen, die Henri seiner Anatomie nach den
Mitteilungen Guys von Chauliac beifügte und die übrigens bloß in
rohen Nachzeichnungen eines seiner Schüler erhalten sind, bezieht sich
keine auf das Gehörorgan, ein Beweis, wie gerade dieses Sinnesorgan
von den Alten stiefmütterlich behandelt wurde.
Von der Pathologie des Gehörorganes des Henri de Mondeville
wäre hier bloß das 12. Kapitel aus der IL Doktrin des III. Traktates
mitzuteilen.
An dieser Stelle spricht Henri „de cura apostematis, quod fit in
radice auris scilicet inter ejus foramen aut circumcirca immediate" nach
den Gesichtspunkten: 1. de notificatione ; 2. de cura; 3. de declarationi-
bus. Daß ihm die Lebensgefahr von Abszessen des Gehörorganes be-
kannt war, beweist die Stelle : „facit dolores acutissimos atque febrem et
quandoque mentis alienationem et mortem, maxime, quando fit in fora-
mine et in nervo". Gurlt ist der Ansicht, daß es sich bei diesen „apo-
stemata in radice auris" wahrscheinlich um Abszesse des äußeren Ge-
hörganges handeln dürfte. Wahrscheinlicher sind darunter Eiterungen
aus dem Gehörgange im allgemeinen zu verstehen, zumal ja die mittel-
alterlichen Aerzte in voller Unkenntnis des Mittelohrs die Lokalität der
Ohrerkrankung festzustellen nicht in der Lage waren.
Im nächsten Kapitel (XIII) bespricht Henri, dem Titel nach zu
schließen, die Parotitis. „De cura apostematum emunctorii cerebri, quod
est sub aure per spatium quattuor digitorum transversalium inter maxillas
et gulam in vacuitate super venam organicam ascendentem." Ueber
die Art dieser Erkrankung sowie der vorhin erwähnten fehlt jede Be-
schreibung.
Die genaue Besprechung der Ohrerkrankungen hat Mondeville der dritten
Doktrin des dritten Traktates vorbehalten, zu deren Ausführung es jedoch nicht
mehr kommen sollte, da ihn der Tod ereilte. Wir besitzen jedoch ein Inhaltsver-
zeichnis dieser dritten Doktrin, aus welchem der Plan der beabsichtigten Arbeit
ersichtlich ist. Im nachstehenden reproduzieren wir daraus den Abschnitt, der sich
auf das Gehörorgan bezieht: Cap. IV. De morbis organorum auditus, qui sunt 16:
< ruy de Chauliac.
1. DefectuB totalis auditus, vel amissio vel surditas. 2. Diminutio auditus in parte,
non in toto. 3. Corruptio ipsius. 4. Tinnitus aut sibilus. 5. Dolor immaterialis.
(i. Dolor qui est causa alterius morbi. 7. Dolor a causa vel materia intrinseca, qui
. -t aeeidens alterius morbi, ut ulceris et similium. 8. Res extrinseca existens in
foramine aurium. 9. Opilatio a nativitate. 10. Opilatio ex cerumine. 11. üpilatio
ex Verruca aut simili. 12. Fluxus sanguinis. 13. Pruritus. 14. Ulcus recens. 15. Fistula.
16. Tremor ex fortibus voeibus sive sonis.
Guy de Chauliac, dem geistvollsten Chirurgen des 14. Jahrhunderts
und gefeiertsten medizinischen Schriftsteller des Mittelalters, dessen „Chi-
rurgia" hei den zeitgenössischen Wundärzten sich einer großen Beliebt-
heit erfreute, hat die Ohrenheilkunde kaum eine bedeutendere Leistung
zu danken.
Was Chauliac in seinem berühmten Werke, „ Collectoriuni artis
chirurgicalis medicinae" (1363), das mit ungewöhnlicher Gelehrsamkeit,
umfassender Kenntnis der früheren Schriftsteller und vorzugsweiser Be-
nützung griechischer und arabischer Quellen verfaßt ist, über das Gehör-
organ zu sagen weiß, gibt ein charakteristisches Bild von der Stagnation
der wissenschaftlichen Forschung auf anatomischem Gebiete und von der
rohen, oberflächlichen Empirie bei der Behandlung von Ohrerkrankungen.
Obwohl der otologische Teil von Chauliacs Werk nicht jene Selb-
ständigkeit zeigt wie das seiner Vorgänger Saliceto und Lanfranchi,
so hat doch sein Collectorium den bleibenden Wert, uns die Behandlungs-
methoden der mittelalterlichen Wundärzte und Bader bei Ohrerkrankungen
drastisch vor Augen zu führen, weil Chauliac alles, was sich ihm nur
irgend Interessantes an Material darbot, darin zusammenstellte. Mit Recht
sagt daher von ihm ein Dichter des Mittelalters, Joannes Spinasius:
„Nam quae sparsa locis tot erant, haec scriptor in unum
Sedulus instar apis euneta coegit opus" *).
In richtiger Erkenntnis der Bedeutung der Anatomie für die Medizin
wird diese von Chauliac zu Beginn seines Werkes behandelt und ihr
der ganze 1. Traktat eingeräumt (De anatomia continens duas doctrinas).
Im 2. Kapitel (De anatomia faciei et partium eius) beschreibt er das
Gehörorgan. Zur Dlustrierung der Dürftigkeit dieser Beschreibung, die
auf den ersten Blick zeigt, daß Chauliac nie ein menschliches
Gehörorgan zergliedert hat, möge sie hier ungekürzt Platz finden:
„Aures cartilaginosae et anfractuosae, super os petrosum ad audiendum
sunt ordinatae. Ad eas perveniunt foramina tortuosa dicti ossis, et pori
seu nervi es quinto pari nervorum cerebri, in quibus est auditus. Et
sub auribus sunt carnes glandulosae, quae sunt cerebri emunetoria: iuxta
*) Siehe Chirurgia magna Guidonis de Cauliaco. Herausgegeben und kom-
mentiert von Laurentius Joubertus. Lugduni 1585. Einleitung p. 8.
Guy de Chauliac. 59
quae loca transeunt venae, quae (ut dicit Lanfrancus) portant partem
materiae spermaticae ad testiculos: itaque si incidantur, perditur gene-
ratio. Cuius contrarium tenet Gal. ut in tract. de phlebotomia recitat
Avicenna.u
Das ist alles, was wir von Chauliac über den Bau des Gehör-
organes erfahren.
Was die Pathologie anbelangt, so teilt G u i d o die chirurgischen
Erkrankungen ein in Eiterungen (apostemata), Wunden (vulnera), Ge-
schwüre (ulcera), Knochenerkrankungen (ossium passiones) und ver-
schiedene andere krankhafte Veränderungen (variae aegritudines). Nach
diesen Gesichtspunkten behandelt er auch die Krankheiten des Ohres.
Wir unterlassen es, auf seine Differenzierungen dieser Bezeichnungen näher
einzugehen, und wollen nur einige geschichtlich interessanten Bemerkungen
herausgreifen.
Ueber die Symptome der Ohrerkrankungen hat Guido ungefähr
folgende Ansicht: Rührt das Ohrenleiden von einer Eiterung her, so ist
es mit Fieber, Schmerzen, Mattigkeit und Pulsationen verbunden.
Wenn es von kaltem Eiter stamme, erkenne man dies aus der
Mattigkeit des Patienten mit Kältegefühl. Ohrenleiden, die warmen Eiter
erzeugen, sind von Hitze und stechenden Schmerzen begleitet. Trägt
die Zugluft am Ohrenleiden schuld, so bestehe Ohrensausen. Ist ein Ge-
schwür vorhanden, so leide der Patient an schmerzhaftem Zucken u. s. w.
Zur Diagnose eingedrungener Fremdkörper empfiehlt Guido
die Inspektion des Ohres bei einfallendem Sonnenlichte und gleichzeitiger
Erweiterung des äußeren Gehörganges mit einem Speculum oder einem
anderen Instrumente. Soweit sich dies aus der Literatur konstatieren läßt,
ist es Guido, der zum ersten Male ein Ohrenspeculum zur Erweiterung
des äußeren Gehörgauges erwähnt.
Für die Heilung der Taubheit und Schwerhörigkeit schlägt
Guido nebst dem ganzen großen therapeutischen Apparat der Griechen
und Araber allgemeine und örtliche Behandlung vor.
Die allgemeine Behandlung besteht in der Regelung der Diät, in
Purgativ- und Schmerzstillungsmitteln. Für die örtliche Behandlung gibt
Guido dem Ohrenarzte Weisungen, von denen man einige auch heute
noch anerkennen muß. So verlangt er beispielsweise, daß die Medika-
mente, die ins Ohr eingeflößt werden, weder allzu kalt, noch allzu
heiß seien, eine Maßregel, an die sich auch jeder moderne Ohrenarzt
halten wird.
Das Instrumentarium, das Guido für einen chirurgisch gebildeten
Otiater unumgänglich notwendig findet, besteht aus: Auriscalpia, Leva-
toria, Uncus parvae curvationis, Cannulae fugitivae; Suftümigatoriae,
Lana, Xylon, Spongia, Pannus, Viscum.
ßO Valescus de Taranta.
Valescus de Taranta. In keinem medizinischen Kompendium
. und L5. Jahrhunderts dürfte die Ohrenheilkunde in solch breiter
Ausführlichkeit behandelt sein als in dem Philonium s. Practica
tnedica (1418 beendigt) des Portugiesen Valescus (Balescou) von
Taranta (seit 1382 Lehrer in Montpellier). Man würde jedoch fehl-
gehen, wollte man aus dieser Tatsache den Schluß ziehen, daß im
Philonium viel Neues über Ohranatomie und Pathologie des Ohres
enthalten ist. Denn die Breitspurigkeit dieses Werkes ist nur das Er-
gebnis der peinlichen Genauigkeit, mit der der Autor die Arbeiten der
Alten und der arabischen Schriftsteller, sowie auch einiger Zeitgenossen
bei der Abfassung seines Sammelwerkes benützt hat. Nichtsdestoweniger
sind im Philonium auch manche selbständige Notizen und Beobachtungen
über Ohraffektionen enthalten, denen jedoch kein großer Wert beizu-
messen ist.
Die Darstellung der Ohrerkrankungen umfaßt das 49. — 50. Kapitel
des 2. Buches. Valescus beginnt mit der Anatomie des Ohres (Kap. 49).
Die Worte bei Beschreibung des Os petrosum : ..Ista quidem ossa habent
in se circungirationes et anfractuosi tates ad intra" beweisen,
daß Valescus wahrscheinlich auf Bruchflächen des zersprengten Felsen-
beins den komplizierten Bau des inneren Ohres erkannt hat, doch fehlte
es den Aerzten jener Periode an der nötigen Fertigkeit, die Details des
inneren Ohres anatomisch darzustellen. Seine anatomische Beschreibung
des Gehörorgans ist daher ebenso wertlos wie die aller anderen Anatomen
des Mittelalters.
In Kapitel 50 spricht Valescus „de nocumentis auris et primo de
surditate" nach dem Schema: Causae, Signa, Pronosticatio, Cura, Diaeta.
Clarificatio. Was er unter diesen Rubriken über die Schwerhörigkeit
mitteilt, beansprucht als reine Kompilation kein Interesse. Hervorzuheben
wäre bloß, daß Valescus lebensgefährliche Ohrerkrankungen kennt,
die durch Eiterungen hervorgerufen werden und für die er rasche Er-
öffnung vorschlägt: „si ibi sit apostema calidum: adest febris continua
pulsatio, dolor grandis cum orripilatione et tremor, et aliquando venit
permixtio intellectus: et aliquando mors nisi cito aperiatur". Ob hier
Eiterungen im Warzenfortsatze gemeint werden, wird aus dieser Stelle nicht
recht klar, da wir eine Beschreibung dieser Erkrankung gänzlich vermissen.
Das nächste Kapitel (51) handelt „De tinnitu aurium". Hier er-
wähnt Valescus selbst beobachtete Fälle von subjektiven Geräuschen
infolge Schädelerschütterung durch einen Schlag: „ego vidi hominem
iuvenem, qui fuit in capite percussus cum fuste lignea et exinde per
magnum tempus habuit capitis dolorem cum tinnitu aurium. Et vidi
pueru m cum manu frequenter supra aurem percussum et exinde factus
est surdus cum tinnitu''.
Nicola Nicole. 61
Das Kapitel 52 (De dolore auris) enthält bereits von anderen Au-
toren her bekannte Mitteilungen über den Ohrenschmerz, der nicht als
Symptom, sondern als selbständige Erkrankung behandelt wird.
Im Kapitel 53 hingegen, wo Valescus „De sanie et ulceribus au-
rium" spricht, hält er die „sanies aurium" nicht für eine Krankheit; er
sagt nämlich: sanies aurium non est morbus, und dann später: sanies
est signum morbi.
Von dem kurzen 54. Kapitel (De fluxu sanguinis aurium) und von
dem viel ausführlicheren 55. (De oppilatione auris a causis extrinseca
vel intrinseca) sind keine Details erwähnenswert.
Nicola Nicole. Einer der gelehrtesten und verständigsten Aerzte
des Mittelalters war unstreitig der Florentiner Nicola Nicole (1357
bis 1430), der seinen Zeitgenossen nur wenig und auch späteren Mediko-
historikern wie z. B. Sprengel gar nicht bekannt war. Man würde
jedoch fehlgehen, Nicolas Verdienst in irgend einer hervorragenden
Leistung auf dem Gebiete der Ohrenheilkunde zu suchen ; seine Bedeutung
besteht vielmehr in seiner trefflichen Kompilation, die er mit solchem
Verständnis und richtiger Auswahl hergestellt hat, daß sich in seiner
umfangreichen Schrift*) gewiß noch manche wichtige Momente zur Auf-
klärung der mittelalterlichen Medizin vorfinden müssen. Für uns ist eine
Bemerkung von ganz besonderem Interesse, die ich sonst bei den anderen
mittelalterlichen medizinischen Autoren nicht finde.
An einer Stelle**) erzählt nämlich Nicola: ein gewisser Simeon
empfehle bei Taubheit ein silbernes oder eisernes Rohr, welches genau
in den äußeren Gehörgang passe, ins Ohr einzuführen und wiederholt
heftig an diesem Rohre zu saugen, also mit anderen Worten die Luft
im äußeren Gehörgang zu verdünnen. (Et dixit Simeon: impone auri
cannulam argenteam vel aeneam factam ad modum ipsius auris et suga-
tur cum ea. cum violentia saepe. qm confert surditati vehementer.)
Wer dieser Simeon ist, konnte ich nicht feststellen; wahrscheinlich
dürfte es der am byzantinischen Hofe im 11. Jahrhundert lebende Arzt
Simeon Seth gewesen sein. Demnach wurde schon im 11. Jahrhundert
der therapeutische Einfluß der Luftverdünnung im äußeren (le-
hörgange bei manchen Ohrerkrankungen erkannt. Dies verdient des-
halb hervorgehoben zu werden, weil in allen Werken über Ohrenheil-
kunde der englische Militärarzt Gleland ) als derjenige angeführt
*) Nicolai Nicoli Florentini philosophi medicique praestantissimi Sermones
medicinales septem. (Venetiis 1491, 4 voll.; ibid. 1507 u. 1533.)
::::) Sermo tertius de membria capitis. Tract. VI. De aegritadinibus aurium.
Cap. II. De nocumenti8 auditus. p. 205 c.
***) Van Swieten zitiert nach: Komment, zu Boerliaves Aphorismen. Tom. II,
1805. p. 677.
62 Nicola Nicole.
wird, der zuerst die Luftverdünnung im äußeren Gehörgange thera-
peutisch angewendet hat.
Aus den „Sermones" des Nicola Nicole zitieren wir noch
li Grurlts vorzüglichem Geschichtswerke (I, p. 810): „Bei der Be-
handlung der Ohrenkrankheiten (Kap. 26) handelt es sich um die Aus-
ziehung der Fremdkörper aus dem äußeren Gehörgange in der bekannten
Weise." Es geschieht dies zum Teil ..cum picicarolis seu tenaculis
acutarum extreinitatum", oder ..cum uncina subtili pauce duplicationis
ut nun possis ledere aurem", oder mit Zuhilfenahme einer .,canulla ex
ere", die mittels weichen Wachses luftdicht an den Gehörgang angesetzt
und zum Aussaugen benützt wird. Bei einer Verstopfung ( ..oppilatio" )
des letzteren „earne nata in ea", also durch einen Granulationspolypen,
entfernt man diesen „cum spatumali subtili in cuius extremitate sit
quedam latitudo parva eius quedam pars sit acuta et reliquum spatumile
sit duorum laterum levium ut non ledat aurem".
Was Nicolas sonstige Ausführungen über unser Fach anbetrifft,
so findet sich in ihnen kaum etwas Neues; immerhin sind seine Mit-
teilungen, welche sich durch klare Diktion vorteilhaft von seinen Zeit-
genossen unterscheiden, angenehmer zu lesen als die gleichzeitigen
medizinischen Werke. Wer durch eigene Lektüre eine richtige Vor-
stellung von dem Stande der Otiatrie im Mittelalter erlangen will, wird
dieses Werk in erster Reihe mit Vorteil benützen.
Die Ohr affektion en werden in 11 Kapiteln besprochen und
zwar im Kapitel I: De quibusdam quaesitis circa auditum et circa aures
et solutionibus eorum et conservatione sanitatis aurium et auditus; im
Kapitel II : De nocumentis auditus ; im Kapitel III : De dolore auris ; im
Kapitel IV: De apostemate auris; im Kapitel V: De ulceribus et pustulis
et exitu sanguinis et saniei ab aure; im Kapitel VI: De sorde aggregata
in aure; im Kapitel VII: De oppilatione auris; im Kapitel VIII: De tinnitu
et sibilo; im Kapitel IX: De attritione auris seu conquassatione et pru-
ritu et tremore ex magnis vocibus; im Kapitel X: De aqua ingrediente
aurem ei aliis eandem ingredientibus, und im Kapitel XI endlich: De
verme generato in aure et aliis animalibus parvis intrantibus aurem.
Alle diese Kapitel enthalten, wie wir bereits früher ausführlich aus-
einandergesetzi halten, eine Auswahl aus der medizinischen Literatur der
Griechen. Araber und der christlichen Zeitgenossen und die umfassende
und genaue Zusammenstellung beweist nur die eminente Gelehrsamkeit
des Verfassers.
Die zahlreichen bisher nicht erwähnten medizinischen Autoren des
14. und 15. Jahrhunderts befassen sich in ihren umfangreichen Kom-
pendien mehr oder minder ausführlich mit der Otiatrie. Von dem Galeni-
schen Prinzipe geleitet, die Erkrankungen des menschlichen Körpers vom
Bruno da Longoburgo. 63
Scheitel bis zur Zehe (a capite ad calcem) zu besprechen, haben fast alle
in ihren Schriften den Leiden des Ohres bei den Kopfkrankheiten einen
Platz eingeräumt. Ueberall jedoch begegnen wir denselben gedanken-
losen Wiederholungen, ohne auf neue Gesichtspunkte oder originelle
Beobachtungen zu stoßen. Der Vollständigkeit halber sollen hier die
bedeutendsten Aerzte dieser Periode, die sich sonst um den Fortschritt
der medizinischen Wissenschaft einiges Verdienst erworben haben, kurz
erwähnt werden*).
Bruno da Longoburgo, der Zeit nach vor Guilelmo Saliceto (vergl.
p. 51), schließt sich in seiner „Chirurgia Magna" (1252) bei der Be-
sprechung des Ohrenschmerzes und der Extraktion der Fremdkörper aus
dem äußeren Gehörgange (Lib. II, Kap. 4) vollkommen den Angaben des
Paulus von Aegina und Abulkasim an. Niccolo Bertuccio (f 1342),
dessen Guy de Chauliac als seines Lehrers gedenkt, behandelt im
ersten Buche seines „Compendium sive collectorium artis medicae" die
Ohrerkrankungen nicht viel besser oder schlechter als seine Vorgänger.
In der Arbeit eines der bedeutendsten italienischen Chirurgen des
15. Jahrhunderts, der „De chirurgia libri VI" des Pietro d'Argellata
(f 1423; (Pietro de la Cerlata), der in vielen otiatrischen Werken**)
als der Erfinder des Ohrspeculums bezeichnet wird, jedoch mit Unrecht,
da Guy de Chauliac vor ihm dasselbe erwähnt (p. 59), handelt der
V. Traktat des II. Buches in 3 Kapiteln: „De apostematibus calidis, frigidis,
duribus". Im Kapitel V des III. Buches beschäftigt sich Argellata
mit den Wunden des Ohres und empfiehlt die Teile durch eine Naht
genau zu vereinigen. Bei Verwundungen durch einen Pfeil kommt es
darauf an, ob der Pfeil in die Schädelhöhle eingedrungen ist oder nicht.
Danach richtet sich dann die Prognose und Behandlung. Der V. Traktat
des IV. Buches bespricht „De ulceribus aurium" in zwei Kapiteln: „De
ulceribus putridis et virulentis et corrosivis aurium" und „De sanie
aurium et ulceribus earum in universali". Auch im IX. Traktat des
V. Buches wird einiges über Ohrerkrankungen vorgebracht.
Galeazzo di Santa Sofia (f 1427), der aus Padua von Albrecht IV.
an die neugegründete Wiener Universität berufen, im .Jahre 1404 die
ersten anatomischen Demonstrationen in Wien abgehalten hat, bringt
in seinem „Opus medicinae practicae saluberrimum" (Kap. 36) bloß
eine Kopie der arabischen Autoren. Dasselbe gilt von den ..Consilia"
des Benzi (y 1 193), der einer der größten Anatomen der vorvesalischen
Periode gewesen sein soll, und der „Practica" (Trakt. VI, Kap. 4) des
l Vbrgl. Grurlts „ Geschichte der Chirurgie", welche als verläßliche Quelle für
diese Periode zu bezeichnen ist.
**) Linkes Ohrenheilk. II, p. 23.
(;| Giovanni Arcolano.
Paduaners Savonarola (f nach 1440), des Großvaters des als Ketzer
annten Girolamo Savonarola. Unbedeutende Abhandlungen über
Ohraffektionen sind weiter in der „Practica nova" des Mailänders Gionni
da Concoreggio (geb. um 1380) und im „Admirabile et Novum opus"
des als Astrologen und Scholastiker bekannten Mengo Bianchelli (geb.
um 1440) enthalten.
Giovanni Arcolano (Johannes Arculanus), ein berühmter Arzt
aus Verona (f 1484?), empfiehlt in seiner „Practica" (Kap. 34 — 41)
die Umgebung des leidenden Ohres zu betasten, unterscheidet zwischen
Eiterung aus dem Ohre und Gehirnabszeß und beobachtet Geschmacks-
vcii'uiderung bei Ohrenleiden. Zur Entfernung von Fremdkörpern
aus dem äußeren Gehörgang hat er eine besondere Pinzette angegeben,
die er auch zur Entfernung von Fremdkörpern aus der Nase und aus der
Harnröhre benützt. Für das Aussaugen eingedrungenen Wassers bedient
er sich eines Schwammes, der stark zusammengedrückt in den Gehörgang
eingeführt wird („spongia facta subtilis per fortem constrictionem"). Zu
gleichem Zwecke verwendet er ..medullae meliguae, aut fustes anethi,
aut papirus palustris".
Eines komischen Beigeschmackes entbehrt nicht das von ihm zur Entfernung
von Insekten empfohlene Verfahren, nämlich den einer lebenden oder frisch ge-
töteten Eidechse abgeschnittenen Kopf in den Gehörgang zu bringen. Nach drei
.Stunden werde sich der fremde Körper im Munde der Eidechse befinden1').
Giovanni da-Vigo, ein gebürtiger Genuese (geb. 1460) schreibt,
im IL Buche, IL Traktat, Kapitel 11 — 12 seiner „Practica in arte chirur-
gica copiosa" über Ohrenkrankheiten entzündlicher Art. Ob es sich bei
den im Kapitel 13 abgehandelten „apostemata calida aut frigida sub
auribus evenientia" um Parotitiden handelt oder ob vielleicht Eiterungen
aus dem Warzenfortsatze gemeint sind, läßt sich nicht genau feststellen.
Die Therapie bei diesen Apostemen besteht in maturierenden Pflastern,
in der Eröffnung, eventuell in der Anwendung von Schröpf köpfen. Im
111. Traktat des IV. Buches befaßt sich Vigo neuerdings mit den Ohren-
krankheiten (Kap. 5 — 10). Er bespricht hier ..ulcera in inferiori parte
aurium nascentia", „Verruca nascens in aure", „tinnitus et ventositas
aurium", „dolor aurium", „surditas aurium" und schließlich die Fremd-
körper. Zur Entfernung von Wasser, das in den Gehörgang eingedrungen
ist, will er sogar den Katheter in Anwendung bringen: ..Syringa quo-
que sive argalia qua boni et experti chirurgi urinam hauriunt extra
vesicam." Endlich sei noch erwähnt, daß Vigo sich auch des Ohren-
spiegels bedient hat („ad solem speculo instrumento aure ampliata"). Bei
„Verruca nascens in aure" handelt es sich höchstwahrscheinlich um den
*) Pratica. Venetiis 1493. p. 60.
Jehan Yperman. 65
Polypen des äußeren Gehörganges. Da dieser die gleiche Behandlung
erfordert wie der Nasenpolyp, über den Vigo an anderer Stelle spricht
(Lib. II, Trakt. III, Kap. 0), so sei einiges darüber hier mitgeteilt.
Vigo unterscheidet einen krebsigen Polypen und einen gewöhnlichen
Schleimpolypen. Bei dem krebsig entarteten Polypen geht Vigo bloß
palliativ vor; den Schleimpolypen hingegen entfernt er durch Aetzmittel
oder Exstirpation mit nachheriger Anwendung adstringierender Mittel in
Pulver- und Salbenform.
Zum Schlüsse seien noch die folgenden am Ausgange des Mittel-
alters in Belgien, England und Deutschland wirkenden Aerzte erwähnt.
Der niederländische Chirurg Jehan Yperman aus dem 13. Jahr-
hundert, der seine fachmännische Bildung in Frankreich bei Lanfranchi
erhielt, hat sich in seinen chirurgischen Arbeiten auch mit der Otochirurgie
beschäftigt. Er empfiehlt die Befestigung eines halbabgehauenen Ohres
durch Naht, erklärt jedoch für unmöglich, daß ganz abgehauene Nasen
und Ohren wieder anheilen können 1). Bei Besprechung der Ohren-
krankheiten erörtert er die „zweeringen der oeren", „die zweeren die
wassen in de oeren'*, die Fremdkörper und Würmer. Zur Entfernung
der Fremdkörper bedient er sich einer langen, an ihrer Spitze stark ge-
krümmten Nadel. Außerdem enthält die Stelle noch einige Bemerkungen
über Ohrenfluß (loepinghen der oeren) und Taubheit 2).
Im nachstehenden seien weiters zwei englische Aerzte angeführt,
die, was die Otiatrie betrifft, ihre Vorfahren und Zeitgenossen nicht
überragen, da sie nur deren Werke eingehend benützt haben. Gilbertus
(Anglieus), dessen Leben ins 13. Jahrhundert fällt, befaßt sich im
III. Buche seines „Compendium medicinae" mit den Ohrenkrankheiten,
denen er 8 Abschnitte widmet. Auch sein Landsmann John of Ga-
desden, gewöhnlich Joannes Anglieus genannt, bringt im IL Traktat
des III. Buches seiner „Rosa Anglica practica" einiges über die Er-
krankungen der Ohren (Kap. 7). Er ist ein Gegner der zu seiner Zeit
gegen Schwerhörigkeit und Taubheit vielfach angewendeten Niesmittel,
da durch sie nach seinen Erfahrungen schwer zu stillendes Nasenbluten
hervorgerufen werden könne. Eiter im Ohre läßt er durch eine in den
Gehörgang gesteckte Röhre von einer Person, die sich dazu hergibt, mit
dem Munde aussaugen. Auch gegen subjektive Geräusche soll
dieses Mittel von Nutzen sein. Sicherlich beruht in diesem Falle
die günstige Wirkung nicht so sehr auf der Aufsaugung des Eiters, als
vielmehr auf der Luftverdünnung im äußeren Gehörgange, ein Moment,
das natürlich dem mittelalterlichen Arzte unbekannt war. Endlich sei
noch von dem deutschen Arzte Johannes de Ketham (15. Jahrhundert)
erwähnt, daß sich in seinem „Fasciculus medicinae" einiges findet, was
wir, weil es mit der Otiatrie in Beziehung steht, hier vorbringen. Er
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. °
(56 Manuskripte der Pariser Bibliotheque nationale.
beschäftigt sich dort vorzüglich mit den Ohrerkrankungen der Kinder,
und zwar in den Kapiteln: „De sanie aurium puerorum", „De veneno
fluente de aure", welches „accidit pueris ex vesica vel plaga accidente
in auricula". —
') La Chirurgie de maitre Jehan Yperman Chirurgien beige (XIHe — XlVe
siecle). Publiee pour la premiere fois, d'aprös la copie flamande de Cambridge par
M. C Broeckx. p. 83.
2) 1. c. p. 119—125.
Eine Prüfung des otiatrischen Inhaltes der medizinischen Handschriften aus
dem Mittelalter, die in nicht geringer Zahl in den verschiedenen Bibliotheken
aufgestapelt sind, fördert kaum neue oder interessante Tatsachen zu Tage. Ueberall
dieselbe Sterilität wie in den erst später gedruckten Kompendien der Zeitgenossen.
Ohne Ausnahme konnte ich diese Beobachtung bei allen Manuskripten machen,
die ich in den Bibliotheken zu Wien und Paris einer genaueren Durchsicht
unterzog. Sie alle weisen sowohl in der Anatomie des Ohres, als auch in der
Diagnostik und Behandlung der Ohrenkrankheiten keine neuen Gesichtspunkte auf.
und wir finden in ihnen nur die öftere Wahrnehmung bestätigt, daß die Autoren
dieses Zeitalters in ihren Schriften, denen es keineswegs an otiatrischem Inhalt ge-
bricht, die Griechen, vor allen Galen, und die Araber unbedingt und kritiklos
nachahmen.
Am Ende des 14. und zum Beginne des 15. Jahrhunderts erfreuten sich ins-
besondere die chirurgischen Arbeiten des seinem Zeitalter als Autorität geltenden
Lanfranc großer Beliebtheit. Einige Manuskripte, die ich in der Pariser Biblio-
thek fand , mögen für diejenigen , die näheren Einblick in sie zu nehmen beab-
sichtigen, erwähnt werden.
629. La cirurgie de Maistre de Lanfran ou Alenfranc de la este de Millan,
appele Art complet laquelle il compella a Paris en l'an 1295.
1323. La cirurgie de maistre Alanfranc de Millan, laquelle est appelee Art
complecte de cirurgie XV s.
L323. Ici se commence la cirurgie de maistre Lanfranc de Millan de Tan 1377.
1308. (De Thom. Colbert.) Le höre de medecine eompose en la eiste de
Pampliac par ung Docteur lequel est appele Dyacorides pour le profect du corps
humain ä l'encontre de maladies. — Commencement d. XVI. siecle.
2022. (Colbert.) Le livre nomine le regime du corps que fit jadis maistre
Alebrandin medecin du roy de france.
2027. (Mentel.) Ung abrege de Tanatomie de la saignie par Jehan de Borno
de la diocese Rutheniensis.
1317. La connaissance des corps humains lequel contient par pluseurs parties
et tractiea 170 Chapitres avec L'expositions des sönges en Tan 1396, par pere Nicole
Saoul autrement dict de Sanct Marcel de l'Ordre de N. D. du carme.
ij. Des Significations de la complexion et qui des oreilles.
Welche Deutung die äußere Form der Ohrmuschel zu jenen Zeiten erfuhr,
ergibt sich aus den folgenden Sätzen.
Les grands oreilles en la teste signifie quil soit estourde et de gros nutriment.
Item : al qui a les oreilles longues du travers signifie qui il est fol et hardi
völonteus.
Aus der Handschriftensammlung der Wiener k. k. Hofbibliothek sei als
Beispiel für viele das mittelhochdeutsche Manuskript 15106 angeführt:
Manuskript der Wiener Hofbibliothek.
67
[Fol. 4b].
Von den boesen gehören.
Di gehorde hizen div weisen hie be-
vor des mutes porten : di wird ettwenne
gar verlorn, ettwenne ein teil. Swenne
daz geschiht. der sol sich leigen an di
sunne. vh heiz im sehen in div oren.
vindet man im denne in den oren ein
geswer. oder platern. stoub oder asschen,
da vö ist, daz er niht gehören mach.
Ist aber daz der deheinz da vunden
wirt. so ist der siechtum von etlicher
vouht. oder von eim pladem . der sich
gesamnet hat in die ader, da daz hören
in get oder von eim geswer(,) daz in der
[Fol. 5 a] selben ader ist. Swem also
geschiht, der redet also sanft, daz man
in choum vernimt vh wirt agezzel. wil
do dem zehelfe chomen so vurbe im daz
houbet mit terapigra vnde heiz daz
enphahe den tumt in div orenQ der ge
ouz heizem wazze(,) da inne gesoten sei
venichel, aneis, petersil, rute vnde laz im
in die oren ole von tille oder von mandel-
chern. merche daz div ole(,) mit den man
wermen, trunchen od(er) ouf tun wil(,)
schuln sein gemachet von grünen schaben.
Von der or enchlingen.
Oren chlingene ettwenne von einem
grozem pladem oder von einer leimigen
vouht. Swem daz geschiht, der sol daz
houbet vurben mit terapigra vnde sol
lazzen in diu oren rosen ole mit ezzeiche
oder pibergeil. Swenne der siechtum ist
von chalter vouht(,) der soll lazzen pforren
souch mit weibes milche vnde mit rosen
ole vh lazze si in div orenc.) Darnach
nem wermute vh lege di in wein oder
in ezzeich vnd siede si dar inne also-
lange<.) vnz der weT hemtich werde von
der wermuet vnde lazze danne den tunst
also warmen gen in daz ore vh teche daz
houbet anderthalben dar(,) daz iz swizende
werde von dem tunst vnde seige denne
durch ein tuch zwivol souch(,) in tem sei
gelegen gepulverter chum drei tage(,) vnd
lazze des(,) so iz la sei(,) zwen oder drei
tropfen in daz ore, zwir oder drei stunt
in der wochen. Dan noch ist auch gilt
Von dem schlechten Gehör.
Das Gehör nannten die Weisen ehe-
mals die Pforte der Seele. Manches Mal
geht es gänzlich verloren , manches Mal
bloß ein Teil. Wenn dies einem ge-
schieht, führe ihn in das Sonnenlicht und
sieh ihm ins Ohr. Findet man dann in
den Ohren ein Geschwür oder Blattern,
Staub oder Asche, so ist dies die Ursache,
weshalb er nicht hört.
Ist aber davon nichts zu finden , so
rührt die Krankheit von Feuchtigkeit her
oder von einer Blähung, die sich gebildet
hat in der Ader, wo das Hören hinein-
geht, oder von einem Geschwür, das in
derselben Ader ist. Dem dies widerfährt,
der redet leise, daß man ihn kaum hört,
und wird vergeßlich. Will man ihm Hilfe
bringen, so reinige man das Haupt mit
Terapigra und lasse ihn den Dampf heißen
Wassers, in welchem Fenchel, Anis, Peter-
silie und Raute gekocht wurden, in die
Ohren aufnehmen, und gieße ihm Till-
oder Mandelkernöl ins Ohr. Merke, daß
.die Oele, mit denen man wärmen, trocknen
oder auftun will, von grünen Sachen ge-
macht sein sollen.
Vom Ohrenklingen.
Das Ohrenklingen entsteht infolge einer
großen Blähung oder infolge klebender
Feuchtigkeit. Wem das geschieht, der
soll das Haupt mit Terapigra reinigen
und soll einfließen lassen in die Ohren
Rosenöl mit Essig oder Bibergeil. Wenn
die Krankheit von kalter Feuchtigkeit
herrührt, so mische man Lauchsaft mit
Frauenmilch und mit Rosenöl und lasse
es in die Ohren. Hierauf nehme man
Wermut, lege ihn in Wein oder Essig
und koche ihn darin so lange , bis der
Wein bitter wird vom Wermut und lasse
dann den warmen Dunst ins Ohr gehen
und decke das halbe Haupt zu. damit es
schwitze von dem Dunst und seihe dann
durch ein Tuch Zwiebelsaft, in welchem
gepulverter Kümmel drei Tage gelegen
hat und lasse davon , sobald es lau ist,
zwei oder drei Tropfen in das Ohr. zwei-
oder dreimal in der Woche. Ferner ist
68
Manuskript der Wiener Hofbibliothek.
warmer ezzeich mit wermut '/ ouge des
zwir als vil sei sam des ezzeichesi.) des
soll man lazzen in div oren.
Dan noch machtn ein anderz tun, ,
nini rosen ole vnde ehren ole vnde pforren
souch vnde schaf galle(,) mische iz under
ein ander vnde lazze iz in div oren, so
iz la sei.
Von d (e r) oren siech tum.
Um die zwene siechtum(,) von den da
gesagt ist(,) ist an den oren dan noch
ander siechtunu,) der chumt von heizzer
sunne oder von chaltem lüfte. Ist er von
der 8unne(,) so enphindet man in den
oren grozzer hize. Ist (er) aber von
chelten(,) so enpfindet (man) grozzer
froste in den oren. Für den siechtum,
der da ist in den oren von der hize, sol
tu rosen ole mit weibes milche tempern
oder mit chürbiz souch vnd la daz in div
oren. Sei aber der ore wen von des luftes
dielten ode von ein geswer od von pladem
So nim lor ole vnde ole von tillen vnde
ole von Ham [Fol. 5b] tigen mandlch'n
vnde ole von ruten vnde mische daz mit
schaffe harn oder mit rinder harne. Sein
dir div oren in dem houbet frat(,) so sivde
wermuete in weine vn mische den wein
mit ole von pherschechen oder mit rettich
souch vnde la daz in div oren oder nim
vnzei(li)ger pferseich souch vn la den in
div oren.
Von den wurme di in den oren.
Nim einen gepraten apfel also heizen
vnde sneide in von ein ander vnde lege
in vber daz oreg da div wurme inne sint(,)
so gent si ouz( ) Alsam tut ein ater(,)
div in eins menschen magen ist, div get
ouzher durch den mut(!) ob man niwe
molche milch warme für den munt sezet(,)
dar zu ist ouch poches bluot also warm,
daz soll er trinchen.
noch gut warmer Essig mit Wermut. Be-
achte, daß davon zweimal so viel sei als
von dem Essig und lasse davon in die
Ohren.
Auch kann man etwas anderes tun;
man nimmt Rosen- , Krenöl , Lauchsaft
oder Schafgalle, mischt es untereinander
und läßt es in die Ohren, sobald es lau ist.
Vom Siechtum der Ohren.
Außer den bereits besprochenen zwei
Erkrankungen der Ohren gibt es noch
eine dritte, welche von heißer Sonne oder
kalter Luft entsteht. Entsteht sie von
der Sonne, so empfindet man in den Ohren
große Hitze, rührt sie aber von der Kälte
her, so empfindet man großen Frost in
den Ohren. Gegen die Erkrankung, welche
infolge von Hitze in den Ohren entstan-
den ist , temperiere Rosenöl mit Frauen-
milch oder Kürbissaft und gib das in
die Ohren. Rührt aber der Ohrenschmerz
von der Kälte der Luft oder von einem
Geschwür oder von Blähungen her, so
nimm Lorbeeröl, Tillöl, Oel von bitteren
Mandelkernen und Eautenöl und mische
dies mit Schafs- oder Rinderharn. Sind
die Ohren im Kopfe entzündet, so siede
Wermut in Wein und mische den Wein
mit Pfirsichöl oder Rettigsaft und gib
das ins Ohr, oder nimm Saft unreifer
Pfirsiche und gib das ins Ohr.
Von den Ohrwürmern.
Nimm einen gebratenen Apfel, so heiß
wie er ist, schneide ihn auseinander und
lege ihn auf das Ohr , wo die Würmer
sind ; sie werden herausgehen. Ebenso
tut eine Natter, die im Magen eines
Menschen ist ; die geht durch den Mund
heraus, wenn man frischgemolkene Milch
warm an den Mund setzt; dazu ist auch
Bocksblut gut, so warm wie es ist, das
soll er trinken.
Bezeichnend für den Geist der therapeutischen Ansichten im 14. Jahrhundert
in Frankreich ist auch eine Sammlung von Rezepten, die in einem in der Biblio-
thek von Evreux befindlichen Manuskript enthalten sind (Recettes medicales en
francais publiees d'apres le Manuscrit 23), veröffentlicht durch Paul Meyer und
Ch. Joret in der Romania 18, p. 571 ff. Die Stelle, welche sich auf die Ohrenheil-
Anatomie und Physiologie des Ohres im Mittelalter. 69
künde bezieht, hat folgenden Wortlaut: p. 573, 13. Pour les orelles sourdes, prenez
le jus de mente et de aluine, si le fetes tieve, et metez es orelles, si garront; et se
il i a vers, si destrempez le jus de mente de vin et coulez parmi j. drap si le faites
tieuve, et metez es orelles, si garront.
14. A home qui a este longuement sourt metez le jus de hieble tieve. si garra.
Zur Anatomie und Physiologie des Gehörorganes im Mittelalter.
Wie eingangs dieses Abschnittes erwähnt wurde, war es im Mittel-
alter um die Anatomie und Physiologie des Ohres schlecht bestellt*).
Von den anatomischen Produkten der salernitanischen Schule, an
der menschliche Leichen nicht seziert wurden, führen wir die „Ana-
tomia porci" das Copho junior (1085 — 1100) an. Sie enthält über
das Gehörorgan bloß den Satz: Nervus qui ab interioribus venit ....
ad aures, dicitur auditorius nervus. Wie man sieht, eine sehr dürftige
Leistung. Nicht viel besser steht es mit einer anderen anatomischen
Arbeit der salernitanischen Schule, der sogen. „Demonstratio ana-
tomica"**), in der nicht einmal der Versuch einer Beschreibung des
Gehörorgans gemacht wird. Das „Poema anatomicum" ***) endlich
enthält folgende Verse im Liber primus:
*) Aus v. Töplys „Studien zur Geschichte der Anatomie im Mittelalter" geben
wir hier eine Zusammenstellung der ohranatomischen Literatur im genannten Zeit-
räume, die jedoch nichts Bemerkenswertes enthält und selbstverständlich keinen An-
spruch auf Vollständigkeit erhebt :
Pseudogalenische Schriften: De compagine membrorum s. de natura
li umana. A. 2. Gehör. De anatomia vivorum. B. 7. Ohr.
Der Anonymus des Lauremberg: 'Avo>v6u.ou elaaftay'i] otvaTojuvq. (Nach
Sprengel aus dem 4. Jahrhundert stammend.) C. 54. Ohr, Ohrmuschel,
Trommelfell.
Oreibasios (326—403 n.Chr.). 24. Buch. Eingeweidelehre: 7. Ohren.
Nemesios (im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts): iTsp! vüsbok; avttpcorc&'j.
10. Gehör.
Meletios (600 — 800? n. Chr.), Anecdota graeca e codd. manuscriptis biblio-
thecarum Oxoniensium descripsit J. A. Cramer. B. 7. Ohren.
'Ali ben el-'Abbäs (Haly Abbas) el-Madschusi (f 994), Liber omnia com-
plectens, quae ad artem medicam spectant. 3. Buch. Kap. 15.
Abu Merwän ibn Zohr (Avenzohar) . f 1162. Khitäb-el-kullidschät.
19. Ohren.
Ibn Abu Oseibia (f 1269). 6. Anatomie der Sinneswerkzeuge.
Abu Bekr Muhammed ben Zakeryja el-Räzi. N. 65. Liber de figura
aurium. N. 67. Liber de figura auditoriae cavernae (nach Wüstenfeld). In
der Anatomie des Rhazes. Kap. 10. Das Ohr.
Bartholomaeus Anglicus. De genuinis rerum coelestium, terrestrium et
infernarum proprietatibus libri XVIII. V. Buch, Kap. 12. Ohren.
**) Renzi, Coli. Salernit. II, p. 390.
***) id. II, p. 391.
~{\ .Mondino de Liuzzi.
Quod voces bauris hinc noraen suscipit auris :
Purs auris summa de primo primula dicta
Significat primum venit inde bipennis avitum*).
Auch die Arbeiten der anderen Anatomen des Mittelalters bieten
nur sehr dürftige Leistungen über die Anatomie des Ohres, so z. B.
Ricardus Anglicus in seiner „Anatomia" **) (ca. 1242 — 52), welche
Prof. Robert von Tüply zum ersten Male nach einem in der Wiener
Hofbibliothek befindlichen Manuskripte herausgegegeben hat. Schon
der Beginn des 17. Kapitels, das die Beschreibung des Ohres (de
auribus)***) enthält, beweist die mönchische Richtung des Autors. Im
weiteren Verlaufe vergleicht Ricardus den „aer quietus" (= complan-
tatus) im Innern des Ohres mit dem „cristallinus humor" des Auges
und das Trommelfell (panniculus), von dem er nichts anderes mitteilt,
als daß es vom Hörnerven abstamme (oritur a nervo descendente a quinto
pari nervorum cerebri) und dem Felsenbein seine ganze Sensibilität ver-
leihe (totam ei prestat sensibilitatem quam habet), mit der Pupille des
Auges. Von geringem Wert ist die „Practica" des Joannes Mattaeus
de Gradibus (f 1472), der die Ohranatomie und die Ohrerkrankungen,
ohne neue Gesichtspunkte, nach den Schriften der Vorgänger be-
arbeitet hat.
Einen, wenn auch geringen Fortschritt erfuhr die anatomische
Wissenschaft erst durch Mondino.
Mondino de Liuzzi. Die „Anathomia'' des Mondino de Liuzzi
(geb. zu Bologna um 1275, f 1326), die nach der Erfindung der Buch-
druckerkunst f) nicht weniger als 25 Auflagen erlebte, war im 14. Jahr-
hundert neben Galens anatomischem Werke das allgemein gebräuch-
liche Lehrbuch der Anatomie. Doch kann die kurze Schrift keinen
Anspruch auf Selbständigkeit machen, da Mondino mit wenigen Aus-
nahmen den Standpunkt Galens vertritt. Sie ist nur deshalb von
einigem Interesse, weil ihr Verfasser einer der ersten war, der menschliche
Leichen sezierte und für seine Schüler eine Anleitung zum Sezieren
verfaßte. Die Stelle, welche „De Anathomia Auris" behandelt, be-
findet sich am Ende der Schrift; sie lautet:
His expeditis videbis aurem positam a latere capitis: quia sonus
percipitur a dextris et a sinistris et ante et retro et sursum et deorsum
et ideo instrumentura eius oportuit locari in dextra et sinistra: non autem
in parte anteriori : quia ibi erant instrumenta aliorum sensuum.
i id. V. p. 178.
) Anatomia Ricardi Anglici. Primum ed. Hob. Töply Eques, Vindob. 1902.
) 1. c. p. 15.
7) Die erste Auflage wurde 1478 in Venedig gedruckt.
Mondino de Liuzzi. 71
Auris autem fuit figurae rotundae in nomine vel circularis : ut esset
plurimum capacissiraa : et cartilaginosa.
Cartilaginosa autem fuit: ut esset ab alterantibus extrinsecus tuta.
Et ut esset sonora, cuius foramen est longum terminatum ad os petrosum
in cuius concavitate est Spiritus audibilis complantatus: qui est instru-
mentum auditus. Et eius foramen vel cavernositates cooperit panni-
culus subtilis contextus ex villis nervorum auditus iam supra dictorum.
Ossa autem alia quae sunt infra basilare: non bene ad sensum apparent
nisi ossa illa decoquantur: sed propter peccatum dimittere consuevi, verum
est quae de mandibularum ossibus potes videre principium et finem. In-
cipiunt. n. a commissura sive addorea quae est inter craneom et basilare
in loco qui est in fine supercilii et frontis: et procedit versus partem
posteriorem iuxta os petrosum et ad auriculam terminatur: aut ad dentes:
quorum anothomiam supra dixi. (Anothomia Mundini noviter impressa
ac per Carpum castigata. 1514.)
Die Anatomie des Gehörorgans des Mondino, die wir hier dem
ganzen Wortlaute nach geben, zeigt den geringen Fortschritt, den dieser
Teil der Anatomie von Seite des im Mittelalter als erste Autorität auf
anatomischem Gebiete geltenden Autors erfahren hat.
Seine Schilderung unterscheidet sich dadurch von der früherer
Autoren, daß sie den „spiritus audibilis complantatus" in eine Concavit'ät
des Os petrosum verlegt und von einem „panniculus subtilis" spricht,
der sich aus den Verzweigungen (villis) des Hörnerven zusammensetzt
und von manchen Autoren als Trommelfell gedeutet wird.
Der Umstand jedoch, daß ein „panniculus" schon von früheren
Autoren erwähnt wird und Mondino ihn als eine Ausbreitung des
Hörnerven ansieht, vom Hammer aber nichts erwähnt, beweist, daß
Mondino selbst das Gehörorgan nicht oder nur sehr oberflächlich
untersucht und bloß aus den Mitteilungen seiner Vorgänger geschöpft
hat. Wie schwer noch in dieser Periode des Mittelalters das Verbot,
menschliche Leichen zu sezieren, auf der anatomischen Forschung lastete
und wie sehr dieses Dogma bis ins 16. Jahrhundert den Forschungs-
drang mancher Aerzte lähmte, zeigt die Aeußerung Mondino s, daß
sich die Details des Felsenbeins besser zur Anschauung bringen ließen,
wenn man den Knochen auskochte, eine Prozedur, die er als eine Sünde
unterließ.
Der ersten Anregung zur anatomischen Forschung durch Mon-
dino folgt abermals eine fast zwei Jahrhunderte andauernde Stagnation,
die erst mit dem Aufblühen der Künste und Wissenschaften in Italien
im 16. Jahrhundert ihr Ende erreicht. Denn das, was Betrucci, ein
Schüler Mondinos (1347), die schon früher erwähnten Mondeville (1350)
und Petr. de Argellata (1423), Bartolomeo Montagnana (1460)
7_> Mondino de Liuzzi.
and selbst der verdienstvolle Alex. Achillini geschaffen, ist so gering-
ftio-io-, daß es für den Fortschritt der anatomischen Wissenschaft kaum
in Betracht kommt. Wie lange noch die dürftige Anatomie des Mon-
dino als maßgebend galt, beweist die Tatsache, daß Achillini in
seinen „Annotationes in Anatomiam Mundini" 110 Jahre nach Mondino
und J. B. da Carpi noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts, vor dem Er-
scheinen seiner „Isagoga", es für zweckmäßig fanden, die Anatomie des
Mondino zu kommentieren und herauszugeben.
Die Otiatrie in der Uebergangsperiode zur Neuzeit.
a) Vorläufer der großen Anatomen Italiens.
Achillini. Berengario da Carpi. Nie. Massa.
Die erste Etappe zur Durchforschung des Gehörorgans bildete die
Auffindung von Hammer und Amboß. Der Zeitpunkt ihrer Entdeckung
wird von den Historikern in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ver-
legt, doch ist es sehr wahrscheinlich, daß die schon bei oberflächlicher
Zergliederung leicht darstellbaren Knöchelchen viel früher von un-
bekannten Anatomen oder Chirurgen zufallig entdeckt wurden, ohne daß
ihre Bedeutung erkannt worden wäre*).
Als Entdecker des Hammers und Amboßes werden Achillini und
Berengario da Carpi, zwei hervorragende Anatomen des zur Neige
gehenden 15. Jahrhunderts, angeführt; doch kommt Achillini, wie
wir sehen werden, hierbei nicht in Betracht und Carpi kann nur das
Verdienst in Anspruch nehmen, bei seiner Beschreibung des Gehör-
organs den Hammer und Amboß zuerst erwähnt, nicht aber sie entdeckt
zu haben.
Achillini.
In den meisten historischen Werken wird Alessandro Achillini
(1463 — 1512) als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet.
Achillini, ein Bolognese, einer der hervorragendsten Gelehrten in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, lehrte in seiner Geburtsstadt und
später in Padua Philosophie und Medizin und betätigte in beiden
Wissenszweigen seinen eminenten Scharfsinn in hervorragender Weise.
Obzwar noch Arabist, war er doch einer der ersten, die den Mut hatten,
menschliche Leichen zu sezieren.
Neben anderen umfangreichen Werken erschienen posthum seine
„Annotationes anatomicae in Mundinum", Bononiae 1520. Das ganz dünne
Bändchen ist weder in der Wiener Universitäts- noch in der Hof bibliothek
*) Potuit enim ignobili cuidam ac minus docto Prosectori, aut Chirurgo, qui
probe dijudicando , aut publice inclicando , quod casu reperisset, ut saepe fit, par
ipse non esset, id Achillini, et Carpensis temporibus aeeidisse in Malleo et Incude
quod postea in Stapede sibi obtigisse, Ingrassias testatur! (Morgagni, Epistol.
anatom., VI., 3.)
74 Berengario da Carpi.
vorhanden. Die kurze Beschreibung des Ohres in demselben verdanke
ich einem befreundeten Kollegen, der während seines Londoner Auf-
enthaltes im Sommer 1905 aus dem in der Bibliothek des College of
Surgeons befindlichen Exemplare mir die betreffende Notiz zukommen
ließ. Sie lautet:
„Auris: lateralis capiti ; rotundae figurae. cartilaginosa ambiqui foraminis, in
cuius extremitate est niiringa claudens in osse petroso aerem coronalem."
In dieser kurzen Skizze ist wohl „miringa" ein Hinweis auf das
Trommelfell, doch enthält sie nichts über die Gehörknöchelchen. Die
irrtümliche Annahme der Priorität Achill inis bei dieser anatomischen
Entdeckung beruht offenbar auf der falsch ausgelegten Stelle des Nie.
Massa, die eigentlich nur besagt, daß die Entdeckung zur Zeit Achil-
linis erfolgte:
„Haec ossicula anatomici tempore Achillini. viri in omni scientiarum genere
eminentissimi (ut ex eius scriptis clarissime videre est) invenerunt. Nie. Massa, Epist.
medicinales. Yenetiis 1558. Ep. V. f. 55. b.
Welche „scripta" des Achillini hier gemeint sind, konnte ich nicht
eruieren, da ich bei Durchsicht der anderen Werke Achillin is keine
auf die Anatomie des Gehörorgans bezügliche Stelle fand.
Berengario da Carpi.
Jacopo Berengario da Carpi wurde kurz vor 1470 in Carpi
bei Modena als Sohn eines angesehenen Wundarztes geboren, studierte
in Bologna, lebte dann als Arzt in seiner Heimat, floh aus politischen
Ursachen nach Bologna, wo er von 1502 — 1527 die Professur der
Chirurgie mit ausgezeichnetem Erfolge bekleidete. Beschuldigt, Vivi-
sektionen am Menschen ausgeführt zu haben, begab er sich von hier in
die freiwillige Verbannung nach Ferrara, woselbst er 1550 starb.
Carpi erlangte große Berühmtheit, als Arzt durch Verwendung des
Merkur bei venerischen Krankheiten, als Chirurg durch treffliche Behand-
lung der Schußwunden und Schädelverletzungen, als Anatom durch eine
Fülle von wertvollen Entdeckungen, die er bei Sektionen an mensch-
lichen Leichen machte. Seine Erfahrungen legte er in den zwei Werken
nieder: „Anatomi Carpi Isagogae breves Perlucidae ac uberrimae in Ana-
tomiam humani corporis a communi Medicorum Academia usitatam etc.u,
Bonon. 1514 und „Commentaria cum amplissimis additionibus super
anatomiam Mundini, una cum textu ejus in pristinum et verum nitorem
redacto", Bonon. 1521.
Berengario war der erste Anatom, der seinen Werken eine An-
zahl in der Ausführung recht roher anatomischer Abbildungen beigab.
Berengario da Carpi. 75
Von seinen Leistungen sei hier nur die Entdeckung der Keilbeinhöhle
und des Wurmfortsatzes hervorgehoben. Er kannte die Membrana tym-
pani genauer als seine Vorgänger und entschied sich in dem damaligen
Streite, ob sie von den Gehirnhäuten, Periost oder dem Gehörnerv ab-
geleitet werden sollte, für die letztere irrige Ansicht, die er von Mondino
überkommen hatte*).
Die bezüglichen Stellen über das Trommelfell und die Gehör-
knöchelchen in der „Isagoga" lauten:
„intra quod est certa vacuitas, quam claudit quidam panniculus
subtilis et solidus."
„Sunt aliqui volentes praedictum panniculum oriri a pia matre quae
transit cum nervo auditivo ad praedictam vacuitatem: de suo tarnen
ortu vide comenta."
„In praedicta vacuitate, quam ante velat praedictus panniculus, est
aer implantatus, qui suspicit species auditus quas dat nervo auditorio
dilatato in panniculum, qui vocatur miringa auris.';
Der letzte Satz würde in deutscher Uebersetzung lauten: In der
genannten Höhlung, welche das Trommelfell verschließt (somit in der
Trommelhöhle), befindet sich der Aer implantatus, der die Arten des
Hörens aufnimmt, die er auf den in ein Fell ausgespannten Hörnerv
überträgt.
Die Stelle über die Gehörknöchelchen lautet:
„et huic panniculo intra praedictam vacuitatem adiacent cluo ossi-
cula parva apta moveri ab aere ibidem proximo moto, quae in suo
motu se invicem percutiunt, a quibus secundum aliquos causantur omnes
speties (species) soni: plus et minus secundum aerem extrinsecus motum."
Zu Deutsch: an diesem Fell (Trommelfell) lagern innerhalb der
genannten Höhlung (Trommelhöhle) zwei kleine Knöchelchen, welche
geeignet sind, von der dort bewegten Luft bewegt zu werden und sich
in ihrer Bewegung mehr oder weniger, je nach der Bewegung der
äußeren Luft, wechselseitig erschüttern.
Aus dem letzten Zitate ist ersichtlich, daß Carpi sich keineswegs
als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet. In der
Isagoga Carpis geschieht deren ohne Benennung nur Erwähnung, und
erst in den Kommentarien werden sie mit ihrem Namen bezeichnet.
Eine genaue Schilderung ihrer Form und Größe vermissen wir aber hier
ebenso wie Angaben über Form, Größe und Wölbung des Trommelfells.
Vom Labyrinthe hatte Carpi wohl Kenntnis, doch äußert sie sich nur
in unklaren Andeutungen.
*) Comnientar. in Mundin. f. 477 a, b.
~,\ Nie. Massa.
Nie. Massa.
Zu den Vorläufern der großen Epoche der Wiedergeburt der ana-
tomischen Wissenschaft zählen noch Nie. Massa, Alessandro Bene-
detti und Gabr. Z er bis.
Xicolaus Massa (f 1569), dessen Werk*) einige interessante
historische Daten enthält, erwähnt das Trommelfell nur kurz (ista cavitas
tegitur a quadam membrana subtili dura), es werde „meninga" auf
Griechisch oder auch „timpanum" genannt. Von den beiden Gehör-
knöchelchen (supra quam membranam intus sunt) sagt er, daß sie
wie die Schlegel einer Trommel (ad modum malleorum timpani) aus-
sehen und daher die Bezeichnung „malleoli" erhalten hätten; er be-
schreibt sie als beweglich und mit dem Trommelfell zusammenhängend
(mobilia et adhaerentia) und hebt hervor, daß sie sich nach den
Schwingungen des Trommelfells mitbewegen (moventur ad motum dietae
membranae). Von Interesse ist die von ihm angeführte Sektionsmethode,,
nach welcher Gehörknöchelchen und Trommelfell aufgefunden würden.
Aus seinen nicht ganz klaren Ausführungen scheint nämlich hervor-
zugehen, daß er das Dach der Trommelhöhle lateral wärts von der
Eminentia arcuata der Pyramide mit dem Skalpell entfernt und das
Trommelfell mit dem Hammer und Amboß freilegt, eine Technik, wie
sie auch heute noch geübt wird. Die betreffende Stelle lautet:
Nota quod a lateribus cavitatis cranei supra os basilare , ubi correspondent
exterius aures , sunt duae eminentiae osseae , una a dextris altera a sinistris , quas
erainentias osseas oportet diligenter scalpello ineidere, ne intrinsecae partes frangantur,
quae intra cavum ossis sunt . et sie elevato ossa apparebunt ista ossicula iacentia
supra meningam, timpanum aliter dietam, quae quidem meninga, ut dixi, correspondet
foramini auris in osse exteriori.
Gleichzeitig fordert Massa auf, bei der Präparation die krummen
Gänge des Knochens zu besichtigen (vide etiam diligenter anfractus ossis
intrinseci, ubi facta incisio). Welcher Wert übrigens seinen anato-
mischen Daten beigemessen werden darf, ergibt sich aus der Angabe,
daß der Gehörnerv bis zum Trommelfell verlaufe (videbis nervum trans-
euntem per substantiam ossis ad timpanum).
Die Arbeit „Historia corporis humani sive anatomice", Venetiis 1497, des
Italieners Alessandro Benedetti enthält im 38. Kapitel des 4. Buches bloß
einen dürftigen Hinweis auf das Trommelfell. Er sagt dort nämlich, daß am Ende
des äußeren Gehörganges eine Membran ausgespannt sei, die man „mininga" nenne
*) Nicolai Ma.--.-a, Veneti artium et raedicinae doctoris L i b e r introduc-
torius Anatomiae, sive dissectionis corporis humani, nunc primum ab ipso auetore
in lucem editus etc. 1536. Cap. XXXXI. De dissectione aurium, nasi, et superiorum
maxillarum, una cum osse basilari, p. 93.
Alessandro Benedetti. 77
(in imo anfractu membrana posita est, quam miniiiga vocant). Seine weiteren phan-
tastischen Ausführungen, daß beim Trommelfell die Luftstöße aufhören und infolge
ihrer Nähe zum Gehirne geleitet werden, daß diese Membran vom Gehirne abstamme,
durch dessen Vermittlung mit der Zunge in Verbindung stehe u. s. w. .(hac aeris
ictus desinit : qui ad cerebrum vicinitate defertur : qm ea membrana a cerebro est ;
cuius connexione linguae annectitur etc.) sind kaum von wesentlichem Interesse.
Auf die dürftigen Angaben Zerbis*), nicht zu reden von den deutschen
Anatomen dieser Zeitepoche, kann liier verzichtet werden.
Anhang.
Nach den neueren historischen Forschungen wird auf Grundlage der in den
königl. Bibliotheken in Windsor und Paris befindlichen Manuskripte und anatomi-
schen Handzeichnungen Lionardo da Vinci als der hervorragendste Vorläufer der
großen Anatomen Italiens, ja als der eigentliche Begründer der menschlichen Ana-
tomie bezeichnet**). Lionardos anatomische Studien an zahlreichen menschlichen
Leichen fallen in das Ende des 15. und in die ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts,
somit in die vorvesalische Periode. Zu seinem Zeitgenossen Berengar da Carpi
dürfte Lionardo kaum in Beziehungen getreten sein. Während nämlich die ana-
tomischen Zeichnungen Lionardos von wahrhaft künstlerischer Schönheit sind und
an Exaktheit und Naturtreue nichts zu wünschen übrig lassen, sind die in der
„Isagoga" Carpis enthaltenen anatomischen Abbildungen nicht nur roh und un-
künstlerisch, sondern auch fehlerhaft.
So umfangreich und eingehend nach dem noch vorhandenen Material die
anatomischen Forschungen Lionardos auch waren, so wenig scheint er sich mit
der Anatomie der Sinnesorgane beschäftigt zu haben. Blumenbach gibt zwar an,
daß er Zeichnungen Lionardos vom Gehirne, Auge und Ohr gesehen habe (Holl. 1. c);
doch dürften damit nur Zeichnungen der Ohrmuschel gemeint sein. Einen Versuch,
den Bau des inneren Ohres näher kennen zu lernen, hat Lionardo nicht unter-
nommen. Wenn er bei seinen physiologischen Reflexionen über den Nutzen der
Sinnesorgane bezüglich des Gehörs von „konkaven Porositäten des Os petrosum,
welches innen im Ohr liegt" ***), spricht, so hat er offenbar damit die Ueberlieferung
der Araber und der mittelalterlichen Anatomen wiedergegeben.
b) Die Otiatrie in der Renaissancezeit.
Yesal. Ingrassia. Falloppio. Eustachi«).
Italien darf mit Stolz das große Verdienst für sich in Anspruch
nehmen, daß hier die Anatomie des Gehörorgans und damit die Grund-
lage für die wissenschaftliche Otiatrie geschaffen wurde. Dank dem
großen Aufschwünge der Künste und Wissenschaften im 15. und 16. Jahr-
hundert war auch die Anatomie in ein neues Stadium rascher Entwick-
*) Anatomia corporis humani et singulor. Membror. über. Venet. K>0'J.
**) Holl, Die Anatomie des Lionardo da Vinci. Archiv f. Anatomie u.
Physiologie 1905, Heft II. u. 111.
***) Holl, 1. c. p. 238.
7g Die Otiatrie in der Renaissancezeit,
luiiu- getreten, nachdem man aufgehört hatte, sich an die kirchlichen
Verbote von Sektionen menschlicher Leichen zu kehren. Auf der frei-
er wordenen Bahn der Naturforschung folgten einander nun rasch die
wichtigsten anatomischen Entdeckungen. Mit Bewunderung sehen wil-
den edlen Wettstreit um die Förderung der Anatomie, der sich an den
hervorragenden Pflanzstätten der Wissenschaft, vor allem in Padua,
Bologna, Pavia, Palermo, Neapel und Rom*), entwickelte, und an dem
sich die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit beteiligten. Unter diesen
Männern wird die Geschichte der Ohrenheilkunde die Namen Vesal,
Falloppio, Ingrassia, Eustachio und C asser io für alle Zeiten als
die bahnbrechenden Forscher auf dem Gebiete der Ohranatomie feiern.
Während fast alle medizinischen Wissenszweige ein mehr oder
weniger reiches Erbe aus dem allerdings bescheidenen anatomischen
Forschungsschatze des Altertums zugeteilt erhielten, hatte die Ohrana-
tomie fast nichts aus der früheren Zeit überkommen, da sich die Kennt-
nisse noch am Ende des 14. Jahrhunderts kaum bis zum Trommelfell
erstreckten. Diese vollständige Unkenntnis der Anatomie des Ohres
erklärt zur Genüge die rohe Empirie, mit der bis dahin die Behandlung
der Ohrenkrankheiten geübt wurde. Noch weniger als die griechische und
römische hatte hier die mittelalterliche Heilwissenschaft in ihrer religiösen
Scheu vor Leichenöffnungen geleistet, ja sie hatte eher dazu beigetragen,
die freie Forschung zu Gunsten eines traditionellen, blinden Autoritäts-
glaubens zu ersticken und in einem Wüste krauser Heilformeln zu ver-
graben.
Als endlich die Finsternis des Mittelalters durch die Wiedergeburt
der Künste und Wissenschaften in Italien zerstreut wurde und das
Bewußtsein der Notwendigkeit anatomischer Studien zum Durchbruch
kam , warf sich die Wißbegierde mit Feuereifer auch auf das bisher
brachliegende Gebiet der Anatomie des Gehörorgans, wo gerade durch
die große Schwierigkeit der anatomischen Untersuchung das Interesse
noch gesteigert wurde. So gelang es der bewundernswerten Ausdauer
der berühmten Anatomen des 16. Jahrhunderts in Italien, in einer Ver-
hältnis maß ig kurzen Zeit die Anatomie dieses im Schläfebeine ver-
;::) Daß sich die päpstliche Regierung, dem Beispiele der genannten Universi-
täten folgend , entschloß , auch in Rom eine anatomische Lehrkanzel zu errichten,
beweist, daß sie, ohne das kirchliche Verbot der Leichensektionen aufzuheben, dem
Drängen der modernen Naturforschung keinen längeren Widerstand zu leisten ver-
mochte. Während noch 1515 dem Lionardo da Vinci, der in der Sapienza heimlich
anatomische Studien betrieb, von Leo X. der weitere Besuch dieses Spitals verboten
wurde, sehen wir einige Dezennien später B. Eustachio als Professor der Anatomie
an der Sapienza wirken.
Lanzelotti Buonoanti, 11 pensiero anatomico de Lionardo da Vinci in
rapporto eil1 arte. R. Accad. di belle arti. Milano 1897; zit. Ho 11, 1. c. p. 187.
Die Otiatrie in der Renaissancezeit. 79
borgenen Sinnesorganes fast auf eine Stufe mit der aller anderen Organe
zu erlieben.
Es kann sogar behauptet werden, daß die mangelhaften anatomischen
Kenntnisse der verflossenen Periode den Forschern insofern zu statten
kamen, als die anatomische Beobachtung hier nicht, wie anderwärts, in
Galenischen Dogmen und arabischen Doktrinen befangen war. Mit Recht
können wir sagen, daß das Cinquecento für die Otiatrie nicht wie
für die anderen medizinischen Fächer eine Restaurations- , sondern die
Sehöpfungsperiode bildet, von der kaum eine Spur zum Altertum zurück-
führt. Daß gerade Italien, das Vaterland der genialsten Künstler, auch
die Geburtsstätte der modernen Anatomie wurde, hatte den nicht genug
zu schätzenden Vorteil, daß sich Gelehrte und Künstler verbanden, um
in bildlichen Darstellungen der anatomischen Objekte den oft schwer
verständlichen Text durch anschauliche Abbildungen aufs wirksamste zu
ergänzen. Es bedarf in dieser Richtung nur des Hinweises auf die
früher erwähnten unübertroffenen anatomischen Zeichnungen Lionardo
da Vincis (s. S. 77) und auf die Illustrationen des Werkes des unsterb-
lichen Vesal, die durch Calcar, einen Schüler Tizians, in bewunderungs-
würdiger Weise ausgeführt wurden.
Trotz der nun an den genannten Universitäten zur freien Ausübung
gelangten anatomischen Sektionen an menschlichen Kadavern konnte das
Vorurteil gegen die Zergliederung des menschlichen Körpers in der
großen Volksmasse nur allmählich zum Schwinden gebracht werden.
Infolge des Mangels an Leichenmaterial geschah es gar nicht selten, daß
die wißbegierigen Jünger der Anatomie zu Leichenausgrabungen ihre
Zuflucht nehmen mußten. Wird doch von Zeitgenossen über nächtliche
Kämpfe zwischen Leichenwächtern und Studenten berichtet, welch letztere
behufs Beschaffung von Sektionsmaterial zur Ausgrabung frischer Leichen
auf den Friedhöfen sich vereinigten. Dieser Mangel an menschlichen
Leichen war auch der Grund, daß man sich zur Erforschung der ana-
tomischen Details vielfach der Gehörorgane von Tieren bediente. Da-
durch ist, vielleicht unbeabsichtigt, die Basis für die vergleichende
Anatomie des Gehörorgans geschaffen worden.
So wurde die Kenntnis des äußeren, mittleren und inneren Ohres
durch die verdienstvollen Anatomen Italiens und deren Schüler in rascher
Fol^e gefördert. Der träge Verkehr zwischen den einzelnen Ländern
zu jener Zeit war die Ursache, daß die Resultate der rasch empor-
blühenden anatomischen Wissenschaft in Italien so spät den Schulen der
anderen europäischen Staaten übermittelt wurden, und daß erst im fol-
genden Jahrhundert deutsche und französische Forscher Gelegenheit
fanden, die Entdeckungen ihrer italienischen Vorgänger zu vermehren
und zu vertiefen.
tfQ Vesal.
Vesal.
Die bescheidenen Leistungen auf anatomischem Gebiete zu Aus-
gang des 15. Jahrhunderts wurden bald durch die Entdeckungen Vesals
und seiner großen Zeitgenossen in Schatten gestellt. Die Namen Vesal,
F a 1 1 o p p i o , Eustachio, Ingrassia sind die Leuchten der klassischen
anatomischen Aera, deren glänzende Leistungen noch heute Bewunderung
erwecken und in ihrer Art mit denen des 19. Jahrhunderts wetteifern.
Ihr Verdienst, in rascher Reihenfolge eine vorher ungeahnte Anzahl
anatomischer Entdeckungen von bleibendem Werte an den Tag gefördert
zu haben, wird keineswegs geschmälert durch die Tatsache, daß diese
Männer einen jungfräulichen Boden für ihr Forschungsgebiet vorfanden.
Vor allen war es Vesal, der mit dem Einsatz seiner ganzen Per-
sönlichkeit und mit leidenschaftlich reformatorischem Eifer den Kampf
gegen die Galenische Tradition führte und der Idee der freien, un-
befangenen Naturbeobachtung zum Siege verhalf.
Ist Vesal mit Recht als der Neubegründer der Anatomie zu be-
zeichnen*), so muß doch zugegeben werden, daß seine Leistungen auf
dem Gebiete der Ohranatomie weit hinter denen des genialen Falloppio
zurückstehen, der die Grenzen der Kenntnis des Gehörorgans am meisten
von allen Zeitgenossen erweiterte und hier für lange die Führerschaft
an sich riß.
Andreas Vesalius**), am 31. Dezember 1514 zu Brüssel geboren,
entstammte einer Familie, in der schon seit alters her Medizin gepflegt
wurde, und die mehrere ausgezeichnete Aerzte unter ihren Ahnen
zählte. Er erhielt seine erste wissenschaftliche Bildung, in Philologie
und Mathematik, zu Löwen. Schon als Knabe soll er anatomische
Untersuchungen an Tieren ausgeführt haben. Um 1532 begab er sich,
zum Zwecke anatomischer Studien, nach Montpellier, dann nach Paris,
wo er aber durch seine Lehrer 1 Guido Guidi (Vidus Vidius), Jacque
Dubois (Sylvius), Günther von Andernach, nur dürftige und oberflächliche
Anleitung fand, doch zum Ersätze mit jugendlicher Begeisterung eigene
Untersuchungen anstellte und oft, selbst mit Lebensgefahr, seinen un-
ersättlichen Hang zum Zergliedern befriedigte. Man sah ihn nicht selten
mit Knochen hingerichteter Verbrecher beschäftigt, die er auf den Kirch-
höfen den Hunden entrissen hatte. Der zwischen Karl V. und Franz I.
ausbrechende Krieg trieb Vesal nach Löwen zurück, wo er kurze Zeit
I Roth, Andrea Vesal. 1898.
Wir beschränken uns wegen des in weitesten Kreisen bekannten Lebens-
laufs Vesals nur auf die wichtigsten Daten. Die ausführlichste Darstellung gibt
Burggraeve, Etudes sur Andre Vesale, Gand (Annoot-Braeckman) , 1841 und
Roth 1. c.
Jehan Yperman. 65
Polypen des äußeren Gehörganges. Da dieser die gleiche Behandlung
erfordert wie der Nasenpolyp, über den Vigo an anderer Stelle spricht
(Lib. II, Trakt. III, Kap. 0), so sei einiges darüber hier mitgeteilt.
Vigo unterscheidet einen krebsigen Polypen und einen gewöhnlichen
Schleimpolypen. Bei dem krebsig entarteten Polypen geht Vigo bloß
palliativ vor; den Schleimpolypen hingegen entfernt er durch Aetzmittel
oder Exstirpation mit nachheriger Amvendung adstringierender Mittel in
Pulver- und Salbenform.
Zum Schlüsse seien noch die folgenden am Ausgange des Mittel-
alters in Belgien, England und Deutschland wirkenden Aerzte erwähnt.
Der niederländische Chirurg Jehan Yperman aus dem 13. Jahr-
hundert, der seine fachmännische Bildung in Frankreich bei Lanfranchi
erhielt, hat sich in seinen chirurgischen Arbeiten auch mit der Otochirurgie
beschäftigt. Er empfiehlt die Befestigung eines halbabgehauenen Ohres
durch Naht, erklärt jedoch für unmöglich, daß ganz abgehauene Nasen
und Ohren wieder anheilen können x). Bei Besprechung der Ohren-
krankheiten erörtert er die „zweeringen der oeren", „die zweeren die
wassen in de oeren", die Fremdkörper und Würmer. Zur Entfernung
der Fremdkörper bedient er sich einer langen, an ihrer Spitze stark ge-
krümmten Nadel. Außerdem enthält die Stelle noch einige Bemerkungen
über Ohrenfluß (loepinghen der oeren) und Taubheit 2).
Im nachstehenden seien weiters zwei englische Aerzte angeführt,
die, was die Otiatrie betrifft, ihre Vorfahren und Zeitgenossen nicht
überragen, da sie nur deren Werke eingehend benützt haben. Gilbertus
(Anglicus), dessen Leben ins 13. Jahrhundert fällt, befaßt sich im
III. Buche seines „Compendium medicinae" mit den Ohrenkrankheiten,
denen er 8 Abschnitte widmet. Auch sein Landsmann John of Ga-
desden, gewöhnlich Joannes Anglicus genannt, bringt im IL Traktat
des III. Buches seiner „Rosa Anglica practica" einiges über die Er-
krankungen der Ohren (Kap. 7). Er ist ein Gegner der zu seiner Zeit
gegen Schwerhörigkeit und Taubheit vielfach angewendeten Niesmittel,
da durch sie nach seinen Erfahrungen schwer zu stillendes Nasenbluten
hervorgerufen werden könne. Eiter im Ohre läßt er durch eine in den
Gehörgang gesteckte Röhre von einer Person, die sich dazu hergibt, mit
dem Munde aussaugen. Auch gegen subjektive Geräusche soll
dieses Mittel von Nutzen sein. Sicherlich beruht in diesem Falle
die günstige Wirkung nicht so sehr auf der Aufsaugung des Eiters, als
vielmehr auf der Luftverdünnung im äußeren Gehörgange, ein Moment,
das natürlich dem mittelalterlichen Arzte unbekannt war. Endlich sei
noch von dem deutschen Arzte Johannes de Kethain (15. Jahrhundert)
erwähnt, daß sich in seinem „Fasciculus medicinae" einiges findet, was
wir, weil es mit der Otiatrie in Beziehung steht, hier vorbringen. Er
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. Ö
(36 Manuskripte der Pariser Bibliotheque nationale.
beschäftigt sich dort vorzüglich mit den Ohrerkrankungen der Kinder,
und zwar in den Kapiteln: „De sanie aurium puerorum", „De veneno
fluente de aure", welches „accidit pueris ex vesica vel plaga accidente
in auricula". —
') La Chirurgie de maitre Jehan Yperman Chirurgien beige (XIHe — XIV''
siecle). Publiee pour la premiere fois, d'apres la copie flamande de Cambridge par
M. ('. Broeckx. p. 83.
2) 1. c. p. 119—125.
Eine Prüfung des otiatrischen Inhaltes der medizinischen Handschriften aus
dem Mittelalter, die in nicht geringer Zahl in den verschiedenen Bibliotheken
aufgestapelt sind, fördert kaum neue oder interessante Tatsachen zu Tage. Ueberall
dieselbe Sterilität wie in den erst später gedruckten Kompendien der Zeitgenossen.
Ohne Ausnahme konnte ich diese Beobachtung bei allen Manuskripten machen,
die ich in den Bibliotheken zu Wien und Paris einer genaueren Durchsiebt
unterzog. Sie alle weisen sowohl in der Anatomie des Ohres, als auch in der
Diagnostik und Behandlung der Ohrenkrankheiten keine neuen Gesichtspunkte auf,
und wir finden in ihnen nur die öftere Wahrnehmung bestätigt, daß die Autoren
dieses Zeitalters in ihren Schriften, denen es keineswegs an otiatrischem Inhalt ge-
bricht, die Griechen, vor allen Galen, und die Araber unbedingt und kritiklos
nachahmen.
Am Ende des 14. und zum Beginne des 15. Jahrhunderts erfreuten sich ins-
besondere die chirurgischen Arbeiten des seinem Zeitalter als Autorität geltenden
L an fr an c großer Beliebtheit. Einige Manuskripte, die ich in der Pariser Biblio-
thek fand, mögen für diejenigen, die näheren Einblick in sie zu nehmen beab-
sichtigen, erwähnt werden.
629. La cirurgie de Maistre de Lanfran ou Alenfranc de la este de Millan,
appele Art complet laquelle il compella a Paris en Tan 1295.
1323. La cirurgie de maistre Alanfranc de Millan, laquelle est appelee Art
complecte de cirurgie XV s.
1323. Ici se commence la cirurgie de maistre Lanfranc de Millan de Tan 1377.
1308. (De Thom. Colbert.) Le höre de medecine compose en la eiste de
Pampliac par trag Docteur lequel est appele Dyacorides pour le profect du corps
humain ä Tencontre de maladies. — Commencement d. XVI. siecle.
2022. (Colbert.) Le livre nomine le regime du corps que fit jadis maistre
Alebrandin medecin du roy de france.
2027. (Mentel.) Ung abrege de l'anatomie de la saignie par Jehan de Bomo
de la dioeöse Rutheniensis.
1317. La connaissance des corps humains lequel contient par pluseurs parties
et tractiea 170 Chapitres avec L'expositions des sönges en l'an 1396, par pere Nicole
Saoul autrement dict de Sanct Marcel de l'Ordre de N. D. du carme.
S. 42. Dea Significationa de la complexion et qui des oreilles.
Welche Deutung die äußere Form der < »hrmuschel zu jenen Zeiten erfuhr,
ergibt sich aus den folgenden Sätzen.
Les grands oreilles en la teste signifie quil soit estourde et de gros nutriment.
Item : al qui a les oreilles longues du travers signifie qui il est fol et hardi
völonteus.
Aus der Handschriftensammlung der Wiener k. k. Hofbibliothek sei als
Beispiel für viele das mittelhochdeutsche Manuskript 15106 angeführt:
Manuskript der Wiener Hofbibliothek.
67
[Fol. 4 b].
Von den boesen gehören.
Di gehorde hizen div weisen hie be-
vor des mutes'porten : di wird ettwenne
gar verlorn, ettwenne ein teil. Swenne
daz geschiht. der sol sich leigen an di
sunne. vh heiz im sehen in div oren.
vindet man im denne in den oren ein
geswer. oder platern. stoub oder asschen,
da vö ist, daz er niht gehören mach.
Ist aber daz der deheinz da vunden
wirt . so ist der siechtum von etlicher
vouht. oder von eim pladem . der sich
gesamnet hat in die ader, da daz hören
in get oder von eim geswer(.) daz in der
[Fol. 5 a] selben ader ist. Swem also
geschiht, der redet also sanft, daz man
in choum vernimt vh wirt agezzel. wil
do dem zehelfe chomen so vurbe im daz
houbet mit terapigra vnde heiz daz
enphahe den tumt in div oreno der ge
ouz heizeni wazzeo da inne gesoten sei
venichel, aneis, petersil, rute vnde laz im
in die oren ole von tille oder von mandel-
chern. merche daz div ole(.) mit den man
wermen , trunchen od(er) ouf tun wil(,)
schuln sein gemachet von grünen schahen.
Von der o r e n c h 1 i n g e n.
Oren chlingene ettwenne von einem
grozem pladem oder von einer leimigen
vouht. Swem daz geschiht, der sol daz
houbet vurben mit terapigra vnde sol
lazzen in diu oren rosen ole mit ezzeiche
oder pibergeil. Swenne der siechtum ist
von chalter vouhtg der soll lazzen pforren
souch mit weibes milche vnde mit rosen
ole vh lazze si in div oren<.) Darnach
nem wermute vh lege di in wein oder
in ezzeich vnd siede si dar inne also-
lange(.) vnz der wei hemtich werde von
der wermuet vnde lazze danne den tunst
also warmen gen in daz ore vh teche daz
houbet anderthalben dar*,) daz iz swizende
werde von dem tunst vnde seige denne
durch ein tuch zwivol souch(,) in tem sei
gelegen gepulverter chum drei tage(,) vnd
lazze des(,) so iz la sei(,) zwen oder drei
tropfen in daz ore. zwir oder drei stunt
in der wochen. Dan noch ist auch gut
Von dem schlechten Gehör.
Das Gehör nannten die Weisen ehe-
mals die Pforte der Seele. Manches Mal
geht es gänzlich verloren , manches Mal
bloß ein Teil. Wenn dies einem ge-
schieht, führe ihn in das Sonnenlicht und
sieh ihm ins Ohr. Findet man dann in
den Ohren ein Geschwür oder Blattern,
Staub oder Asche, so ist dies die Ursache,
weshalb er nicht hört.
Ist aber davon nichts zu finden, so
rührt die Krankheit von Feuchtigkeit her
oder von einer Blähung, die sich gebildet
hat in der Ader, wo das Hören hinein-
geht, oder von einem Geschwür, das in
derselben Ader ist. Dem dies widerfährt,
der redet leise, daß man ihn kaum hört,
und wird vergeßlich. Will man ihm Hilfe
bringen, so reinige man das Haupt mit
Terapigra und lasse ihn den Dampf heißen
Wassers, in welchem Fenchel, Anis, Peter-
silie und Raute gekocht wurden, in die
Ohren aufnehmen, und gieße ihm Till-
oder Mandelkernöl ins Ohr. Merke, daß
die Oele, mit denen man wärmen, trocknen
oder auftun will, von grünen Sachen ge-
macht sein sollen.
Vom Ohrenklingen.
Das Ohrenklingen entsteht infolge einer
großen Blähung oder infolge klebender
Feuchtigkeit. Wem das geschieht, der
soll das Haupt mit Terapigra reinigen
und soll einfließen lassen in die Ohren
Rosenöl mit Essig oder Bibergeil. Wenn
die Krankheit von kalter Feuchtigkeit
herrührt, so mische man Lauchsaft mit
Frauenmilch und mit Rosenöl und lasse
es in die Ohren. Hierauf nehme man
Wermut, lege ihn in Wein oder Essig
und koche ihn darin so lange, bis der
Wein bitter wird vom Wermut und lasse
dann den warmen Dunst ins Ohr gehen
und decke das halbe Haupt zu. damit es
schwitze von dem Dunst und seihe dann
durch ein Tuch Zwiebelsaft . in welchem
gepulverter Kümmel drei Tage gelegen
hat und lasse davon , sobald es lau ist,
zwei oder drei Tropfen in das Ohr, zwei-
oder dreimal in der Woche. Ferner ist
68
Manuskript der Wiener Hofbibliothek.
warmer ezzeich mit werniut "/ ouge des
zwir als vil sei sam des ezzeicheso des
soll man lazzen in div oren.
Dan noch machtn ein ander/, tum i
nim roeen ole vnde ehren ole vnde pforren
souch vnde schaf galle(,) mische iz under
ein ander vnde lazze iz in div oren, so
iz la sei.
Von d (e r) oren siech tum.
Um die zwene siechtumc,) von den da
gesagt ist(,) ist an den oren dan noch
ander siechtuniQ der chumt von heizzer
sunne oder von chaltera lüfte. Ist er von
der sunnec,) so enphindet man in den
oren grozzer hize. Ist (er) aber von
chelten(,) so enpfindet (man) grozzer
froste in den oren. Ffir den siechtum,
der da ist in den oren von der hize, sol
tu rosen ole mit weibes milche tempern
oder mit chürbiz souch vnd la daz in div
oren. Sei aber der ore wen von des luftes
chelten ode von ein geswer od von pladem
So nim lor ole vnde ole von tillen vnde
ole von Ham [Fol. ob] tigen mandlch'n
vnde ole von ruten vnde mische daz mit
schaffe harn oder mit rinder harne. Sein
dir div oren in dem houbet frat(,) so sivde
wermuete in weine vn mische den wein
mit ole von pherschechen oder mit rettich
souch vnde la daz in div oren oder nim
vnzei(li)ger pferseich souch vh la den in
i liv oren.
Von den wnrme di in den oren.
Nim einen gepraten apfel also heizen
vnde sneide in von ein ander vnde lege
in vber daz oreg da div wurme inne sint(,)
«o gent öi ouzo Alsam tut ein ater(,)
div in eins menschen magen ist, div get
ouzher durch den mut(!) ob man niwe
molche milcli wanne für den munt sezet(,)
dar zu ist ouch poches bluot also warm,
daz soll er trinchen.
noch gut warmer Essig mit Wermut. Be-
achte, daß davon zweimal so viel sei als
von dem Essig und lasse davon in die
Ohren.
Auch kann man etwas anderes tun ;
man nimmt Rosen- , Krenöl , Lauchsaft
oder Schafgalle, mischt es untereinander
und läßt es in die Ohren, sobald es lau ist.
Vom Siechtum der Ohren.
Außer den bereits besprochenen zwei
Erkrankungen der Ohren gibt es noch
eine dritte, welche von heißer Sonne oder
kalter Luft entsteht. Entsteht sie von
der Sonne, so empfindet man in den Ohren
große Hitze, rührt sie aber von der Kälte
her, so empfindet man großen Frost in
den Ohren. Gegen die Erkrankung, welche
infolge von Hitze in den Ohren entstan-
den ist , temperiere Rosenöl mit Frauen-
milch oder Kürbissaft und gib das in
die Ohren. Rührt aber der Ohrenschmerz
von der Kälte der Luft oder von einem
Geschwür oder von Blähungen her, so
nimm Lorbeeröl, Tillöl, Oel von bitteren
Mandelkernen und Rautenöl und mische
dies mit Schafs- oder Rinderharn. Sind
die Ohren im Kopfe entzündet, so siede
Wermut in Wein und mische den Wein
mit Pfirsichöl oder Rettigsaft und gib
das ins Ohr. oder nimm Saft unreifer
Pfirsiche und gib das ins Ohr.
Von den Ohrwürmern.
Nimm einen gebratenen Apfel, so heiß
wie er ist, schneide ihn auseinander und
lege ihn auf das Ohr , wo die Würmer
sind ; sie werden herausgehen. Ebenso
tut eine Natter, die im Magen eines
Menschen ist ; die geht durch den Mund
heraus, wenn man frischgemolkene Milch
warm an den Mund setzt; dazu ist auch
Bocksblut gut, so warm wie es ist, das
soll er trinken.
Bezeichnend für den Geist der therapeutischen Ansichten im 14. Jahrhundert
in Fr an kr ei ch ist auch eine Sammlung von Rezepten, die in einem in der Biblio-
thek von Evreux befindlichen Manuskript enthalten sind (Recettes medicales en
francais publiees d'apres le Manuscrit 23), veröffentlicht durch Paul Meyer und
Oh. J.oret in der Romania 18. p. 571 ff. Die Stelle, welche sich auf die Ohrenheil-
Anatomie und Physiologie des Ohres im Mittelalter. 69
künde bezieht, hat folgenden Wortlaut: p. 573, 13. Pour les orelles sourdes, prenez
le jus de mente et de aluine, si le fetes tieve, et metez es orelles. si gai*ront ; et se
il i a vers, si destrempez le jus de mente de vin et coulez parmi j. drap si le faites
tieuve, et metez es orelles, si garront.
14. A home qui a este longuement sourt metez le jus de hieble tieve. si garra.
Zur Anatomie und Physiologie des Gehörorganes im Mittelalter.
Wie eingangs dieses Abschnittes erwähnt wurde, war es im Mittel-
alter um die Anatomie und Physiologie des Ohres schlecht bestellt*).
Von den anatomischen Produkten der salernitanischen Schule, an
der menschliche Leichen nicht seziert wurden, führen wir die „Ana-
tomia porei" das Copho junior (1085 — 1100) an. Sie enthält über
das Gehörorgan bloß den Satz: Nervus qui ab interioribus venit ....
ad aures, dicitur auditorius nervus. Wie man sieht, eine sehr dürftige
Leistung. Nicht viel besser steht es mit einer anderen anatomischen
Arbeit der salernitanischen Schule, der sogen. „Demonstratio ana-
tomica"**), in der nicht einmal der Versuch einer Beschreibung des
Gehörorgans gemacht wird. Das „Poema anatomicum"***) endlich
enthält folgende Verse im Liber primus:
::) Aus v. Töplys „Studien zur Geschichte der Anatomie im Mittelalter" geben
wir hier eine Zusammenstellung der ohranatomischen Literatur im genannten Zeit-
räume, die jedoch nichts Bemerkenswertes enthält und selbstverständlich keinen An-
spruch auf Vollständigkeit erhebt:
Pseudogalenische Schriften: De compagine membrorum s. de natura
humana. A. 2. Gehör. De anatomia vivorum. B. 7. Ohr.
Der Anonymus des Lauremberg: 'Avwvuijiou et oaf m"(y] avoc?op.ix-n. (Nach
Sprengel aus dem 4. Jahrhundert stammend.) C. 54. Ohr, Ohrmuschel,
Trommelfell.
Oreibasios (326—403 n.Chr.). 24. Buch. Eingeweidelehre: 7. Ohren.
Nemesios (im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts): Ilept -xiüaeto^ ävä-pcurcct).
10. Gehör.
Meletios (600 — 800? n. Chr.), Anecdota graeca e codd. manuscriptis biblio-
thecarum Oxoniensium descripsit J. A. Cramer. B. 7. Ohren.
'Ali ben el-'Abbäs (Haly Abbas) el-Madschusi (f 994), Liber omnia com-
plectens, quae ad artem medicam spectant. 3. Buch. Kap. 15.
Abu Merwän ibn Zohr (Avenzohar) . f 1162. Khitäb-el-kullidschät.
19. Ohren.
Ibn Abu Oseibia (f 1269). 6. Anatomie der Sinneswerkzeuge.
Abu Bekr Muhammed ben Zakeryja el-Räzi. N. 65. Liber de figura
aurium. N. 67. Liber de figura auditoriae cavernae (nach Wüstenfeld). In
der Anatomie des Rbazes. Kap. 10. Das Ohr.
Bartholomaeu8 Anglicus. De genuinis rerum coelestium, terrestrium et
infernarum proprietatibus Hbri XVIII. V. Buch, Kap. 12. Ohren.
*-) Renzi, Coli. Salernit. II, p. 390.
***) id. II, p. 391.
Mondino de Liuzzi.
Quod voces hauris hinc nomen suscipit auris :
Pars auris summa de primo primula clicta
Significat primum venit inde bipennis avituni ).
Auch die Arbeiten der anderen Anatomen des Mittelalters bieten
nur sehr dürftige Leistungen über die Anatomie des Ohres, so z. B.
Ricardus. Anglicus in seiner „Anatomia" **) (ca. 1242 — 52), welche
Prof. Robert von Töply zum ersten Male nach einem in der Wiener
Hofbibliothek befindlichen Manuskripte herausgegegeben hat. Schon
der Beginn des 17. Kapitels, das die Beschreibung des Ohres (de
auribus)***) enthält, beweist die mönchische Richtung des Autors. Im
weiteren Verlaufe vergleicht Ricardus den „aer quietusu (= complan-
tatus) im Innern des Ohres mit dem „cristallinus humor" des Auges
und das Trommelfell (panniculus), von dem er nichts anderes mitteilt,
als daß es vom Hörnerven abstamme (oritur a nervo descendente a quinto
pari nervorum cerebri) und dem Felsenbein seine ganze Sensibilität ver-
leihe (totam ei prestat sensibilitatem quam habet), mit der Pupille des
Auges. Von geringem Wert ist die „Practica" des Joannes Mattaeus
de Gradibus (f 1472), der die Ohranatomie und die Ohrerkrankungen,
ohne neue Gesichtspunkte, nach den Schriften der Vorgänger be-
arbeitet hat.
Einen, wenn auch geringen Fortschritt erfuhr die anatomische
Wissenschaft erst durch Mondino.
Mondino de Liuzzi. Die „Anathomia" des Mondino de Liuzzi
(geb. zu Bologna um 1275, f 1326), die nach der Erfindung der Buch-
druckerkunst f) nicht weniger als 25 Auflagen erlebte, war im 14. Jahr-
hundert neben Galens anatomischem Werke das allgemein gebräuch-
liche Lehrbuch der Anatomie. Doch kann die kurze Schrift keinen
Anspruch auf Selbständigkeit machen, da Mondino mit wenigen Aus-
nahmen den Standpunkt Galens vertritt. Sie ist nur deshalb von
einigem Interesse, weil ihr Verfasser einer der ersten war, der menschliche
Leichen sezierte und für seine Schüler eine Anleitung zum Sezieren
verfaßte. Die Stelle, welche ..De Anathomia Auris" behandelt, be-
findet sich am Ende der Schrift; sie lautet:
His expeditis videbis aurem positam a latere capitis: quia sonus
percipitur a dextris et a sinistris et ante et retro et sursum et deorsum
ei ideo instrumentum eius oportuit locari in dextra et sinistra: non autem
in parte anteriori : quia ibi erant instrumenta aliorum sensuum.
*) id. V. p. 178.
"*) Anatomia Ricardi Anglici. Primum ed. Rob. Töply Eques, Vindob. 1902.
►*) 1. c. p. 15.
f) Die erste Auflage wurde 1478 in Venedig gedruckt.
Mondino de Liuzzi. 71
Auris autera fuit figurae rotundae in nomine vel circularis: ut esset
plurimum capacissima: et cartilaginosa.
Cartilaginosa autem fuit: ut esset ab alterantibus extrinsecus tuta.
Et ut esset sonora, cuius foramen est longum terminatum ad os petrosum
in cuius concavitate est spiritus audibilis complantatus: qui est instru-
mentum auditus. Et eius foramen vel cavernositates cooperit panni-
culus subtilis contextus ex villis nervorum auditus iam supra dictorum.
Ossa autem alia quae sunt infra basilare: non bene ad sensum apparent
nisi ossa illa decoquantur: sed propter peccatum dimittere consuevi, verum
est quae de mandibularum ossibus potes videre principium et finem. In-
cipiunt. n. a commissura sive addorea quae est inter craneom et basilare
in loco qui est in fine supercilii et frontis: et procedit versus partem
posteriorem iuxta os petrosum et ad auriculam terminatur: aut ad dentes:
quorum anothomiam supra dixi. (Anothomia Mundini noviter impressa
ac per Carpum castigata. 1514.)
Die Anatomie des Gehörorgans des Mondino, die wir hier dem
ganzen Wortlaute nach geben, zeigt den geringen Fortschritt, den dieser
Teil der Anatomie von Seite des im Mittelalter als erste Autorität auf
anatomischem Gebiete geltenden Autors erfahren hat.
Seine Schilderung unterscheidet sich dadurch von der früherer
Autoren, daß sie den „spiritus audibilis complantatus" in eine Concavität
des Os petrosum verlegt und von einem „panniculus subtilis" spricht,
der sich aus den Verzweigungen (villis) des Hörnerven zusammensetzt
und von manchen Autoren als Trommelfell gedeutet wird.
Der Umstand jedoch, daß ein „panniculus" schon von früheren
Autoren erwähnt wird und Mondino ihn als eine Ausbreitung des
Hörnerven ansieht, vom Hammer aber nichts erwähnt, beweist, daß
Mondino selbst das Gehörorgan nicht oder nur sehr oberflächlich
untersucht und bloß aus den Mitteilungen seiner Vorgänger geschöpft
hat. Wie schwer noch in dieser Periode des Mittelalters das Verbot,
menschliche Leichen zu sezieren, auf der anatomischen Forschung lastete
und wie sehr dieses Dogma bis ins 16. Jahrhundert den Forschungs-
drang mancher Aerzte lähmte, zeigt die Aeußerung Mondinos, daß
sich die Details des Felsenbeins besser zur Anschauung bringen ließen,
wenn man den Knochen auskochte, eine Prozedur, die er als eine Sünde
unterließ.
Der ersten Anregung zur anatomischen Forschung durch Mon-
dino folgt abermals eine fast zwei Jahrhunderte andauernde Stagnation,
die erst mit dem Aufblühen der Künste und Wissenschaften in Italien
im 16. Jahrhundert ihr Ende erreicht. Denn das, was Betrucci, ein
Schüler Mondinos (1347), die schon früher erwähnten Mondeville (1350)
und Petr. de Argellata (1423), Bartolomeo Montagnana (1460)
72
Mondino de Liuzzi.
und selbst der verdienstvolle Alex. Achillini geschaffen, ist so gering-
fügig, daß es für den Fortschritt der anatomischen Wissenschaft kaum
in Betracht kommt. Wie lange noch die dürftige Anatomie des Mon-
dino als maßgebend galt, beweist die Tatsache, daß Achillini in
seinen ..Annotationes in Anatomiam Mundini" 110 Jahre nach Mondino
und .1. B. da Carpi noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts, vor dem Er-
scheinen seiner .Jsagoga", es für zweckmäßig fanden, die Anatomie des
Mondino zu kommentieren und herauszugeben.
Die Otiatrie in der Uebergangsperiode zur Neuzeit.
a) Vorläufer der großen Anatomen Italiens.
Achillini. Berengario da Carpi. Nie. Massa.
Die erste Etappe zur Durchforschung des Gehörorgans bildete die
Auffindung von Hammer und Amboß. Der Zeitpunkt ihrer Entdeckung
wird von den Historikern in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ver-
legt, doch ist es sehr wahrscheinlich, daß die schon bei oberflächlicher
Zergliederung leicht darstellbaren Knöchelchen viel früher von un-
bekannten Anatomen oder Chirurgen zufällig entdeckt wurden, ohne daß
ihre Bedeutung erkannt worden wäre*).
Als Entdecker des Hammers und Amboßes werden Achillini und
Berengario da Carpi, zwei hervorragende Anatomen des zur Neige
gehenden 15. Jahrhunderts, angeführt; doch kommt Achillini, wie
wir sehen werden, hierbei nicht in Betracht und Carpi kann nur das
Verdienst in Anspruch nehmen, bei seiner Beschreibung des Gehör-
organs den Hammer und Amboß zuerst erwähnt, nicht aber sie entdeckt
zu haben.
Achillini.
In den meisten historischen Werken wird Alessandro Achillini
(1463 — 1512) als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet.
Achillini, ein Bolognese, einer der hervorragendsten Gelehrten in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, lehrte in seiner Geburtsstadt und
später in Padua Philosophie und Medizin und betätigte in beiden
Wissenszweigen seinen eminenten Scharfsinn in hervorragender Weise.
Obzwar noch Arabist, war er doch einer der ersten, die den Mut hatten,
menschliche Leichen zu sezieren.
Neben anderen umfangreichen Werken erschienen posthum seine
„Annotationes anatomicae in Mundinum", Bononiae 1520. Das ganz dünnt'
Bündchen ist weder in der Wiener Universitäts- noch in der Hofbibliothek
*) Potuit enim ignobili cuidam ac minus docto Prosectori, aut Chirurgo, qui
probe dijudicando , aut publice indicando , quod casu reperisset, ut saepe fit, par
ipse non esset, id Achillini, et Carpensis temporibus aeeidisse in Malleo et Incude
quod postea in Stapede sibi obtigisse, Ingrassias testatur! (Morgagni, Epistol.
anatom., VI., 3.)
74 Berengario da Carpi.
vorhanden. Die kurze Beschreibung des Ohres in demselben verdanke
ich einem befreundeten Kollegen, der während seines Londoner Auf-
enthaltes im Sommer 1905 aus dem in der Bibliothek des College of
Surgeons befindlichen Exemplare mir die betreffende Notiz zukommen
ließ. Sie lautet :
.Amis: lateralis capiti; rotundae figurae. eartilaginosa ambiqui foraminis, in
• uius t'xtremitate est miringa claudens in osse petroso aerem coronalem."
In dieser kurzen Skizze ist wohl „miringa" ein Hinweis auf das
Trommelfell, doch enthält sie nichts über die Gehörknöchelchen. Die
irrtümliche Annahme der Priorität Achillin is bei dieser anatomischen
Entdeckung beruht offenbar auf der falsch ausgelegten Stelle des Nie.
Massa, die eigentlich nur besagt, daß die Entdeckung zur Zeit Achil-
linis erfolgte:
„Haec ossicula anatomici tempore Achillini. viri in omni scientiarum genere
eminentissimi (ut ex eius scriptis clarissime videre est) invenerunt. Nie. Massa, Epist.
medicinales, Venetiis 1558. Ep. V. f. 55. b.
Welche „scripta" des Achillini hier gemeint sind, konnte ich nicht
eruieren, da ich bei Durchsicht der anderen Werke Achillin is keine
auf die Anatomie des Gehörorgans bezügliche Stelle fand.
Bereiigario da Carpi.
Jacopo Berengario da Carpi wurde kurz vor 1470 in Carpi
bei Modena als Sohn eines angesehenen Wundarztes geboren, studierte
in Bologna, lebte dann als Arzt in seiner Heimat, floh aus politischen
Ursachen nach Bologna, wo er von 1502 — 1527 die Professur der
Chirurgie mit ausgezeichnetem Erfolge bekleidete. Beschuldigt, Vivi-
sektionen am Menschen ausgeführt zu haben, begab er sich von hier in
die freiwillige Verbannung nach Ferrara, woselbst er 1550 starb.
Carpi erlangte große Berühmtheit, als Arzt durch Verwendung des
Merkur bei venerischen Krankheiten, als Chirurg durch treffliche Behand-
lung der Schußwunden und Schädelverletzungen, als Anatom durch eine
Fülle von wertvollen Entdeckungen, die er bei Sektionen an mensch-
lichen Leichen machte. Seine Erfahrungen legte er in den zwei Werken
nieder: „Anatomi Carpi Isagogae breves Perlucidae ac uberrimae in Ana-
tomiam huniani corporis a communi Medicorum Academia usitatam etc.",
Bonon. 1514 und „Commentaria cum amplissimis additionibus super
anatomiam Mundini, una cum textu ejus in pristinum et verum nitorem
redacto", Bonon. 1521.
Berengario war der erste Anatom, der seinen Werken eine An-
zahl in der Ausführung recht roher anatomischer Abbildunsren beisrab.
Berengario da Carpi. 75
Von seinen Leistungen sei hier nur die Entdeckung der Keilbeinhöhle
und des Wurmfortsatzes hervorgehoben. Er kannte die Membrana tym-
pani genauer als seine Vorgänger und entschied sich in dem damaligen
Streite, ob sie von den Gehirnhäuten, Periost oder dem Gehörnerv ab-
geleitet werden sollte, für die letztere irrige Ansicht, die er von Mondino
überkommen hatte*).
Die bezüglichen Stellen über das Trommelfell und die Gehör-
knöchelchen in der ..Isagoga" lauten:
„intra quod est certa vacuitas, quam claudit quidam panniculus
subtilis et solidus."
„Sunt aliqui volentes praedictum panniculum oriri a pia matre quae
transit cum nervo auditivo ad praedictam vacuitatem : de suo tarnen
ortu vide comenta."
„In praedicta vacuitate, quam ante velat praedictus panniculus, est
aer implantatus, qui suspicit species auditus quas dat nervo auditorio
dilatato in panniculum, qui vocatur miringa auris."
Der letzte Satz würde in deutscher Uebersetzung lauten: In der
genannten Höhlung, welche das Trommelfell verschließt (somit in der
Trommelhöhle), befindet sich der Aer implantatus, der die Arten des
Hörens aufnimmt, die er auf den in ein Fell ausgespannten Hörnerv
überträgt.
Die Stelle über die Gehörknöchelchen lautet:
„et huic panniculo intra praedictam vacuitatem adiacent duo ossi-
cula parva apta moveri ab aere ibidem proximo moto, quae in suo
motu se invicem percutiunt, a quibus secundum aliquos causantur omnes
speties (species) soni: plus et minus secundum aerem extrinsecus motum.u
Zu Deutsch: an diesem Fell (Trommelfell) lagern innerhalb der
genannten Höhlung (Trommelhöhle ) zwei kleine Knöchelchen , welche
geeignet sind , von der dort bewegten Luft bewegt zu werden und sich
in ihrer Bewegung mehr oder weniger, je nach der Bewegung der
äußeren Luft, wechselseitig erschüttern.
Aus dem letzten Zitate ist ersichtlich, daß Carpi sich keineswegs
als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet. In der
Isagoga Carpis geschieht deren ohne Benennung nur Erwähnung, und
erst in den Kornmentarien werden sie mit ihrem Namen bezeichnet.
Eine genaue Schilderung ihrer Form und Größe vermissen wir aber hier
ebenso wie Angaben über Form, Größe und Wölbung des Trommelfells.
Vom Labyrinthe hatte Carpi wohl Kenntnis, doch äußert sie sich nur
in unklaren Andeutungen.
*) Commentar. in Mundin. f. 477 a, b.
7(5 Nie. Massa.
Nie. Massa.
Zu den Vorläufern der großen Epoche der Wiedergeburt der ana-
tomischen Wissenschaft zählen noch Nie. Massa, Alessandro Bene-
detti und Gabr. Z er bis.
Nicolaus Massa (f 1569), dessen Werk*) einige interessante
historische Daten enthält, erwähnt das Trommelfell nur kurz (ista cavitas
tegitur a quadam membrana subtili dura), es werde „meninga" auf
Griechisch oder auch „timpanum" genannt. Von den beiden Gehör-
knöchelchen (supra quam membranam intus sunt) sagt er, daß sie
wie die Schlegel einer Trommel (ad modum malleorum timpani) aus-
sehen und daher die Bezeichnung „malleoli" erhalten hätten; er be-
schreibt sie als beweglich und mit dem Trommelfell zusammenhängend
(mobilia et adhaerentia) und hebt hervor, daß sie sich nach den
Schwingungen des Trommelfells mitbeAvegen (moventur ad motum dietae
nicmbranae). Von Interesse ist die von ihm angeführte Sektionsmethode,
nach welcher Gehörknöchelchen und Trommelfell aufgefunden würden.
Aus seinen nicht ganz klaren Ausführungen scheint nämlich hervor-
zugehen, daß er das Dach der Trommelhöhle lateralwärts von der
Eminentia arcuata der Pyramide mit dem Skalpell entfernt und das
Trommelfell mit dem Hammer und Amboß freilegt, eine Technik, wie
sie auch heute noch geübt wird. Die betreffende Stelle lautet:
Nota quod a lateribus cavitatis cranei supra os basilare , ubi correspondent
exterius aures, sunt duae eminentiae osseae, una a dextris altera a sinistris, quas
eminentias osseas oportet diligenter scalpello ineidere, ne intrinsecae partes frangantur,
quae intra cavum ossis sunt . et sie elevato ossa apparebunt ista ossicula iacentia
supra meningam, timpanum aliter dietam, quae quidem meninga, ut dixi, correspondet
foramini auris in osse exteriori.
Gleichzeitig fordert Massa auf, bei der Präparation die krummen
Gänge des Knochens zu besichtigen (vide etiam diligenter anfractus ossis
intrinseci, ubi facta incisio). Welcher Wert übrigens seinen anato-
mischen Daten beigemessen werden darf, ergibt sich aus der Angabe,
daß der Gehörnerv bis zum Trommelfell verlaufe (videbis nervum trans-
euntem per substantiam ossis ad timpanum).
Die Arbeit „Historia corporis humani sive anatomice", Venetiis 1497, des
Italieners Alessandro Benedetti enthält im 38. Kapitel des 4. Buches bloß
einen dürftigen Hinweis auf das Trommelfell. Er sagt dort nämlich, daß am Ende
des äußeren «ichör^anges eine Membran ausgespannt sei, die man „mininga" nenne
*) Nicolai Massa, Veneti artium et medicinae doctoris Liber introduc-
torius Anatomiae, sive dissectionis corporis humani, nunc primum ab ipso auetore
in lucem editus etc. 1536. Cap. XXXXI. De dissectione aurium, nasi, et superiorum
maxillarum, una cum osse basilari, p. 93.
Alessandro Benedetti. 77
(in imo anfractu niembrana posita est, quam mininga vocant). Seine weiteren phan-
tastischen Ausführungen, daß beim Trommelfell die Luftstöße aufhören und infolge
ihrer Nähe zum Gehirne geleitet werden, daß diese Membran vom Gehirne abstamme,
durch dessen Vermittlung mit der Zunge in Verbindung stehe u. s. w. (hac aeris
ictus desinit : qui ad cerebrum vicinitate defertur : qiii ea membrana a cerebro est :
cuius connexione linguae annectitur etc.) sind kaum von wesentlichem Interesse.
Auf die dürftigen Angaben Zerbis*), nicht zu reden von den deutschen
Anatomen dieser Zeitepoche, kann hier verzichtet werden.
Anhang.
Nach den neueren historischen Forschungen wird auf Grundlage der in den
königl. Bibliotheken in Windsor und Paris befindlichen Manuskripte und anatomi-
schen Handzeichnungen Lionardo da Vinci als der hervorragendste Vorläufer der
großen Anatomen Italiens, ja als der eigentliche Begründer der menschlichen Ana-
tomie bezeichnet*'). Lionardos anatomische Studien an zahlreichen menschlichen
Leichen fallen in das Ende des 15. und in die ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts,
somit in die vorvesalische Periode. Zu seinem Zeitgenossen Berengar da Carpi
dürfte Lionardo kaum in Beziehungen getreten sein. Während nämlich die ana-
tomischen Zeichnungen Lionardos von wahrhaft künstlerischer Schönheit sind und
an Exaktheit und Naturtreue nichts zu wünschen übrig lassen , sind die in der
„Isagoga" Carpis enthaltenen anatomischen Abbildungen nicht nur roh und un-
künstlerisch, sondern auch fehlerhaft.
So umfangreich und eingehend nach dem noch vorhandenen Material die
anatomischen Forschungen Lionardos auch waren, so wenig scheint er sich mit
der Anatomie der Sinnesorgane beschäftigt zu haben. Blumenbach gibt zwar an,
daß er Zeichnungen Lionardos vom Gehirne, Auge und Ohr gesehen habe (Holl. 1. c);
doch dürften damit nur Zeichnungen der Ohrmuschel gemeint sein. Einen Versuch,
den Bau des inneren Ohres näher kennen zu lernen, hat Lionardo nicht unter-
nommen. Wenn er bei seinen jdiysiologischen Reflexionen über den Nutzen der
Sinnesorgane bezüglich des Gehörs von „ konkaven Porositäten des Os petrosum,
welches innen im Ohr liegt" ***), spricht, so hat er offenbar damit die Ueberlieferung
der Araber und der mittelalterlichen Anatomen wiedergegeben.
b) Die Otiatrie in der Renaissancezeit.
Yesal. Ingrassia. Falloppio. Eustachio.
Italien darf mit Stolz das große Verdienst für sich in Anspruch
nehmen, daß hier die Anatomie des Gehörorgans und damit die Grund-
lage für die wissenschaftliche Otiatrie geschaffen wurde. Dank dem
großen Aufschwünge der Künste und Wissenschaften im 15. und 16. Jahr-
hundert war auch die Anatomie in ein neues Stadium rascher Entwick-
*) Anatomia corporis humani et singulor. Membror. über. Yenet. 1502.
**) Holl, Die Anatomie des Lionardo da Vinci. Archiv f. Anatomit« u.
Physiologie 1905, Heft II. u. 111.
***) Holl. 1. c. p. 238.
Die Otiatrie in der Kenaissancezeit.
lung getreten, nachdem man aufgehört hatte, sich an die kirchlichen
Verbote von Sektionen menschlicher Leichen zu kehren. Auf der frei-
gewordenen Bahn der Naturforschung folgten einander nun rasch die
wichtigsten anatomischen Entdeckungen. Mit Bewunderung sehen wil-
den edlen Wettstreit um die Förderung der Anatomie, der sich an den
hervorragenden Pflanzstätten der Wissenschaft, vor allem in Padua,
Bologna, Pavia, Palermo, Neapel und Rom*), entwickelte, und an dem
sich die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit beteiligten. Unter diesen
Mannen) wird die Geschichte der Ohrenheilkunde die Namen Vesal,
Falloppio, Ingrassia, Eustachio und Casserio für alle Zeiten als
die bahnbrechenden Forscher auf dem Gebiete der Ohranatomie feiern.
W'ührend fast alle medizinischen Wissenszweige ein mehr oder
weniger reiches Erbe aus dem allerdings bescheidenen anatomischen
Forschungsschatze des Altertums zugeteilt erhielten, hatte die Ohrana-
tomie fast nichts aus der früheren Zeit überkommen, da sich die Kennt-
nisse noch am Ende des 14. Jahrhunderts kaum bis zum Trommelfell
erstreckten. Diese vollständige Unkenntnis der Anatomie des Ohres
erklärt zur Genüge die rohe Empirie, mit der bis dahin die Behandlung
der Ohrenkrankheiten geübt wurde. Noch weniger als die griechische und
römische hatte hier die mittelalterliche Heilwissenschaft in ihrer religiösen
Scheu vor Leichenöffnungen geleistet, ja sie hatte eher dazu beigetragen,
die freie Forschung zu Gunsten eines traditionellen, blinden Autoritäts-
glaubens zu ersticken und in einem Wüste krauser Heilformeln zu ver-
graben.
Als endlich die Finsternis des Mittelalters durch die Wiedergeburt
der Künste und Wissenschaften in Italien zerstreut wurde und das
Bewußtsein der Notwendigkeit anatomischer Studien zum Durchbruch
kam . warf sich die Wißbegierde mit Feuereifer auch auf das bisher
brachliegende Gebiet der Anatomie des Gehörorgans, wo gerade durch
die große Schwierigkeit der anatomischen Untersuchung das Interesse
noch gesteigert wurde. So gelang es der bewundernswerten Ausdauer
der berühmten Anatomen des 16. Jahrhunderts in Italien, in einer ver-
hältnismäßig kurzen Zeit die Anatomie dieses im Schläfebeine vev-
*) Daß sich die päpstliche Regierung, dem Beispiele der genannten Universi-
täten folgend, entschloß, auch in Rom eine anatomische Lehrkanzel zu errichten,
beweist, daß -ie. ohne das kirchliche Verbot der Leichensektionen aufzuheben, dem
Drängen der modernen Naturforschung keinen längeren Widerstand zu leisten ver-
mochte. Während noch 1515 dem Lionardo da Vinci, der in der Sapienza heimlich
anatomische Studien betrieb, von Leo X. der weitere Besuch dieses Spitals verboten
wurde, sehen wir einige Dezennien später B. Eustachio als Professor der Anatomie
an der Sapienza wirken.
Lanzelotti Buonoanti. 11 pensiero anatomico de Lionardo da Vinci in
rapporto eil' arte. K. Accad. di belle arti. Milano 1897; zit. Holl, 1. c. p. 187.
Die Otiatrie in der Renaissancezeit. 79
borgenen Sinnesorganes fast auf eine Stufe mit der aller anderen Organe
zu erlieben.
Es kann sogar behauptet werden, daß die mangelhaften anatomischen
Kenntnisse der verflossenen Periode den Forschern insofern zu statten
kamen, als die anatomische Beobachtung hier nicht, wie anderwärts, in
Galenischen Dogmen und arabischen Doktrinen befangen war. Mit Recht
können wir sagen, daß das Cinquecento für die Otiatrie nicht wie
für die anderen medizinischen Fächer eine Restaurations-, sondern die
Schöpfungsperiode bildet, von der kaum eine Spur zum Altertum zurück-
führt. Daß gerade Italien, das Vaterland der genialsten Künstler, auch
die Geburtsstätte der modernen Anatomie wurde, hatte den nicht genug
zu schätzenden Vorteil, daß sich Gelehrte und Künstler verbanden, um
in bildlichen Darstellungen der anatomischen Objekte den oft schwer-
verständlichen Text durch anschauliche Abbildungen aufs wirksamste zu
ergänzen. Es bedarf in dieser Richtung nur des Hinweises auf die
früher erwähnten unübertroffenen anatomischen Zeichnungen Lionardo
da Vincis (s. S. 77) und auf die Illustrationen des Werkes des unsterb-
lichen Vesal, die durch Calcar, einen Schüler Tizians, in bewunderungs-
würdiger Weise ausgeführt wurden.
Trotz der nun an den genannten Universitäten zur freien Ausübung
ofelanaten anatomischen Sektionen an menschlichen Kadavern konnte das
Vorurteil gegen die Zergliederung des menschlichen Körpers in der
o-roßen Volksmasse nur allmählich zum Schwinden gebracht werden.
Infolge des Mangels an Leichenmaterial geschah es gar nicht selten, daß
die wißbegierigen Jünger der Anatomie zu Leichenausgrabungen ihre
Zuflucht nehmen mußten. Wird doch von Zeitgenossen über nächtliche
Kämpfe zwischen Leichenwächtern und Studenten berichtet, welch letztere
behufs Beschaffung von Sektionsmaterial zur Ausgrabung frischer Leichen
auf den Friedhöfen sich vereinigten. Dieser Mangel an menschlichen
Leichen war auch der Grund, daß man sich zur Erforschung der ana-
tomischen Details vielfach der Gehörorgane von Tieren bediente. Da-
durch ist, vielleicht unbeabsichtigt, die Basis für die vergleichende
Anatomie des Gehörorgans geschaffen worden.
So wurde die Kenntnis des äußeren, mittleren und inneren Ohres
durch die verdienstvollen Anatomen Italiens und deren Schüler in rascher
Fol^e gefördert. Der träge Verkehr zwischen den einzelnen Ländern
zu jener Zeit war die Ursache, daß die Resultate der rasch empor-
blühenden anatomischen Wissenschaft in Italien so spät den Schulen der
anderen europäischen Staaten übermittelt wurden, und daß erst im fol-
genden Jahrhundert deutsche und französische Forscher Gelegenheit
fanden, die Entdeckungen ihrer italienischen Vorgänger zu vermehren
und zu vertiefen.
-d Vesal.
Yesal.
Die bescheidenen Leistungen auf anatomischem Gebiete zu Aus-
gang des 15. Jahrhunderts wurden bald durch die Entdeckungen Vesals
und seiner großen Zeitgenossen in Schatten gestellt. Die Namen Vesal,
Falloppio, Eustachio, Ingrassia sind die Leuchten der klassischen
anatomischen Aera, deren glänzende Leistungen noch heute Bewunderung
erwecken und in ihrer Art mit denen des 19. Jahrhunderts wetteifern.
Ihr Verdienst, in rascher Reihenfolge eine vorher ungeahnte Anzahl
anatomischer Entdeckungen von bleibendem Werte an den Tag gefördert
zu haben, wird keineswegs geschmälert durch die Tatsache, daß diese
Männer einen- jungfräulichen Boden für ihr Forschungsgebiet vorfanden.
Vor allen war es Vesal, der mit dem Einsatz seiner ganzen Per-
sönlichkeit und mit leidenschaftlich reformatorischem Eifer den Kampf
gegen die Galenische Tradition führte und der Idee der freien, un-
befangenen Naturbeobachtung zum Siege verhalf.
Ist Vesal mit Recht als der Neubegründer der Anatomie zu be-
zeichnen *), so muß doch zugegeben werden, daß seine Leistungen auf
dem Gebiete der Ohranatomie weit hinter denen des genialen Falloppio
zurückstehen, der die Grenzen der Kenntnis des Gehörorgans am meisten
von allen Zeitgenossen erweiterte und hier für lange die Führerschaft
an sich riß.
Andreas Vesalius**), am 31. Dezember 1514 zu Brüssel geboren,
entstammte einer Familie, in der schon seit alters her Medizin gepflegt
wurde, und die mehrere ausgezeichnete Aerzte unter ihren Ahnen
-zählte. Er erhielt seine erste wissenschaftliche Bildung, in Philologie
und Mathematik, zu Löwen. Schon als Knabe soll er anatomische
Untersuchungen an Tieren ausgeführt haben. Um 1532 begab er sich,
zum Zwecke anatomischer Studien, nach Montpellier, dann nach Paris,
wo er aber durch seine Lehrer, Guido Guidi (Vidus Vidius), Jacque
Dubois (Sylvias). Günther von Andernach, nur dürftige und oberflächliche
Anleitung fand, doch zum Ersätze mit jugendlicher Begeisterung eigene
Untersuchungen anstellte und oft, selbst mit Lebensgefahr, seinen un-
ersättlichen Hang zum Zergliedern befriedigte. Man sah ihn nicht selten
mit Knochen hingerichteter Verbrecher beschäftigt, die er auf den Kirch-
höfen den Hunden entrissen hatte." Der zwischen Karl V. und Franz I.
ausbrechende Krieg trieb Vesal nach Löwen zurück, wo er kurze Zeit
*) Roth, Andrea Vesal. 1898.
**) Wir beschränken uns wegen des in weitesten Kreisen bekannten Lebens-
laufs Vesals nur auf die wichtigsten Daten. Die ausführlichste Darstellung gibt
Burggraeve. Ktudes sur Andre Vesale, Gand (Annoot-Braeckman) . 1841 und
Roth 1. c.
Tafel I
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ANDREAS VESALIUS
Vesal. 81
anatomische Vorlesungen kielt, um bald darauf, in seinem 20. Lebens-
jahre, als Feldarzt in der kaiserlichen Armee Dienste zu nehmen, vor-
wiegend in der Erwartung, sich hierbei Gelegenheit zur Erlangung von
Leichen zu verschaffen. Mit dem Heere kam er bald darauf nach Italien,
und aus dieser Zeit stammen die zahlreichen Sektionen, deren Er-
gebnisse er in seinen ersten Werken niederlegte. Schon damals war
sein Ruf so bedeutend, daß ihm zu Padua der Lehrstuhl der Anatomie
angeboten wurde, avo er sieben Jahre (1539 — 1546) unter großem Bei-
fall Anatomie vortrug. Auch in Bologna und Pisa lehrte er vorüber-
gehend, und hielt zu Basel, als er hier im Jahre 1542 gelegentlich
des Druckes seines unsterblichen Werkes weilte , einige Vorlesungen
mit Sektionen ab. Im Jahre 1543 folgte er dem Kaiser nach Geldern
und behandelte ihn bald darauf zu Regensburg an der Gicht. Drei
Jahre später gab er sein Lehramt in Bologna auf, das er durch wieder-
holte Reisen nach Deutschland und Holland unterbrochen hatte, und
verweilte zunächst längere Zeit in Basel , um den Druck seines Werkes
„De corporis humani fabrica" in der zweiten Ausgabe vorzubereiten.
Sein Erscheinen rief ebensoviel Haß, Feindschaft und Erbitterung wie
Beifall und Anerkennung hervor. Die Wucht der gehässigen Angriffe
namentlich seines alten Lehrers Sylvius verletzte Vesal so tief, daß
er in einem Momente aufwallender Verzweiflung einen Teil seiner
Manuskripte verbrannte. Der Ansturm seiner Gegner, die ihn mit
Luther verglichen und der Ketzerei beschuldigten, war noch im
Jahre 1556 so gewaltig, daß Karl V. es für gut fand, der theologischen
Fakultät Salamanca die Frage vorzulegen, ob es katholischen Christen
gestattet sei, menschliche Leichen zu zergliedern. In demselben Jahre,
nach der Abdankung Karls V., trat Vesal, der dem Kaiser nach Spanien
gefolgt war, in die Dienste Philipps II. als Leibarzt. Die vielerlei klein-
lichen Pflichten des Hofdienstes, noch verschärft durch die Intrigen und
offene Anfeindungen des spanischen Klerus, sowie gänzlicher Maugel an
Sektionsmaterial, dies alles drängte ihn 1564, Madrid zu verlassen, um
angeblich zur Erfüllung eines Gelübdes sich nach Jerusalem zu be-
geben. Als er dort ankam, traf ihn die Aufforderung, den durch
Falloppios Tod erledigten Lehrstuhl der Anatomie in Padua zu über-
nehmen, worauf er sich zur raschen Rückreise entschloß. Am 2. Oktober
1564 erlitt sein Fahrzeug an der Küste von Zante Schiffbruch. Vesal
erkrankte infolge der großen Aufregung und wurde am 15. Oktober L564,
noch vor seinem 50. Lebensjahre, dahingerafft. So endete tragisch das
Leben eines Mannes, dem die Wissenschaft Unvergängliches verdankt,
Nach unverbürgten Nachrichten wurde er von einem Goldschmied er-
kannt, der ihm auf Zante ein einfaches Grabmal setzte.
Die bahnbrechenden Entdeckungen Yesals beziehen sich fast auf
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1. "
32 Vesal.
alle Teile des menschlichen Körpers. Am genauesten und sorgsamsten
wurde von ihm insbesondere die Osteologie, Angiologie, Splanchnologie
und die Anatomie des Gehirns bearbeitet, während die Neurologie und
die Zergliederung der Sinnesorgane große Mängel aufweisen. Namentlich
wurde die Kenntnis des Gehörorgans von Vesal nicht in dem Maße
gefördert, wie man nach seinen glänzenden Erfolgen auf anderen Gebieten
schließen sollte.
Von seinen Werken, die zum Teil durch unübertreffliche, von der
Hand Joh. Stephan von Calcars, eines Schülers Tizians, herrührende
anatomische Abbildungen bereichert sind, kommen für die Otologie zwei
in Betracht:
Das Hauptwerk De corporis humani fabrica libri septem
(erste Ausgabe, Basil. ex off. Joann. Oporin 1543*), und die letzte seiner
Schriften, Anatomicarum Gabrielis Falloppii observationum
ex amen. Venet 1564. In diesem finden manche Irrtümer des ersten
Werkes mannigfache Berichtigung, auch enthält es, angeregt durch die
Errungenschaften anderer Anatomen, mehr Neues über die Ohranatomie
als das Hauptwerk. Doch auch dieses, dessen Bedeutung Haller mit
den Worten „Immortale opus, et quo priora omnia, quae ante
se scripta fuissent, paene reddit supervacua" hervorhebt, hat
für die Otologie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
Indem wir im folgenden den auf die Ohranatomie bezüglichen
Inhalt beider Werke Vesals skizzieren, soll von den Mängeln nur so
weit Notiz genommen werden, als sie Hindernis oder Antrieb für weitere
Untersuchungen bedeuteten.
Von großem Interesse sind die Bemerkungen Vesals, die sich
auf die Art der Zergliederung des Gehörorgans und auf die
Wahl der Objekte beziehen. Bezüglich des technischen Vorganges war
Vesal der erste, der zur Untersuchung des Gehörorgans dessen Heraus-
nahme aus dem Schädel empfiehlt1).
Dieser die Zergliederung des Ohres einleitende Akt entspricht der
erst spät zur Uebung gelangten Herausnahme des Gehirns aus dem
Schädel, welche bedeutenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der
Hirnanatomie übte. Von großem Nutzen für die Erforschung der Ohr-
anatomie ist nach Vesal die Zergliederung der Gehörorgane von
T i •• re n . wodurch zweifelsohne das Studium der vergleichenden Anatomie
des Ohres gefördert wurde2).
Auf die Details der einzelnen Abschnitte des Gehörorgans über-
i Ferner: Anatomia in qua tota humani corporis fabrica iconibus elegantissimis
juxta genuinam Auctoris delineatur. Amstelodami excudebat Joannes Jansonius in
fol. 1617. Des großen Zergliederers Andreas Vesals anatomische Originalfiguren in
sieben Büchern. Ingolstadt. Herausg. v. Leveling, 3. Nov. in fol.
Vesal.
83
gehend, registriert Vesal zunächst die von ihm als richtig erkannten
Beschreibungen seiner Vorgänger und gibt eine eingehendere Schilderung
der Formverhältnisse der Ohrmuschel, des äußeren Gehörefangs
und des Trommelfells, dessen Befestigung in einem knöchernen Ring
er besonders hervorhebt.
Von den Gehörknöchelchen waren ihm nur der Hammer und
Amboß bekannt").
Fig. 1. Erste Abbildung des Hammers und Amboßes und eines Durchschnitts des
Gehörorgans. Photographische Reproduktion aus Vesal s „De corporis huinani fabrica
libri septem". Basel 1543.
Die vorstehende rohe Abbildung des Hammers und Amboßes, insbesondere der
kaum verständliche Durchschnitt der Trommelhöhle läßt auf den ersten Blick die
Meisterhand Calcars vermissen. Auch zeigt die anatomisch ganz unrichtige Ab-
bildung der Hammer-Amboßverbindung (P. Q.), daß Vesal diese Knöchelchen nur,
nachdem sie durch Mazeration aus dem Schläfenbeine herausfielen, gesehen hat.
Ueber ihre Topographie am nicht mazerierten Präparate scheint er nicht orientiert
gewesen zu sein.
Dem Hammer legte er den Namen „ma Ileus" bei, den Amboß
nannte er „incus" und verglich den ersteren mit dem femur, den letzteren
mit einem zwei wurzeligen Backenzahn 4). Beide Knöchelchen finden
sich in dem genannten Werke einzeln und in ihrer Lage in der
Trommelhöhle abgebildet (Fig. 1). Noch primitiver und durchaus im
Gegensatz zu den meisten Anatomen seiner Zeit erwähnt er einige
Fortsätze, die sich am Hammerhalse befinden. Er war der Ansicht.
daß sie zur innigeren Befestigung mit der Membrana tympani dienten '').
Ob er unter diesen auch den langen Fortsatz gesehen hat, läßt sich
aus seinen Aeußerungen nicht entnehmen. Auch sprach er beiden Gehör-
knöchelchen das Periost zu, was bis Kursen von vielen Anatomen be-
stritten wurde.
In der Trommelhöhle, von ihm als „pelvis" bezeichnet, waren
ihm beide fenestrae bekannt, von denen er das ovale (fenestra vestibuli)
„foramen anterius". das runde (fenestra Cochleae) als „foramen secundum
v | Vesal.
vel posterius" benennt; auch das Promontorium entging ihm nicht, das
er als ein „tuberculum inter fenestram utramque positum superiori sede
parvae conchae, quae in frenorum ornamenta adhibetur" beschreibt.
Was die inneren Ohrmuskeln betrifft*), so scheint er den
Tensor fcympani früher als Eustachi o gesehen zu haben, jedoch leug-
nete er dessen muskulöse Struktur und glaubte nicht an seine will-
kürliche Aktionsmöglichkeit, oder war wenigstens im Zweifel darüber,
welchen Gebilden er ihn zurechnen sollte, wie aus seinen Worten „in-
signem et notatu dignum cui nervosum quid et fibrosum instar rotundae
oblongaeque cujusdam glandulae insistit" deutlich hervorgeht.
Wie bei Celsus finden wir auch bei Vesal eine allerdings noch
unklare Vorstellung von dem Vorhandensein der Tuba Eustachii.
Wenn wir Vesals Kenntnis des mittleren Ohres trotz der
großen Mängel doch als wesentlichen Fortschritt in der Ohranatomie
bezeichnen müssen, so vermissen wir dagegen bei der Beschreibung des
inneren Ohrs jene Klarheit und Uebersicht, welche die vortreffliche
Darstellung Falloppios auszeichnet. Vesal nennt das Labyrinth „antrum
metallicum" und vergleicht es „cum praecipua fodinae alicujus metallicae
sede, a qua multae plateae aut viae aut cuniculi excurrunt, qui per duram
nssis substantiam velut in circulum excavati incedentesque in amplam
cameram rursus revertuntur" **).
Im „Examen observ. Fallopp." beschreibt er Vorhof und Bogen-
gänge sehr oberflächlich. Die Schnecke wird von ihm „antrum buc-
cinatum" oder „buccinosum" genannt***).
In dem Hauptwerke Vesals herrscht dagegen eine völlige Un-
klarheit über Anordnung und Zahl der Höhlen und Gänge im Labyrinthe,
die seiner Meinung nach von einer Membran ausgekleidet sind, welche
vom Gehör- und Antlitznerven stammen soll. Höchst verworren ist
seine Ansicht über den Verlauf des N. acusticus. Er hielt ihn nicht
für einen eigenen Nerv, sondern nur für einen Ast, der mit dem
Facialis aus einem gemeinschaftlichen Stamm, dem schon von Galen
und seinen Nachfolgern als fünften bezeichneten Gehirnnerven hervor-
gehe. Dieser Ansicht huldigten übrigens, Falloppio ausgenommen,
noch alle Anatomen der damaligen Zeit. Vesal verfolgte den Nerven-
eintritt im Meatus auditorius internus, den er beschreibt und ab-
bildet f), ohne den weiteren Verlauf des Acusticus auch nur annähernd
richtig anzugeben. Seine Abbildungen von den Nervenverzweigungen
) Exam. observ. Fall. p. 15.
i Examen observ. Fallopp.
**) A buccina cornu recurvo ac contorto quo pastores pecus convocare solebant
vel a buccina conchilii specie. 1. c.
f) De corp. bum. fabr. L. 1. p. 65, Cap. XII.
Vesal. 85
in der Trommelhöhle, welche die Endigungen des Gehör-
nerven darstellen sollen, verraten die totale Unkenntnis Vesals von dem
Verhalten des Hörnerven zum Labyrinthe, was umsomehr auffällt, als
dieser Irrtum auch in den später erschienenen „Exam. observ. Fallopp."
nicht richtiggestellt wurde.
Ueber die Physiologie des Ohres und den Nutzen der ein-
zelnen Teile des Organs spricht sich Vesal als objektiver Forscher sehr
zurückhaltend aus und entwickelt seine Ansichten nur so weit, als ihm
die anatomischen Entdeckungen jener Zeit hierfür eine Grundlage boten.
..Nihil enim certius de auditu, sonituque percipiendo hie, quam inibi,
attexere possum" *).
Ein Ueberblick dieser kurz skizzierten Leistungen Vesals in der
Ohranatomie zeigt, daß dieser große Forscher gerade dem Gehörorgan
nur geringes Interesse entgegenbrachte und daß er namentlich das
Labyrinth höchst oberflächlich untersuchte. Beweis hierfür, daß ihm der
Steigbügel, den jetzt jeder Student beim rohen Aufsprengen der Trommel-
höhle sofort findet, entgangen ist. Trotz des nicht ungerechtfertigten
Tadels Eustachios über Vesals Ohranatomie müssen wir dessen ein-
schlägige Leistungen aber dennoch als einen bedeutenden Fortschritt
bezeichnen, der nur deshalb einer strengeren Beurteilung unterliegt, weil
es sich um einen der Größten handelt, deren die medizinische Geschichte
Erwähnung tut.
!) < »mnia tarnen mihi percomruode succedunt. si serra . totam ossis partem, quae
auditus Organum continet, a reliqua calvaria libero et deinde transversim validiori
eultro os Universum impetu disseco. De corp. hum. fabr. L. VII, Cap. 18.
2) Imo, si in uno latere negotium parum ex sententia cesserit, nihil sane
prohibet alterum quoque aggredi, et brutorum calvarias, ut bovis et ovis, operi ad-
hibere, quum illis animalibus Organum auditus non multum ab hominis fabrica dis-
crepet. 1. c.
3) Auditus organi ossicula quatuor sunt, duo scilieet ad singulas aures. 1. c.
L. I. Cap. 39.
4) Ossiculum reponitur, duobus tenuibus et acutis processibus, seu cruribus
firmatum , a<1al>ilitumque horum exterius , ac auri vicinius, est breviua et crassius
latiusque, ac in acutum desinit apicem. Alterum crus, quod interius consistit . ei
membranae orbicularem illam cavitatis sedem succingenti magis, quam exterius crus,
innascitur, longius nonnihil et tenuis est ipsiusque extremum quasi in unrulum cessat,
quo membranae illi implicatur, firmiusque innectitur. Ossiculi huius pars extra
membranam prominens, superius partim plana, partim rotunda cernitur: quemad-
modum minores nonnulli ineudes effingi solent, quorum amplior pars plana est: alti
quae veluti in mucronem desinit, instar coni rotunda. Grandiores enim ineudes
penitus plani depressive et quadranguli fiunt. Caeterum si hoc ossiculum, quia tantum
binis donatur cruribus, ineudi assimilare minus placuerit, nihil prot'ecto obstiterit,
molari denti duabus tantum ladieibus praedito i'l conferre. 1. c. L. I. Cap. S. Siehe
auch Ex. obs. Fall.
) 1. c. L. VI. Cap. 15.
Ingrassia.
b) Alteruni ossiculuni, a iam commemorato plurimum variat, alterique in-
nascitur membranae, Foramen enim cavitatis, seu antri in teuiporis osse incisi, quod
aurem spectat. ea parte qua cavitatis amplitudini vicinum est, membranula tenuis-
sima et prorsus pfllucida in eum modum obtegitur, quo vas suo fundo obturari dici-
mus. Huic itaque membranulae transversim id ossiculum innascitur; itaque ipsi intus
transversim insternitur, ac in tyrnpanis fidem unam atque alteram crassiorem
membranae, seu asinorura pelli , obtendi conspicimus. Ut vero ossiculum validius
firmaretur , longum tenuemque babet processum , quo membranae secundum illius
latitudinem innascitur. Hunc processum liceret femoris ossis parti comparare, quae
ab ipsius processibus, quos rotatores vocamus , ad inferiora usque femoris capita
pertinet; imo si haec inferiora capita a reliquo femore resecta finxeris Universum
ossiculum femori opportune assimilabitur. Quemadmodum enim femur iuxta ipsius
cervicem duos asciscit processus, sie etiam ossiculum hoc eadem eede processulos
aliquot sibi vendicat, quorum beneficio membranae suae firmius innascitur . . . 1. c.
Ingrassia.
Bevor wir uns den epochalen Leistungen Falloppios zuwenden,
müssen wir des Schülers Vesals gedenken, der nach den besten histori-
schen Quellen das Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, das
dritte Gehörknöchelchen, den Steigbügel, zuerst aufgefunden zu haben.
Giov. Fil. Ingrassia (1510 — 1580) wurde im Jahre 1510 zu
Recalbuto in Sizilien geboren und war Zeitgenosse des Vesal,
Eustachio und Falloppio. Erst Professor zu Padua, dann in Neapel,
endlich zu Palermo, wurde er 1563 von Philipp IL von Spanien (dem
damaligen König von Sizilien) zum Archiater von Sizilien ernannt. In-
grassia gewann durch seine Vorträge über Anatomie und praktische
Medizin, in denen er sich nicht als blinder Nachbeter des Hippokrates
und Galen erwies, so viele Hörer, daß in Palermo kaum genügende
Wohnungsräume für die zuströmenden fremden Studierenden und Aerzte
gefunden werden konnten. Außer durch die glänzende Beherrschung
seines Faches zeichnete er sich auch durch allgemeine, philosophische
und literarische Bildung so sehr aus, daß ihn der König wiederholt
als Ratgeber beizog. Noch mehr war er wegen seiner Menschenfreund-
lichkeit und Mildtätigkeit beim Volke beliebt und verehrt. Nament-
lich während der Pestzeit im Jahre 1575, wo Ingrassia als
Gesundheitsrat zu Palermo wirkte , trug er durch Besonnenheit und
ünerschrockenheit dazu bei, daß in seinem Aufenthaltsorte die Epidemie
weniger Opfer als anderswo forderte. Er erwarb sich so sehr das Ver-
trauen und die Dankbarkeit des Volkes, daß man ihm damals als Ehren-
gabe eine Pension von 250 Dukaten spendete, die er bescheiden ablehnte
und zur Ausschmückung einer Kapelle bestimmte. Sein Ruhm drang
durch ganz Italien und verschaffte ihm den ehrenden Beinamen „Hippo-
crates Siculus". Er starb, allgemein betrauert, 1580 im Alter von
70 Jahren. Auf einer Wand des Universitätsgebäudes in Neapel setzten
Tafel II
PHILIPPUS INGRASSIA
Ingrassia. 87
dankbare Schüler die Inschrift: „Philippo Ingrassiae Siculo, qui veram
Medicinae artem atque Anatomen publice enarrando Neapoli restituit,
Discipuli memoriae causa" *).
Ingrassias Verdienste um die Anatomie beziehen sich vorwiegend
auf die Osteologie, die er mit einer Sorgfalt bearbeitete, welche späteren
Forschern nur wenige Entdeckungen übrig ließ; er war einer der
ersten, die Vesals Verdienste um die Anatomie anerkannten. Auch für
die Chirurgie leistete er Ersprießliches, und selbst die Geschichte der
Epidemien verdankt ihm wertvolle Beiträge. Sein wichtigstes ana-
tomisches Werk wurde von seinem Enkel lange nach seinem Tode heraus-
gegeben und enthält manche dem Vesal entnommene Abbildungen: In
Galeni librum de ossibus doctissima et exspectatissima commentaria.
Panormi. Ed. post mortem 1603.
Was im letztgenannten Werke in Bezug auf die Anatomie des Ge-
hörorgans enthalten ist **), kommt allerdings nur zum Teil auf Rechnung
seiner eigenen Leistungen, da er bis zur Vollendung seines Werks wohl
reichlich Gelegenheit fand, die Werke Falloppios und Eustachios
zu benützen. Immerhin muß auch die Berücksichtigung der Leistungen
seiner Zeitgenossen ihm als Verdienst angerechnet werden, wenn man
bedenkt, wie dürftig die Anatomie des Ohres von den zeitgenössischen
deutschen und französischen Anatomen behandelt wird.
Nach einer Beschreibung der Ohrmuschel und des äußeren Gehör-
gangs schildert er die Trommelhöhle, deren wichtigste Bestandteile und
Erhabenheiten er fast vollständig aufzählt. Er beschreibt die Gehör-
knöchelchen, von denen er, wie erwähnt, den Stapes bereits im Jahre 1546
entdeckt und zuerst beschrieben hat, ferner die beiden Fenestrae, die
Chorda tympani, und bildete den angeblich von Eustachi o entdeckten,
jedoch bereits von Vesal erwähnten Hammermuskel ab, den er aber für
einen Nerv hielt. Die Existenz der Tuba Eust, war ihm bekannt;
er vermied es aber auf die morphologischen Verhältnisse naher einzugehen.
DieCellulae mastoideae beschrieb er besser als Vesal. Vom
inneren Ohr erwähnt Ingrassia die Schnecke und die halbzirkel-
förmigen Kanäle und gibt eine klarere Beschreibung derselben als seine
Vorgänger. Den X. acusticus trennte er als Portio mollis vom Ge-
sichtsnerven; doch hielt er sie für zwei Zweige eines gemeinschaftlichen
Stammes. Seine größte Ruhmestat ist die Auffindung des Stapes. die
ihm im Jahre 154(5 durch Zufall glückte1). Die Entdeckung wurde ihm
jedoch von Eustachio, Realdo Colombo, dem spanischen Anatomen
Collado und eine Zeitlang auch von Falloppio streitig gemacht; und
i Vergl. Arcangelo Speclalieri : Elogio rtorico di Giov. Filippo Ingrassia.
Milano 1817.
**) 1. c. p. 57.
gg Ingrassia.
es muß zugegeben werden, daß möglicherweise einer oder mehrere der
Genannten unabhängig von Ingrassia dieselbe Entdeckung gemacht
haben können.
Der Streit über die Priorität der Entdeckung des Stapes zog sich längere Zeit
hin. um schließlich zu Gunsten Ingrassias zu enden. Collados2) Ansprüche
wurden deshalb hinfällig, weil sie viel zu spät kamen. Falloppio, der wohl un-
abhängig von Ingrassia den Steigbügel sah, trat sofort, als er erfuhr, daß Ingrassia
das Knöchelchen schon früher entdeckt habe, von seinem Ansprüche zurück und
betonte mit der ihm eigenen Gerechtigkeitsliebe und Bescheidenheit Ingrassias
Verdienst.
Durch Falloppios beweiskräftige Behauptung wurden somit auch Colombos3)
Prioritätsansprüche zurückgewiesen. Von Eustachio ist wohl mit Sicherheit anzu-
nehmen, daß er unabhängig von Ingrassia den Stapes gefunden hat, aber nach
allem zu schließen erst nach Ingrassia. Morgagni und Hall er dürften zu weit
gegangen sein, wenn sie Eustachio als Entdecker des Stapes erklären, indem sie
sich von der Erwägung leiten ließen, Ingrassia könnte, da sein Werk so spät voll-
endet war, die Errungenschaften seiner Vorgänger benützt und als die seinigen aus-
gegeben haben. Vesal4) und Koyter5) erklären sich entschieden für die Priorität
Ingrassias.
Den hier skizzierten Forschungsergebnissen Ingrassias wäre
noch hinzuzufügen, daß sich in seinem Werke neben zerstreuten gehörs-
physiologischen Bemerkungen von geringem Werte eine wichtige Be-
obachtung findet, nämlich die Beobachtung der Leitungsfähigkeit
der Zähne für den Schall. Diese Angabe und die Auffindung des
Stapes sichern ihm wohl für alle Zeit einen Ehrenplatz in der Geschichte
der Ohrenheilkunde.
') Die Stelle lautet: Quo autem modo id ossiculum primo nobis cognitum
fuerit, dum publice Neapoli theoricam et practicam, ambas medicinae sie vocantur
partes, atque anatomen quoque profitemur ; id tertium non invenimus, sed reperimus;
ipsum enim minime quaerebamus , quia nullam de eo notitiam , neque suspicionem
habebamus. Sealpro autem malleoque auris ossa percutientes ut internas cavernulas
et in ipsis contentas substantias circumstantibus scholaribus nostris ostenderemus, ubi
jam duo priora ossicula demonstraveramus, tertium id ossiculum nescio quomodo
in bibulae piano, casu potius inspeeimus: quod inspectum, consideratumque ac ada-
mussim perpensum, non ex aeeidenti, sed ex naturae proposito factum esse decrevimus.
Unde autem resilierit et quis ejus esset usus ignorabamus. Statim igitur aliorum
animalium praesertimque boum diversa capita, quae in macellis non defuerant, dis-
secare aggressi sumus, facillimeque singulas ossis in quo auditus sit partes observando,
alteri tandem , longiori scilicet termiorique ineudis cruri annexum pendensque id
tertium ossiculum invenimus: indeque quam primum ad humani capitis dissectionem
reversi t perpetim illud vel clausis oculis invenimus, cui quidem vestigando staphae
primum nomen imposuimus, quia longe majorem similitudinem hoc ossiculum habet
cum Btapha, seu stapede, quam alia duo cum malleo et ineude ... 1. c. p. 7 et seq.
2) Aliud os reperi cui, quod simile est equitando instrumento quo pedes
firmantur, stapedis nomen imposui. Collado (vide Morgagni, Epistol. anatom.,
Epist. VI, Cap. 3, p. 116) adversaria s. commentaria medica. Genevae 1615.
Falloppio. 39
3) RealdoColombo sagt in seinem Werke De re anatomica, Lib. I, Cap. VII:
„His tertium (sc. ossiculum) accedit nernini, quod sciam, ante nos cognitum."
4) Vesal, Opera omnia Lugdun. Batav 1725, tom II, p. 771 bemerkt: „Post-
quam audivissem tertium quoque ossiculum quoddam re}:>ertum, ego illud mox inveni,
hocque tarn exiguum esse conspiciens , observatoris Ingrassiae siculi praestantissimi
operam laudavi, comparationemque cum stapede apud neapolitanos equites factam,
jucunde recepi."
5) Koyter, Extern, et intern, part. bum. corp. Tab. etc. Norimberg 1572:
„Haec tria ossicula priscis fuere incognita . duo a Jacopo Carpensi , unum a Joan.
Philippe- Ingrassia siculo inventum."
Gabriele Falloppio.
In der Reihe der berühmtesten Anatomen der Renaissancezeit ragt
der Modenenser Falloppio dadurch hervor, daß er Größe des Wissens
mit einer seltenen Erhabenheit des Charakters vereint. In ihm erschien
das Ideal eines bedeutenden Gelehrten verkörpert. Nach dem überein-
stimmenden Urteile seiner Zeitgenossen übertraf Falloppio seinen
Meister Vesal an Genialität, namentlich in der Ergründung der schwie-
rigsten und dunkelsten Partien des Nervenverlaufs und des Baues der
Sinnesorgane. Seine in schlichten Worten abgefaßten Schriften und
Abhandlungen enthalten eine solche Fülle neuer Tatsachen, daß man sie
in ihrer einfachen und klaren Darstellung mit Recht als klassisch be-
zeichnen darf. Die hohe Bedeutung seines Wirkens für die Anatomie
des Ohres läßt es gerechtfertigt erscheinen, daß wir im folgenden eine
Skizze seiner Persönlichkeit und seiner wissenschaftlichen Leistungen
entwerfen.
Gabriele Falloppio (Faloppio, Faloppa, Faloppius, selbst
Foloppia geschrieben, die Schreibart ist unsicher; 1523 — 1562) wurde
zu Modena 1523 geboren und stammte aus einer der berühmtesten
Familien Italiens. Von der Natur mit den glänzendsten geistigen und
körperlichen Gaben ausgestattet, wandte er sich trotz großer Entbehrungen
wissenschaftlichen Studien zu und trieb anfangs mit großem Eifer Philo-
sophie und die schönen Wissenschaften, wandte sich aber bald der Medizin
zu. In hohem Maße fühlte er sich zur Anatomie hingezogen, in der er
später so Hervorragendes leistete, daß er als der Begründer der italieni-
schen Schule anzusehen ist, aus welcher die bedeutenden Anatomen aller
Länder hervorgegangen sind. Er verdankte seine großen Kenntnisse zum
Teil dem Umstände, daß er viele Universitäten aufsuchte und mit an-
gesehenen Forschern seiner Zeit in regen freundschaftlichen Verkehr trat,
unter anderen mit Ingrassia, Colombo, Cannanus, Madius und
Bartholinus. Ob er jemals Vesal s Schüler gewesen, ist nicht gewiß.
Durch seine hervorragenden Geisteseigenschaften, durch seine liebens-
würdige Bescheidenheit und durch das feine Taktgefühl, mit dem er die
(,n Falloppio.
Verdienste der Vorgänger anerkannte und pietätvoll ehrte, gewann er
überall Freunde und wurde eine der beliebtesten Persönlichkeiten des
Zeitalters. Nur mit dein schroffen Eustachius scheint auch er trotz
der Weichheit seines Charakters nicht in gutem Einvernehmen wie mit
allen übrigen gestanden zu sein. Schon mit 24 Jahren wurde er Pro-
fessor zu Ferrara, bald darauf zu Pisa. Im Jahre 1551 erhielt er einen
Uni' nach Padua, wo er seine Studien begonnen hatte, und wirkte daselbst
als Lehrer der Anatomie und Botanik, zugleich aber auch als Praktiker,
namentlich in der Chirurgie, in der er einen solchen Ruhm gewann, daß
ihm der Ehrennamen „Aeskulap seines Jahrhunderts" zugeteilt
wurde. Noch über den Tod (1562) hinaus ehrte ihn Padua dadurch,
daß es zu seinem Nachfolger auf den Lehrstuhl, der zwei Jahre unbesetzt
blieb, zuerst Vesal berief. Da dieser auf der Fahrt nach Italien Schiff-
bruch litt und in Zante (1564) starb, unterblieb das seltene Schauspiel,
daß ein Lehrer dem Schüler im Amte nachfolgte.
Es gibt fast kein Gebiet der Anatomie, welches von Falloppio
nicht durch wichtige Entdeckungen bereichert worden wäre, die Früchte
sorgfältigster, mühevollster Untersuchungen. Erinnern doch die Be-
nennungen der Tuben, des Ligamentum ciliare, des Aquaeductus (jetzt
Canalis facialis) allezeit an ihn und beweisen, auf Avelch verschiedenen
anatomischen Gebieten er sein Talent betätigte! Seine zahlreichen Sek-
tionen — er obduzierte durchschnittlich sieben menschliche Kadaver im
Jahre, was damals viel war — ermöglichten ihm eine genaue Beschreibung
des Knochensystems, sowie die von ihm begründete und von seinen
Schülern Fabricius ab Aquapendente und Koyter fortgesetzte Be-
arbeitung der Entwicklungsgeschichte, die sorgfältige Durchforschung des
Gesichts- und Gehörorganes.
Sein bestes und umfassendstes Werk, das trotz der Kürze mehr
enthält als die voluminösesten Folianten anderer, sind die „Obser-
vationes anatomicae" *). Venet, 1561. 8. (1562. 8. 1571. 8. Par. 1562.
- Francoforti 1584. Colon. 1562. 8. Venet. 1606). Haller fällte über
dasselbe folgendes schmeichelhafte Urteil: ..Eximium opus est, cui nulluni
priorum comparari potest" **).
Obwohl ihm die Anatomie so viel Neues verdankt, unterließ er es
doch niemals, die Verdienste anderer voll anzuerkennen und bewahrte im
*) Siehe ferner: Lectiones Gabr. Falopii de partibus similaribus burnani cor-
poris. Ed. Coiter 1575.
**) Außerdem rubren von Fallopio her: Lectiones de partibus similaribus
corporis humani. His accessere diversorum animalium sceletorum explicationes
iconibus illustratae. Norimberg 1575. Opera omnia, Venet. 1584, enthalten auch auf
praktische Medizin bezügliche Abhandlungen Falloppios nach den Aufzeichnungen
seines Schülers Marcolini.
Tafel III
GABRIEL MLOPHI5
CELEBEKRIMllS MEDICUS ET ASTR0L0GI15
IN VENET. ET PAD\A.
JS.T. S. LXXIII.
!; 'SiW;!Ü!l'!l".M!|3!iiW,iif
i!i!iö«i!ii!iiiiii]iiiiiiiiii!iiiiiijraiii'i!iiiiiii«uiiiiiraffliiii-
GABRIEL FALOPIUS
Falloppio. 91
wohltuenden Gegensatz zu Realdo Colombo rühmenswerte Pietät für
Vesal, als dessen Leistungen in mancher Hinsicht bereits überholt waren.
Was die meisterhafte Beschreibung des Ohres betrifft, so teilt er
diesen Ruhm nur mit Eustachio, den er aber, wie überhaupt in der
Neurologie, in der Kenntnis des Acusticusverlaufs weitaus überholte. Er
selbst erkennt den Wert seines Fleißes auf diesem Gebiete, wenn er
sagt: „Scias autem, quod si qua in parte anatomes laboravi ac infundavi,
haec illa fuit, ut apertis oculis cognoscerem auditorii organi structuram
atque huius quinti nervi ductum"*).
Falloppio untersuchte das Gehörorgan in verschiedenen Alters-
perioden und fand, daß schon in sehr frühen Entwicklungsstadien die
Teile, wie sie sich im Ohre des Erwachsenen finden, vorhanden sind1).
Vom Process. styloid. bemerkt er, daß er anfangs knorpelig und
leicht abtrennbar sei und behauptet, daß der Process. mastoideus
bei Neugeborenen fehle, sich aber mit dem weiteren Wachstume nach
und nach zur normalen Größe entwickle. Die Kommunikation der
Cellulae mastoid. mit der Trommelhöhle war ihm bekannt. Wichtig
ist seine Entdeckung, daß der Trommelfellring beim Fötus von dem
übrigen Schläfenbeine getrennt sei und später mit ihm verwachse 2) ; nach
Falloppio verleiht der Annulus tympanicus dem Trommelfell ge-
nügende Spannung. Von der Membrana fcympani selbst gab Fal-
loppio die erste exakte Beschreibung, namentlich was ihre Neigung an-
belangt, so daß späterhin kaum mehr etwas Wesentliches hinzugefügt
werden konnte 3). Er weist durch schlagende Gründe die Ansicht seiner
Vorgänger zurück, die das Trommelfell von der Dura mater herleiteten.
Falloppios Kenntnisse von der Trommelhöhle, welcher er
wegen der Aehnlichkeit mit der Trommel den Namen „Tympanum" gab,
wobei die vorgespannte Membran das „tertium comparationis" abgibt1),
sind für seine Zeit vollgültig. Er beschreibt die drei Gehörknöchelchen,
die beiden Fenestrae, das Promontorium, die Chorda fcympani und
fand den nach ihm bezeichneten Canalis sive Aquaeductus, welcher
den N. facialis in seinem Verlaufe durch das Schläfenbein in sich schließt.
Von weiteren Details beschreibt Falloppio die Insertion des
Hammers am Trommelfell, die gelenkige Verbindung des Caput
mallei mit dem Incus und unterscheidet zwei Fortsätze des Amboßes,
einen kürzeren dickeren, der an der Wand oberhalb des Aquaeductus
fixiert ist, und einen längeren zarteren, der sich mit dem Stapes
verbindet, welch letzterer das höher gelegene Fenster mit seiner Basis
verschließe. Die knorpelige G el enk \ e r bi in du ng der Gehör-
knöchelchen wird von ihm erwähnt. Zu seinen wichtigsten Ent-
*) Observ. anat. p. 239.
92 Palloppio.
deckungen zählt der Aquaeductus (Canalis Falloppiae). Die Entdeckung
dieses Kanals datiert vom Jahre 1561. Er beschreibt seinen Verlauf
so anschaulich, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle hierher
zu setzen. Observ. anat. p. 46:
Tertium . quod ego observatione dignum existiino , canalis quidarn osseus est,
qui recto huius cavitatis quasi subtenditur exitque extra calvariam post radicern,
calcaria inter illam ac mammillarem processum. Nam si recte inspicias, videbis quintum
par nervorum a reliquis anatomicis ita vocatum, extendi ad medium feroie processum
ossis temporum, quem intemum atque petrosum appellamus, illuc tensum hoc par
ingreditur in canalem quendam insculptum , in quo Jätens in duas finditur partes,
alteram quendam magnam , alteram vero parvam et gracilem valde durioremque.
Haec posterior perforato osse occulto quodam canali, versus anteriora capitis serpit,
deinde reflexa, tympanumque ingi*essa proprio hoc canali osseo deorsum et'posteriora
versus ad pinnae ipsius auriculae radicem erumpit et disseminatur ut suo loco
dicam. Via igitur istius nervi canalis hie est, de quo loquor et aquaeduetum a
similitudine appello.
Aus dieser trefflichen Schilderung geht zugleich das Widerstreben
hervor, mit dem er Facialis und Acusticus als einen Nerv im Sinne seiner
Zeitgenossen auffaßt, und er entschuldigt sich gleichsam der Nachwelt
gegenüber, daß er dies getan habe, um nicht zu sehr von jenen ab-
zuweichen 5).
Seine Beschreibung der Chorda tymp. ist unrichtig, da er es un-
entschieden läßt, ob sie ein Nerv oder eine kleine Arterie sei 6).
Das innere Ohr teilt er in zwei Höhlen, deren erste (seeunda
cavitas) die Bogengänge und das Vestibulum umfaßt und von ihm
Labyrinth7) genannt wurde; während er die zweite als Schnecke,
Cochlea (tertia cavitas) bezeichnet. Seine Schilderung des Labyrinthes
ist viel genauer als die seiner Vorgänger und übertrifft an Exaktheit die
seiner nächsten Schüler und Nachfolger, Koyter und Fabricius ab
Aquapendente.
Was die einzelnen Details des Labyrinthes anbelangt, so wird das
Vestibulum nur kurz beschrieben. Die Bogengänge hält er für kreis-
förmig*); seine Angaben über die Lage der Schnecke im Felsenbein
stimmen mit der gegenwärtig geltenden überein. Die Schnecke selbst
besteht nach Falloppio aus drei Windungen8). Das runde Fenster
hält er für den Anfang der Schnecke. Er beschrieb zuerst das Spiral-
blatt der Schnecke und wußte, daß sich das Labyrinth in Bezug auf
Form, Größe und Räumlichkeit nach der Geburt wenig ändere.
Ueber die Nervenausbreitung des N. acusticus weiß er nur, daß
mehrere Nervenzweigchen durch drei oder vier Löchelchen des inneren
Gehörgangs zur Membran hinziehen, welche die Schnecke im Innern
auskleide oder vielleicht durch diese gebildet werde. Genauere Details
*) 1. c. p. 48.
Falloppio. 93
über die Endausbreitung der Hörnerven konnte Falloppio aus Mangel
an einer feineren Zergliederungstechnik nicht finden, weil diese Kanälchen
selbst mit einer Borste nicht sondiert werden konnten*).
Eine besondere Sorgfalt verwendete Falloppio auf die Unter-
suchung der Ohrmuschel, deren Muskeln er zuerst exakter schilderte.
Er beschrieb zuerst den Empor zieher des Ohres, kannte den Rück-
wärtszieher und zerlegte diesen, den Retrahentes entsprechend, in drei
Teile. Vom Platysma nahm er an, daß es die Ohrmuschel nach abwärts
bewegen könne**).
Falloppios naturwissenschaftlicher Blick erkannte die Mangel-
haftigkeit der damaligen Hörtheorien. Er gibt daher nur wenige
physiologische Notizen, darunter eine über die harmonische Bewegung
der Gehörknöchelchen 9) und einige Bemerkungen über den Nutzen der
einzelnen Teile des Gehörorgans, z. B. über den Nutzen des Schiefstands
der Membrana tympani1'1).
Die Gesamtausgabe der Werke von Falloppio***) enthält nur spär-
liche Andeutungen über die Behandlung der Ohrenkrankheiten.
Bei gewissen chirurgischen Eingriffen am Ohre empfiehlt er den Ge-
brauch des Ohrenspiegels (speculum). Bei Polypen im Gehörgange
rät er, um eine Verletzung der benachbarten Teile zu vermeiden, eiue
bleierne Röhre bis zur Neubildung vorzuschieben und dann durch diese
den Polyp mit einer in Schwefelsäure getauchten Wieke zu ätzen. Trotz
seiner ausgebildeten anatomischen Kenntnisse war Falloppio noch in
dem Irrtume befangen , daß der eiterige Ausfluß aus dem Ohre ein
Exkrement des Gehirns sei und daß die Otorrhoe bei Kindern überhaupt
nicht, bei Erwachsenen jedoch nicht mit austrocknenden und zusammen-
ziehenden, sondern mit milden und ableitenden Mitteln behandelt werden
solle. Aus diesem Grunde spricht er sich gegen eine Behandlung der
Otorrhoe durch „Repellentia" aus und empfiehlt die Anwendung pulver-
förmiger Medikamente, die in den Gehörgang eingeführt werden f).
Eine eigentümliche Ansicht hatte Falloppio über die Entstehung
der subjektiven Gehörsempfindungen, die er der Ansammlung von
Dünsten im Kopfe zuschrieb . welche sich einen Ausweg bahnen wollen
und durch ihre Bewegung das Tönen veranlassen. Bemerkenswert ist,
daß Falloppio bereits die Unheilbarkeit des luetischen Ohr-
geräusches kannteff).
*) 1. c. p. 50.
**) 1. c. p. 102.
***) Opera omnia, Franeoforti 161li. Tom. 1, Tum. II, Track VIII, Cap. 2, p. 237;
Cap. 11, p. 690; Cap. 80, p. 731; Cap. 100, p. 748.
f ) Tom. II, Tract. VIII, Cap. 2, p. 238.
ff) De rnorbo Gallico, Tom. I, Cap. 11, p. 690.
Falloppio.
So schätzenswert die Arbeiten Falloppios im ganzen für die
Medizin der damaligen Zeit sind, so muß doch den „Observationes ana-
tomicae" unter seinen Schriften die Palme zuerkannt werden. Hierfür
spricht die Tatsache, daß sie den Meister Vesal zu genauen Nach-
forschungen anregten, die er in seinem „Examen observationum" nieder-
legte. Alier selbst jetzt noch gewinnen wir bei der Lektüre dieses
Weikes den Eindruck, daß wir es mit einem Anatomen ersten Ranges
zu tun haben. Treffend charakterisiert ihn der Nachruf Hallers:
„Candidus vir, in anatome indefessus, magnus inventor et in neminem
i 1 1 i < i u u s . "
Als der unermüdliche Gelehrte 1562 im blühendsten Mannesalter
für immer die Augen schloß, herrschte an den italienischen Universitäten,
und auch im Auslande, allgemeine Trauer über seinen Verlust. Die
ganze dankerfüllte Bewunderung seiner Schüler drückt sich in der ihm
gewidmeten Grabschrift aus, welche lautet:
„Fallopi, hie tumulo solus non conderis, una
Est pariter tecum nostra sepulta douius."
, ') In puerulis auditus Organum integerrimum est, quod probent prima, seeunda
et tertia cavitas. ineus. malleolus, stapes ossicula minima, quae partes omnes inte-
gerrimae sunt, neque per transversum pilum in puero unius diei distant ab iisdem
in senio decrepito. 1. c. p. 37.
2) Qui (sc. annul. tymp.) ut ego observavi, in calvariis puerorum f'erme usque
ad septimum mensem per cocturam sejungi potest. Quoniam cartilagine (ut multae
aliae appendices) reliquo ossi incrustatus est. 1. c. p. 39.
3) Extenditur autem ipsa non per transversum sed oblique, veluti si scriptorium
calamum ea parte, qua derasum et attemperatum dicitur, tensa membrana obstru-
amus: haec enim non per transversum sed oblique calamum claudet. 1. c. p. 40.
4) Ob eam quam habet cum militari tympano similitudinem. 1. c. p. 24.
5) Sed quoniam alii anatomici hie asserunt, ne ab ipsis in omnibus dissentiam,
pariter et ego quintum par constare ex parte dura atque molli. 1. c. p. 239.
6) Attenditur illi articulo tantum, quo stapes cum altero crure ineudis copu-
latur(!) Quidam nervulum id opinati sunt. Ego quid sit. aperte fateor, ignoro.
1. c. p. 48.
7) Cum igitur haec cavitas valde minor priore (tympano) tot habeat meatus
et euniculos , merito labyrinthus dicetur , in quam prospicit fenestra ovalis clausa a
stapede et altera orbicula. quae etiam in coecam cavitatem tendit . . . Obs. anat. p. 48.
! ünde Cochlea, vel cochlearis cavitas, vel coeca etiam est dicenda. 1. c.
9) \jitat;i vel coneussa myringe, malleolum moveri et ineudem et stapedem,
aut aperto sinu, acu quodam uno ex bis ossiculis agitato , reliqua duo simul etiam
consentire. Morgagni, Ep. anat. XIII, p. 482.
11 i [ctus enim obliquus minus laedat quam qui recte fertur. Obs. anat. p. 40.
Bartholomeo Eustachio.
Zu den grüßten Pfadfindern in der Otologie gehört Bartholomäus
E u s t a c hi u s ( 1 •"> 1 ' > -1574 i , einer der bedeutendsten Anatomen seiner
Bartholomeo Eustachio. 95
Zeit, der von manchen selbst höher als Falloppio geschätzt wurde.
Leider sind uns nicht alle seine Werke erhalten, doch findet sich in den
vorhandenen so viel Neues und Wertvolles, daß man sich in .vollster
Ueberzeugung dem Ausspruch Hall er s anschließen kann: „Quae nova
Eustachius invenerit, nulla paene ratione enumeres, adeo sunt infinita."
Das Charakteristische an seiner genialen Forschungsweise ist, daß er der
erste war, der sich nicht bloß mit der anatomischen Formenlehre be-
gnügte, sondern auch den inneren Bau der Organe, deren Struktur zu
erforschen bestrebt war.
Ueber seinen Lebenslauf ist nur Spärliches bekannt, nicht einmal
sein Geburtsjahr ist sichergestellt. Man setzt es gewöhnlich gegen 1510
an, sicher fällt es in das Ende des 15. oder in den Anfang des 16. Jahr-
hunderts. Selbst über den Geburtsort ist man nicht einig. Drei Städte
streiten um die Ehre, San Severino in Kalabrien, San Severino bei
Salerno und San Severino in der Mark Ancona. Letzteres ehrte sein
Andenken durch Aufstellung einer Marmorbüste. Eustachio studierte
zu Rom, wurde Leibarzt des Herzogs von Urbino, ging dann mit dem
Kardinal della Rovere wieder nach Rom, wo er Stadtarzt und Professor
der Anatomie an der Sapienza wurde. Er erwarb sich nicht nur als
Anatom und Arzt, sondern auch als Philosoph und Philolog einen großen
Ruf bei seinen Zeitgenossen. Seine Werke zeichnen sich vielfach durch
schöne Diktion aus im Gegensatze zu dem oft barbarischen Stile seines
Zeitalters.
Chronische Gicht zwang ihn in den letzten Lebensjahren, auf die
Professur zu verzichten, doch behielt er seine Stelle als päpstlicher Leib-
arzt bei. Er starb im August 1574 in Fossombrone auf einer Reise zu
dem Kardinal della Rovere.
Eustachios Charakter ist psychologisch dadurch interessant, daß
er trotz seiner eigenen glänzenden Entdeckungen in allen Teilen der
Anatomie doch das Ansehen Galens nicht nur hochhielt, sondern fana-
tisch zu stützen und insbesondere gegen Vesal zu verteidigen suchte.
Seine hieraus sich ergebende Polemik war die Ursache, daß er oft bitter
und unduldsam gegen andere wurde und in seinem tendenziösen Tadel
gegen den Neuerer Vesal dessen große wissenschaftliche Bedeutung
ganz und gfar verkannte. Namentlich Vesals Beschreibung des Gehör-
organs tadelt er so heftig, daß er sich zu dem Ausspruch versteigt, es
sei darin nicht eine Spur von Wahrheit enthalten. Wenn uns dieser
Tadel Eustachios zu heftig erscheint, so muß doch zugegeben werden,
daß der die Ohranatomie betreffende Teil von Vesals klassischem Werke
vielfache Irrtümer enthält, die nur dem mangelnden Interesse Vesals
für diesen Teil der Anatomie zuzuschreiben sind. Hall er fällte über
Eustachios intellektuelle und moralische Eigenschaften das treffendste
96 Bartholomeo Eustachio.
Urteil in den Worten: „Vir acris ingenii, parcus laudator, sed ad in-
veniendum et ad subtiles Labores a natura paratus, omnium quos novi
anatomicorum, plurima inventa plurimasque correctiones ad perficiendam
artem attulit" :).
Von den Werken Eustacbios sind als die bedeutendsten hervor-
zuheben :
1. Opuscula anatomica, Venet. 1563, in welchem die „Epistula
de auditus organis", p. 153, enthalten ist**).
2. Tabula e anatomicae cl. viri Bartholornaei Eustachii, quas e
tenebris tandera vindicatas, et sanct. Dom. Clementis IV, Pont. max.
munificentia dono acceptas , praefatione notisque illustravit Jo. Maria
Lancisius, intimus cubicularius et archiater pontificis. Romae 1414, in
fol. Editio 1728***).
Die Tabulae, welche Eustachio (nach einer Stelle in „De renum
structura" c. 16, p. 44) schon im Jahre 1552 durch Giulio de Musi
stechen ließ, erschienen nicht bei Lebzeiten Eustachios. Wie Eustachio
in der Einleitung zu den Opuscula erwähnt, hatte er die Absicht,
46 Kupfertafeln herauszugeben, wurde jedoch durch Alter und Krankheit
daran gehindert. Nach seinem Tode gingen die Kupferplatten an seinen
Verwandten Petrus Pinus über und galten durch 150 Jahre für verloren,
bis sie der päpstliche Leibarzt Lancisi bei den Erben des Pinus auffand
und sie 1714 zuerst herausgab. Der Zweck dieser Tafeln, welche nach
jungen Kadavern gearbeitet zu sein scheinen, war einerseits der, die
Behauptungen Vesals, anderseits die Entdeckungen Eustachios in
das richtige Licht zu stellen. Ein Kommentar des Eustachio zu diesen
Tafeln hat sich nicht vorgefunden und fehlt auch heute noch.
Die Leistungen Eustachios in der Anatomie des Ohres
müssen als hervorragend bezeichnet werden, und aus der Vorliebe, mit
der er sich gerade diesem schwierigen Gebiete zuwandte, erklärt es sich,
daß er nicht wenig Neues den Entdeckungen seiner Vorgänger hinzu-
fügen konnte. Diese Untersuchungsergebnisse sind in dem Abschnitte
Epistula „De auditus organis", in den genannten „Opuscula anatom. " f)
niedergelegt.
In der Einleitung gibt er einen kurzen historischen Ueberblick,
wobei er sich die Entdeckung des Steigbügels zuerkennt und behauptet,
Bibl. Anat. t, I, p. 223.
**) Die Epistola „De Audit. org." findet sich in den späteren Ausgaben: Lug-
duni Batavoruin 1707, p. 134, und in Editio Delphis 1726, p. 125.
**) Vergl. ferner die vortrefflichste Ausgabe dieser Tafeln Bernardi Sigfried
Albini, Explicatio tabularum anatomicarum Barthol. Eustachii, castigavit auxit
denuo edidit. Lcidae, fol. 1744, 1761.
f) Im nachstehenden habe ich die Editio Delphis 1726 benützt.
Tafel IV
BARTOLOMEUS EUSTACHIUS
Hartholorneo Eustachio. 97
denselben vor Ingrassia demonstriert und abgebildet zu haben1). Sein
wichtigstes Argument, womit er Ingrassia diesen Ruhm streitig zu
machen sucht, besteht darin, daß er so viele andere verborgene Teile
des Gehörorgans aufgefunden habe, die zur Zeit den übrigen, selbst
dem Ingrassia unbekannt gewesen wären. Bei der Wahrheitsliebe
Eustachios ist kaum daran zu zweifeln, daß er und ebenso Realdo
Colombo unabhängig von Ingrassia den Steigbügel entdeckten. Waren
doch die anatomische Forschung jener Periode und der Ehrgeiz, sich
durch neue Entdeckungen einen bleibenden Namen zu erwerben, so
rege, daß es nicht überraschen kann, wenn ein so leicht auffindbares
Knöchelchen von mehreren Forschern gleichzeitig entdeckt wurde.
Mit besonderer Schärfe kritisiert er sodann mit Recht Vesal,
namentlich wegen seiner Darstellung des Verlaufs und der Verzweigung
des Antlitz- und Gehörnerven und seiner allzu oberflächlichen Beschrei-
bung des so kompliziert gebauten Gehörorgans-).
Nach dem geschichtlichen Abriß folgen die eigenen Entdeckungen
des Eustachio. Die Erwägung, daß überall, wo gelenkige Verbindungen
bestehen, auch ein Muskelapparat da sei, der die Bewegung besorge,
leitete ihn dahin , nachzuforschen , ob es nicht auch für die Lokomotion
der Gehörknöchelchen einen eigenen Muskel gebe. Wir wissen , daß
bereits Vesal und Ingrassia einige Kenntnisse von dem Tensor
tympani*) hatten, immerhin gebührt Eustachio das Verdienst, eine
exakte, unzweideutige Beschreibung desselben geliefert zu haben,
welche noch dadurch wirksam unterstützt wird, daß er genau angibt,
wie man den Muskel leicht auffindet. Eine Abbildung des Tensor
tympani. der beim Hunde mit einer fleischigen Drüse verbunden sei,
findet sich in der Tabula septima seiner anatomischen Tafeln :; ).
Die Schilderung der Präparation dieses Muskels zeigt, wie klar
und genau seine Anweisungen sind ; daß in die Stelle mehr hineingelegt
wurde, als dem Forscher wirklich bekannt war. ist nicht zutreffend.
„Diese Präparation des Muskels," setzt er hinzu, „ist zweifellos schwer,
aber bei öfterer Uebung nicht zu verfehlen." Mau dürfe nicht glauben,
daß man den Muskel bei großen Tieren leichter als beim Menschen
auffinden könne. Er finde sich bei allen, aber bei den meisten sei er
noch viel kleiner als beim Menschen. Viele Anatomen hätten die
falsche Ansicht, daß die Größe de r Körperteile ihrer Punktion s-
wichtigkeii entspreche. Dies sei aber ganz falsch, nament-
lich beim Gehörorgan. Die Entdeckung des Trommelfellspanners sei
sehr wichtig, denn sie gewähre einen Einblick in das Wesen der Gtehör-
funktion und zeige, wie unvollkommen die bisherigen Anschauungen wann.
*) Dieser Terminus ist erst später von Allunus in « 1 i •• - Nomenklatur ein-
geführt worden.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I 7
Ilartholomeo Eustachio.
Die Chorda tympani erkannte Eustachio zuerst mit voller
Bestimmtheit als Nerv und wußte, daß sie mit dem Geschmacksnerven
vom dritten Ast des Trigeminus in Verbindung stehe1).
Das größte Verdienst um die Ohranatomie erwarb sich Eustachio
durch die genaue Schilderung der Gestalt, der Struktur und des Verlaufs
der nach ihm bezeichneten Ohrtrompete. Zwar hatten, wie wir sahen,
schon die Alten, namentlich Aristoteles und Celsus, ferner Vesal5)
und Engrassia6), eine unklare Vorstellung von der Existenz dieses
Kanals; Eustachio jedoch war es, der ihre Morphologie zuerst un-
zweifelhaft sicherstellte. Wie wenig Beachtung die Ohrtrompete von
den zeitgenössischen Anatomen fand, geht daraus hervor, daß sie von
dem Schüler des Falloppio, Fabricius ab Aquap endente, nicht
einmal erwähnt wird und daß auch spätere Anatomen wie Riolan,
Bartholini, Tulpius, Schneider u. a. eine falsche Beschreibung
dieses Kanals lieferten oder gar mit dem Aquaeductus Falloppii ver-
wechselten.
Eustachio vergleicht die Tuba mit einer Schreibfeder. Sie ziehe
von der Basis cranii und seitlich nach vorne und sei gegen den Proc.
pterygoid. des Keilbeins gerichtet. Zwei Teile setzten die Ohrtrompete
zusammen, eine dem Os temp. angehörende feste, der Paukenhöhle näher
gelegene, und eine weiche, teils knorpelige, teils ligamentöse Partie,
welche gegen den hinteren Nasenrachenraum gerichtet sei. Der Quer-
schnitt sei nicht regelmäßig rund und im inneren Teile zweimal breiter
als im äußeren. Die erstere, welche dem Nasenraum zugewendet ist,
sei mit einer Schleimhaut überkleidet und scheine am Ausgang einen
Sphinkter zu bilden. Diese Schleimhaut bilde die Fortsetzung der Nasen-
schleimhaut. In den Tabulae des Eustachio vermissen wir eine Ab-
bildung der Ohrtrompete.
Eustachio beschrieb nicht nur die Tube, er erkannte auch den
großen Wert seiner Entdeckung für die Physiologie und Therapie. „Erit
etiam Medicis huius Meatus cognitio ad rectum Medi camentorum
us um maxime utilis, quod scient posthac ab auribus non angustis
foraminibus sed amplissima via posse materias etiam crassas, vel a natura
expelli vel Medicamentorum ope, quae masticatoria appellantur, commode
expurgari" I.
Leider währte es geraume Zeit, bis die Kenntnis der Tube eine
allgemeine wurde, und erst im 18. Jahrhundert fand diese bedeutungs-
vollste aller otologisclien Entdeckungen die entsprechende rationelle Ver-
wertung durch die Anwendung des Katheters.
Auf die Therapie seines Jahrhunderts übte Eustachios Entdeckung
*) 1. c. p. 40.
Bartholomeo Eustachio.
99
nicht den geringsten Einfluß, insofern als die auf rohe Empirie basie-
rende , von alters her geübte Anwendung von Gurgel- und Nies-
mitteln den wichtigsten Teil der damaligen Behandlung der . Ohren-
krankheiten bildet.
Die bisher aufgezählten Entdeckungen würden genügen, um Eu-
stachio für alle Zeiten einen Ehrenplatz in der Geschichte der Otologie
zu sichern. Nicht minder verdienstvoll sind aber auch seine Unter-
suchungen des inneren Ohres. In seinen Tabulae anatom., welche
Abbildungen verschiedener Schnitte der Pars petrosa des Schläfebeins,
der Gehörknöchelchen, des Tensor tympani, der Chorda tymp. des Pro-
montoriums und des Vestibulums enthalten (Tab. 7, 18 I. III, 43 IL III,
44 II. III, 46 II), sind auch die Bogengänge und die Schnecke
gut dargestellt. Letztere beschrieb er weit besser als Falloppio. Er
kannte den Schneckenkanal, der nach ihm drei Windungen mache, be-
schrieb genauer als Falloppio das knöcherne Spiralblatt, entdeckte
die Spindel und die häutige Zone der Lamina spiralis 7).
Fig. 2. Schläfebeindurchschnitt durch Fig. 3. Schläfebeindurchschmtt durch
den äußeren Gehörgang, die Trommel- den äußeren Gehörgang, die Trommel-
höhle, den Vorbof und den Canalis caroti- höhle, den oberen und horizontalen
cus. Photograph. Reproduktion aus den Bogengang and die Schnecke. Repro-
Tabul. anatomicae. Barth. Eustachio. duktion aus demselben Werke. Taf. 35.
Taf. 33. Ed. Romae 1742.
Den N. facialis, dessen Verlauf Eustachio beschreibt8), und den
N. acusticus ließ er irrtümlich von einem gemeinsamen Stamme ent-
springen; den Gehörnerv verfolgte er bis zur Schnecke, wußte aber
nicht, ob er den Spiralgängen folge oder früher endige.
Auch die Muskeln des äußeren Ohres untersuchte Eustachio
genau und kannte den oberen und hinteren Ohrmuskel, welch Letzteren
er für einfach, nicht (wie Falloppio) in dreji Teile gespalten,
hielt und bildete sie zuerst ab.
Ueber die Physiologie des Hörens drückt sich Eustachio sehr
bescheiden aus, da er wußte, daß die Kenntnisse seiner- Zeit zur Er-
klärung nicht hinreichten •'). Für sicher schien ihm bloß, daß die Gehör-
Imi Bartholomeo Eustachio.
knöchelchen in Bewegung gesetzt werden10) und daß der Tensor tympani
mit der Schallwahrnehmung in Verbindung- stehe, ja für diese notwendig
sei. 1 >ie Aktion dieses Muskels glaubte er der Willkür unterworfen und
regte hierdurch eine schwierige Frage an, die noch heute ihrer end-
gültigen Lösung harrt11).
WClrh reiche Fundgrube Eustachi os Werk darbietet, geht schon
aus anserer, auf das nötigste eingeengten Darstellung hervor. Ingrassia,
Falloppio und Eustachio sind als die ruhmreichen Begründer der
makroskopischen Anatomie des Ohres zu bezeichnen, deren Leistungen
die Zeitgenossen nur Spärliches, die Nachfolger nur feinere Details hinzu-
zufügen vermochten*).
') Ego quidem scio, me neque edoctum neque monitum ab aliquo, multo ante-
quaui ipsi scribant . id ossiculum novisse , Romaeque non paucis ostendisse atque in
aes incidendum curasse. De org. audit. p. 131.
2) Qui Anatomicae hodie artis Inventor et quasi Architectus ab ornnibus pene
creditur, quintum nervorum Cerebri par, foramine admodum tortuoso, propria ipsius
causa facto, in cavitatem auditus Organo praeparatam vebi, ibique varie discindi, ac
propagines quasdam, an similitudinem membranae dilatas. buius cavitatis sedibus
offerre , atque etiam Auditus Organi non infimam partem eonstituere asserit . . .
1. c. p. 131.
3) Sektionsmetbode und Beschreibung lauten: Musculum. quod sciam, nemo
adhuc invenit, tu si illum videre cupis, operta calvaria os incide. quod Petram refert,
eo loco, quo linea minime alte penetrante exsculptum est, et versus tenuiorem ossis
Temporis sedem in anteriorem partem magis eminet, ejusque squammam accurate
detrahe , summa diligentia adhibita, ut subjecta Organa nihil laedas : hoc sane
experta manu ubi effeceris , statim musculus conspiciendum se exhibebit, qui etsi
omnium minimus sit , elegantia tarnen et constructionis artificio nulli cedit; oritur
a substantia ligamentis simili qua parte os, quod Cuneum imitatur, cum temporis
osse committitur . indeque carneus evadens redditur sensini ad medium usque ali-
quando latior; deinde vero angustior effectus tendinem gracillimum producit, qui in
majorem apophysim ossiculi Malleo comparati , fere a regione minoris apopbysis
eju8dem inseritur. p. 135.
4) Poterat sane ad Tympanum, et ad Organa Auditus, ab una aut ab altera
portione quintifparia nervorum cerebri commode nervus dispensari; quod tarnen minime
factum fuisse cernimus , sed ab altero ejusdem visceris quarti jugi nervorum ramo
exilis quaedam propago , reflexo itinere juxta illum, quemmodo descripsi osseum
canalem, Aurium cavum, in quo ossicula Auditus continentur. ingreditur et oblique
Tympano, ac deinde ossiculo malleum imitanti supra musculi insertionem adhaerescit,
nee ibi desinit. sed ulterius procedens os lapideum in posteriori sede Meatus Auditorii
perforat. deorsumque reflexo parumper sepit ac tandem cum tenuiori duriorique
ramo quinti paris nervorum Cerebri jungitur et coit. p. 140 f. De org. audit.
B) Foramen in externa tantum infernaque calvariae basis sede esse obvium,
hinc enim oblique versus exteriora protensum, in auditorii organi cavitatem temporis
ossi insculptam desinere . . . aerem etiam in temporis ossis antrum auditus organo
proprium, per id foramen ferri. De corp. h. fabr. L. I, Cap. 12.
Vergl. Rattel, Annales des Maladies de l'oreille et du larynx. Tom. VIII,
Nr. .5, 1882.
Realdo Colombo. 101
6) Comment. in Gal. de ossib. C. I. comm. 8.
7) Est autem id corpus , quod testam Cochleae elegantissirae refert , tribus
spiris in orbem convoluturn, quarum elatior superiorem obtinet sedem et Nervum
suscipit; angustior vero inferiorem, et ossis cavo terminatur ; neque tarnen est hanc
ob causam, uti quidam faciunt, os istud caeca cavitas exitum non habens appellan-
dum, quia etsi in moduni testae cochlearum spiras habet, nihilominus foramine, veluti
illae, non earet. . . . Nee silentio praetereundum est. os Cochleam referens ex duplici
spirarum genere constare, quorum alterum , a nobis jam expositum, ab ossea sub-
stantia admodum tenui, sicca, et quae facile teritur, creatur; alterum vero, omnibus
Anatomicis adhuc ignotum , ex materia quadam fit molli et mueosa, et quae nescio
quid arenosi permixtum habet, oriturque ex medio spatio priorum spirarum, tan-
quam ex ampliore basi, sensimque extenuatum in aciem desinit; sed non tarn alte
conscendit, ut ossis ambitum, qui priores spiras terminat, attingat , . . os Cochleae in
medio, ea nimirum parte, eui spirae innituntur, a prineipio ad extremum usque,
angusto et recto meatu esse pervium . . . Opusc. anat. p. 136 ff.
8) Quintum nervorum Cerebri jugum ex duobus tantum nervis, ut alii arbi-
trantur. minime constat. sed duas utrimque propagines inaequales habet, quarum
major seeundum longitudinem , instar semicirculi eleganter excavatur, minoremque,
quod alios fugit, amice suscipit et amplectitur, eoque modo ambae simul junetae
oblique in anteriorem et exteriorem partein, usque ad extremum sinus in osse Pefcrae
simili earum gratia exculpti, procedunt, ubi minor propago a majore recedens. par-
vum foramen sibi paratum invenit et ingreditur, mireque admodum flexuoso incessu,
de quo nunc loqui non est opportunum , extra calvariam elabitur; major autem
propago videtur in ti*es portiones parum invicem distantes terminari, ex quibus prae-
cipua exiguo foramine, in Cochleatum os pervio obducitur. sed num instar operculi
eidem tantum ineumbat, an vero alte penetret et in spiras ejus ossis convolvatur,
propter difficultatem administrationis, certo explorare adhuc non potui. 1. c. p. 136.
9) Sed qualis nam eorum sit motus, quovfi prineipio, et quae vi fiat. vix
aliquis Anatomicorum explicare audet. 1. c. p. 134.
I0) In hoc fere omnes consentiunt. aerem, qui, dum sonus editur, tanquam unde
fluetuat, membranam Auditorio meatui obduetam pulsare. ab illa deineeps conse-
cutione quadam illa ossicula moveri. Ibid.
1J) Quum instituisset Natura Auditus Organa arbitrio voluntatis moveri, arti-
culationem quoque ac musculum, sine quibus fieri is motus nequit. tribuere illis
voluit. Caeterum exigui hujus musculi inventio , in quo summa naturae ars elucet,
nisi invidia aut malevolentia prohibearis, non poterit tibi videri non magni facienda,
quum ejus cognitio acutum patefaciat, tum peräerutandi quomodo Auditus in nobis
fiat. p. 135.
c) Zeitgenossen nnd Nachfolger der großen Anatomen in
Italien im 16. Jahrhundert.
Realdo Colombo.
Die Schilderung der glanzvollen Leistungen der anatomischen Führer
würde unvollkommen sein, wenn wir nicht auch der Männer gedenken
würden, die, angeregt durch ihre Vorgänger, durch neue Details die
noch bestehenden zahlreichen Lücken in der Ohranatomie zum Teile er-
gänzten. Vor allem waren es italienische Forscher, die das Begonnene
IAO Realdo Colombo.
mit Feuereifer fortsetzten. Unter ihnen sei vor allem Realdo Colombo
(f 1577) erwähnt, dessen Leistungen auf dem Gebiete der Ohranatomie
indes weit geringer sind als seine Entdeckungen an anderen Teilen des
menschlichen Körpers.
Kcaldus Columbus (Apotheker in Cremona, dann Prosektor
Vesals) erhielt die Professur in Padua, ging jedoch später nach Pisa
und von hier nach Rom. Ihm verdankt die Wissenschaft wichtige ana-
tomische Entdeckungen, wozu er durch zahlreiche Sektionen reichlich
Gelegenheit fand. Er bediente sich zur Zergliederung vorerst lebender
Hunde, in der Folge jedoch nur menschlicher Leichen. Durch großen
Eigendünkel ausgezeichnet, kritisierte er in schonungsloser Weise seinen
Lehrer Vesal und ließ sich durch die Sucht, Neues zu sagen, nicht
selten zu unwahren Angaben verleiten. Seine anatomischen Erfahrungen
überlieferte er in dem Werke „De re anatomica" libri XV, Venet. 1559
(Parisiis apud Andr. Wechelum 1572, Francof. 1590, 1593*), in dem aber
bezüglich des Ohres nur wenig Neues vorgebracht wird. Indes muß an-
erkannt werden, daß Columbus die Zerlegung des Gehörorgans mit
Meisterschaft handhabte und daß er sich mit großer Vorliebe mit der-
selben beschäftigte, wie seine Begeisterung verratenden Worte bezeugen:
„Quae administratio cum est jucunda visu, tum etiam admirabilis, et quae
nos in sapientissimi opificis amorem nolentes, volentesque trahit, rapitque."
Bei der Beschreibung der drei Gehörknöchelchen, deren Namen
er teils aus der Funktion, teils aus der Gestalt erklärt, vindiziert er sich
die Entdeckung des Stapes1). Hervorzuheben ist seine Kenntnis, daß
die Berührungsflächen der Ossicula mit einer dünnen Knorpelschicht
überzogen sind2).
Während Vesal die Gehörknöchelchen für kompakt hielt, behaup-
tete Colombo, sie seien hohl, spongiös und mit Mark gefüllt, aus-
genommen das dritte. Ob er das Os lenticulare kannte, wie Drelincourt
behauptete, ist strittig, jedoch nach einer Stelle 3) wahrscheinlich, wo er
sagt: „Una re tarnen (seil. tert. ossic.) stapede differt, quod caret eo
foramine, in quod loca immittuntur ad stapedem sellae utrinque alli-
gandum. At hujus loco capitulum quoddam extat rotundum, quoad ineudis
processum accedit."
Colombo ist unstreitig der erste, der die Gefäße des inneren
Ohres erwähnt ').
In der umständlichen und mit teleologischen Bemerkungen durch-
setzten Beschreibung der Ohrmuschel') schildert er den Muskelapparat
derselben, besonders den Vorwärts- und Rückwärtszieher, bemerkt jedoch,
daß diese Muskeln nicht konstant vorkommen'1).
Von mir wurde die Ausgabe vom Jahre 1590 benützt.
Giulio Cesare Aranzio. 103
Was die Physiologie betrifft, so glaubt er, daß die Gehörknöchelchen
bei der Hörempfindung in Bewegung geraten.
*) His tertium accedit nemini quod sciam ante nos cognituin. L. l'f Cap. 7.
De ossiculis organi Auditorii, p. 50.
Vom Stapes sagt er: Jacet hoc, vel latitat potius in cavernula quadam ferme
rotunda intra sinum auditorium exculpta, quo fit, ut ad organi auditus fabricam non
pertinere non possit : cavum est, et perforatum egregie , ferrei instrumenti naturam
imitatur, quod stapham novo vocabulo nuneupamus, in quo equorum sellis insidentes
pedis sistunt. Ibidem.
2) 1. c. L. I, Cap. 7: Ubi ista articulata sunt, caitilagine incrustantur, p. 50.
3) 1. c. L. I, Cap. 7, p. 50.
4) 1. c. L. VII : De corde et arteriis, p. 336.
5) 1. c. L. II, Cap. 2: De Aurium cartilaginibus, p. 181.
6) I. c. L. V, Cap. 10: De musculis Aurium, p. 228.
Giulio Cesare Aranzio.
Neben Colombo sind noch seine Zeitgenossen Aranzio und Varoli
zu nennen, beide verdienstvolle Anatomen, die jedoch die Ohranatomie
nur wenig förderten.
Giulio Cesare Aranzio, 1530 — 1589 (auch Aranzi de Maggi),
geb. um 1530 in Bologna, beschäftigte sich frühzeitig mit Anatomie
und Chirurgie, wobei ihm Vesal und der berühmte Wundarzt Barto-
lommeo Maggi als Lehrmeister dienten. Schon im Jahre 1556 erhielt
er in seiner Vaterstadt die Professur der Anatomie, welche er bis zu
seinem Tode 1589 bekleidete. Von seinen Arbeiten, welche er in den
Werken: „De humano foetu opusculum", Rom 1564 (Venet.
1571, 1587); „Anatomicarurn observationum liber et de tumoribus
praeter naturam secundum locos affectus liber", Venetiis 1587 und 1595;
„Commentarius in librum Hippocratis de vulneribns capitis",
Lugd. 1639, 12, überlieferte, legen die Entdeckung des Ductus arteriosus
und die sorgfältige Beschreibung des schwangeren Uterus, sowie des
Fötus beredtes Zeugnis für seine Bedeutung als Anatom ab.
Auf die Ohranatomie Bezügliches findet sich nur wenig Neues in
den „Observationes anatomicae". Aranzio beschrieb das Gehörorgan,
soweit schon Bekanntes vorlag, ziemlich gut, indem er die Entdeckungen
seiner Vorgänger vereinigte und kritisierte. Den Tensor tympani
kannte er wohl1), war aber im Zweifel, ob er ihn für einen Nerv
oder ein Gefäß halten sollte. Dagegen scheint er bereits das Os lenti-
culare gekannt zu haben, nach einer Stelle zu schließen, welche Mor-
gagni zum Beweise für diese Ansicht zuerst ans Licht zog-).
Die Chorda tympani verkannte auch er, gleich den meisten Zeit-
genossen, und hielt sie für ein Hammerband, wenn er auch die Möglichkeit,
daß sie Arterie oder Nerv sein könnte, zugibt. Dabei wirft seine Be-
1 04 Constanzo Varolio.
merkung über die Schwierigkeit dieser Entscheidung immerhin einen
Lichtstrahl auf den Zustand der damaligen Präparationsmethode „non
deesse qui dubitent, arteriane aut nervus censendus sit, sed nihil
mirum in re adeo exigua, quae Lyncaeos postulat aures"3).
Bei seinen eut wicklungsgeschichtlichen und vergleichend anatomi-
schen Studien fand er, daß die Gehörknöchelchen bei den Kindern
kleiner und weniger konsistent als bei den Erwachsenen seien , ferner
daß die menschlichen Gehörknöchelchen diejenigen des Pferdes und
Rindes bedeutend an Größe überträfen 4).
') Observat. anat. Venet. 1587, Cap. 2, p. 56.
2) Ibidem Cap. 17: Stapes in summo superioris anguli apice, in capitulum,
modice sinuatum desinit. ut incudis minimum tuberculum, tibiolae adnascentem, per
symphisim ac synchondrosim agglutinaturn, amice excipiat.
3) Observ. anat. Cap. 11.
4) Tide Porta, t. 2, p. 10.
Constantius Yarolius
(1543—1575).
Constanzo Varolio aus Bologna, der hochberühmte Forscher
auf dem Gebiete der Hirn- und Nervenanatomie, der mit glänzendem
Erfolge Anatomie und Chirurgie (wie auch Philosophie) lehrte, überging
zwar die Ohranatomie und Gehörsphysiologie nicht, ohne jedoch für diese
Wissenszweige Epochemachendes zu leisten. Er leitete den Ursprung
des Acusticus von der Brücke ab1), ein Irrtum, der etwas später
von Piccoluomini widerlegt wurde. Varolis Beschreibung des Trommel-
fells, der Gehörknöchelchen, des inneren Ohres u. s. w. fußen noch ganz
auf den Arbeiten der Vorgänger. Dagegen ist vom historischen Stand-
punkt sein Verhalten zur Frage der inneren Ohrmuskeln sehr
interessant, weil es zeigt, wie häufig bei spekulativen Köpfen eine theo-
retische Prämisse eine nackte Tatsache verdrängen kann.
In dem Werke „De nervis opticis epistola" (Patav. 1572) leugnet
er die Existenz der Muskeln der Gehörknöchelchen 2) , respektive ihre
muskulöse Struktur und behauptet, Avas man dafür angesehen, seien
Nerven, die beim Durchsägen des Schläfebeins zerrissen würden. Seine
Motivierung besteht darin, daß die Röte der angeblichen Muskeln
beim Waschen mit lauem Wasser verschwinde: „quam veritatem cum
ego aliquando in publicum cuidam Anatomico musculos auditus jactanter
ostendenti aperuissem, statim obmutuit."
Bald jedoch mußte Varol selbst seine falsche Ansicht richtig
stellen, indem er in dem zweiten Werke „Anatomia, s. de resolutione
corporis humani" libri IV, Francof. 1591, das als Supplement zu seiner
ersten Arbeit erschien, nicht nur den Tensor tympani, sondern auch
Constanze» Varolio. 105
den Musculus stapedius3), letzteren in einer zum ersten Male klaren
und sicheren Beschreibung anführt4).
Während er in dem Buche ..De nervis opticis'* die Gehörknöchel-
chen für unbeweglich hält, sagt er von ihnen in der „Anatomia", daß
sie sehr beweglich seien, daß das Gehörorgan ebenso wie das Auge eines
Muskelapparats bedürfe, welchen er mit dem Sphinkter und Diktator
Pupillae vergleicht. Erwähnenswert wäre noch die absonderliche Be-
merkung Varols, daß die Tauben gemeiniglich stumm zu sein pflegen,
weil die Chorda tympani mit dem Geschmacksnerven in Verbindung stehe 5).
Von minderer Bedeutung für die Ohranatomie ist Archangelo
Piccoluomini aus Ferrara (geb. 1526), der in seinen „Anatomicae prae-
lectiones explicantes miriticam corporis humani fabricam" (Rom 1586,
2. Ausg. von Joh. Fantoni, mit einigen schlechten Abbildungen unter
dem Titel „Anatome integra revisa", Verona 1754) angibt, daß der
Acusticus von den weißen Markstreifen auf dem Boden des vierten
Ventrikels entspringe*).
Dagegen nehmen unter den italienischen Anatomen noch zwei
Forscher einen hervorragenden Platz ein, die der Schule Falloppios
entstammen und in mancher Hinsicht die Schöpfungen ihres Lehrers
erweiterten, obschon sie, was Originalität anlangt, in ihren Leistungen
weit hinter ihm zurückblieben. Es sind dies Fabricius ab Aqua-
pendente und der Holländer Volcher Koyter, welch letzterer lange
in Italien lebte und in Bologna lehrte, weshalb auch er trotz seiner
Nationalität allgemein den italienischen Anatomen zugezählt wird. Beide
haben für die Geschichte der Gehörsphvsiologie eine größere Bedeutung
mIs für die Anatomie, weil sie im Gegensatz zu den vereinzelten und
abrupten Bemerkungen ihrer Vorgänger zuerst fcine zusammenfassende
und für ihre Zeit befriedigende Erklärung des Höraktes in ihren Werken
lieferten. Wir müssen daher bei der Darlegung ihrer nicht immer ori-
ginellen Forschungen weiter ausgreifen, umsomehr, als sie gleichsam das
lÜMiiiie der Errungenschaften ihres Jahrhunderts vorführen.
') De nervis opticis nonnullisque aliis praeter communem opinionem in human 0
capite obseivatis epistola. Padua 1572, f. 4a; Frankfurt 1591.
2) 1. c. f. 10 a.
i \natomia. lab. I. Cap. ti. p. 28; Lib. III, Cap. 5.
4) Qui ab anteriori sede natus, in articulationem trianguli cum ineude inseritur.
Ibid. p. 28.
5) Anatomia. Lib. 1. Cap. 7, p. 31.
i Anat. prael. 1580, lib. VI. — Haller fand fünf (Eiern, pbysiol. IV.), Serres
sechs solcher Querstreifen (Anat. comparee du cerveau, Paris 1827). Daß diese Striae
acusticae den Ursprung des Nervus acusticus bilden, leugneten u. a. J. F. Meckel,
I'feffinger (De struet. nervor.. Argent. 1782), Prochaska (De struet. nervor. tract.
anat., Vindob. 1779) etc.
K)ß Volcher Koyter.
Tolclier Koyter.
Volcher Koyter (1534 — 1600; Koiter, Coiter, Coeiter), ein Schüler
Falloppios, ist eine der ehrwürdigsten Gestalten in der Geschichte der
Otologie. Er war der Sprößling einer angesehenen Familie zu Groningen,
wo er 1534 geboren wurde. Er begab sich frühzeitig zu Studienzwecken
nach Italien, wo er im Mutterlande der Anatomie für seinen regen ana-
tomischen Forschungsdrang volle Befriedigung fand. In Padua war er
Falloppios Prosektor, in Bologna Schüler Aranzios und Aldrovandis,
in Rom Freund Eustachios. Nach seiner Rückkehr aus Italien ver-
brachte er einige Jahre in Montpellier, wo er Rondelets Freundschaft
gewann, war dann Leibarzt des Herzogs Ludwig von Bayern zu Amberg
in der Pfalz, endlich Stadtarzt in Nürnberg, wo er 1600 plötzlich starb,
als er sich eben anschickte, in das zur Unterstützung Condes bestimmte
Heer des Pfalzgrafen Johann Kasimir einzutreten.
Koyter verfolgte die von Falloppio eröffnete entwicklungs-
geschichtliche Richtung durch sorgfältige Beschreibung der Osteologie
des Fötus, und machte sich besonders durch seine Beiträge zur patho-
logischen Anatomie und auf zahlreiche Vivisektionen gestützte Beob-
achtungen um die Lehre von den Verrichtungen des Herzens und
Gehirns verdient. Seine Werke sind: „De ossibus et cartilaginibus
corporis humani tabulae", Bonon. 1566 f.; „Externarum et internarum
prmcipalium corporis humani partium tabulae atque anatomicae exer-
citationes etc.", Norimbergae 1572 f. Neuer Titel: 1573 f. (mit den
ältesten Abbildungen der Knochen des Fötus). 1653. Letzteres enthält
den für die Otologie so wertvollen Traktat: „De auditus i n Stru-
men 1 6."
Koyters Werk „De auditus instrumenta'", das auch gesondert
erschien, ist insbesondere deshalb eingehender Besprechung wert, weil
es die erste Monographie über das Gehörorgan enthält und dadurch
auch äußerlich der Otologie zum ersten Male den Rang eines Spezial-
faches ein räumt.
Das Buch zerfällt in siebzehn Kapitel, in denen die einzelnen Ab-
schnitte des Gehörorgans sowohl in anatomischer, als auch in physio-
logischer Hinsicht gesondert behandelt werden. Von großem Umfang
ist insbesondere die teleologische Erklärung des Nutzens der ver-
schiedenen Teile, wobei der Verfasser, entsprechend der Denkweise seiner
Zeit, noch immer in Galens „De usu partium" ein nachahmenswertes
Muster sieht. Immerhin befleißigt sich Koyter auch bei dieser teleo-
logischen Erklärung einer gewissen Selbständigkeit.
In den ersten Kapiteln wird über den Schall und die Gehörs-
wahrnehmung gehandelt, das 3. Kapitel bespricht die Ohrmuschel,
Tafel V
ULUUJlltUJIlJ'l!itt^f!J!'-!».llLi-i!L!. LLIJL.JIJTIIM^'.1 jj?!y?II!IJiTWjJ! jüllllülj »H.1 M. ?y,*< "** » u ■mju.i^u uitujji| jMWIW||lj
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VOLCHER KOYTER
Volcher Koyter. 107
das 4. die Höhlen des Warzenfortsatzes, das 5. den äußeren
Gehörgang. Dann folgt die Besprechung der Trommelhöhle mit
ihren Teilen, sowie des „Aer implan tatus" im ö\, 7., 8., 9., 10., 11. und
12. Kapitel. Den Inhalt des 13. Kapitels bildet Anatomie und Physio-
logie der Tuba Eustachii, während die folgenden drei Abschnitte sich
mit dem inneren Ohr beschäftigen. Das letzte Kapitel (17.) ist der
Beschreibung des Acusticus gewidmet.
Für die Anatomie bringt das Werk kaum etwas Neues, ja im
ganzen zeigt es fast einen Rückschritt gegenüber Falloppio, für dessen
Anschauungen der Verfasser sich nicht immer mit Bestimmtheit aus-
spricht. Das Buch erscheint daher mehr als ein Kompendium, welches
die Meinungen der wichtigsten Autoren berücksichtigt, ohne stets eine
selbständige Entscheidung über Wert oder Unwert des Geleisteten zu
fällen. Koyter läßt uns nur erkennen, daß die otologischen Kenntnisse
seines Zeitalters sich in den wesentlichen Hauptzügen auf das äußere
und mittlere Ohr erstreckten, wogegen für die genauere Erforschung
des Labyrinths erst ein schwacher Ansatz vorhanden war. Eine über-
sichtliche Zusammenstellung des damaligen Wissens erhalten wir in den
„Tabulae ossium humani corporis" p. 44 (enthalten in dem Werke „Extern,
et int. part. hum. corp. tabulae"), wo Koyter die Bestandteile des Ge-
hörorgans gruppiert.
Koyter unterschied die einzelnen Teile der Ohrmuschel, kannte
den schiefen Verlauf des Gehörgangs, die Insertion, Stellung und
grobe Struktur des Trommelfells, die Kommunikation der Zellen des
Warzenfortsatzes mit der Trommelhöhle, er beschrieb die meisten
wichtigeren Teile der Trommelhöhle und der drei Gehörknöchelchen,
beide Labyrinthfenster, die Chorda, das Promontorium1), den
Hammerinu^kel, den Aquaeductus (canalis) Fa 1 1" p p i i und gah eine
gute Beschreibung der Tuba Eustachii. Mangelhaft dagegen ist das
Wenige, was Koyter über die drei Bogengänge, den Vorhof2) und die
Schnecke berichtet, ebenso seine Darstellung des Nervenverlaufs, bei der
er die Ansicht des Falloppio, daß der Acusticus einen eigenen Nerven
bilde, schüchtern hervorhebt i.
Ausführlich, und wenn auch nicht immer zutreffend, sind die Er-
klärungen, die Koyter über den Nutzen der einzelnen Bestandteile des
Ohres gibt.
Die Ohrmuschel sei nicht knöchern, weil sie durch Insulte leicht
frakturiert werden könne, anderseits nicht fleischig, weil sie dann zur
Schallaufnahme nicht geeignet wäre. Die Formation des äußeren Ohres
diene durch ihre gewundenen Erhebungen und Yert iet'ungen am besten
zur Aufnahme, Reflexion und Verstärkung des Schalles. Der Einschnitt
zwischen Tragus und Antitragus soll flüssigen Stollen , wie /.. B. Eiter
lQg Volcher Koyter.
oder anderen im Inneren des Ohres angesammelten Flüssigkeiten, einen
günstigen Abfluß gewähren.
Die Enge des äußeren Gehörgangs habe den Nutzen, daß der
Schall mehr kondensiert und zusammengehalten, vor Zerstreuung be-
wahrt bleibe, wogegen die Schrägheit seines Verlaufs wiederum die Ein-
wirkung eines zu heftigen Schalles abschwäche, das Trommelfell vor den
Schädlichkeiten zu kalter oder zu warmer Luft schützen könne und
außerdem das Eindringen fremder Körper oder kleiner Tiere erschwere
oder gänzlich unmöglich mache. Der Hauptnutzen des Trommelfells,
das er vom Periost ableitet und dessen Ränder er in der seichten
Furche des Annulus tympanicus inserieren läßt, bestehe darin, daß es eine
schützende Scheidewand für die hinter ihr gelegenen zarten Teile des
Mittelohrs gegen das Eindringen von Staub, Sand, Wasser, kleiner
Tiere u. s. wr. bilde. Ueberdies habe das Trommelfell den Zweck, die
Vermengung der äußeren zu kalten, zu warmen und unreinen Luft mit
dem reinen „Aer implantatus" zu verhindern, anderseits die Fortleitung
des Schalles zu erleichtern. Das Trommelfell sei fest und doch dünn;
fest, zur Abwehr der Schädlichkeiten, dünn, um zur Schalleitung ge-
eignet zu sein.
Die Trommelhöhlen wand sei knöchern, und zwar härter als die
übrigen Knochen, um besser der Resonanz dienen zu können. Durch
ihre Lage zwischen Proc. mamillaris und dem Gelenk des Unterkiefers
erkläre sich die Steigerung der Ohrenschmerzen bei Bewegungen der
Kiefer. Die Trommelhöhle sei deshalb größer als die anderen Höhlen,
weil sie den größten Teil des „Aer implantatus" enthalte, der ihr von
den Zellen des Warzenfortsatzes zugeführt werde.
Die Gehörknöchelchen, die nach Koyter bei Neugeborenen
dieselbe Größe wie bei Envachsenen haben, stützen das Trommelfell,
damit es bei großen Schallintensitäten nicht zerreiße, und dienen als feste
Körper sehr gut der Fortpflanzung des Schalles, was Koyter durch ein
interessantes physiologisches Experiment beweist, jedoch sei der eigent-
liche Nutzen noch nicht recht klar1).
Die beiden Fenestrae leiten den mitgeteilten Schall in die folgenden
Höhlen. Ausführlich verbreitet sich Koyter über den Zweck der Ohr-
trompete. Er besteht teils in der Erneuerung der in der Trommelhöhle
enthaltenen Luft, teils in der Ableitung von Flüssigkeiten, welche sich
in der Trommelhöhle abgesetzt haben5), teils darin, die von einem sehr
heftigen Schall im Cav. tymp. komprimierte Luft entweichen zu lassen,
wodurch eine Zerreißung des Trommelfells hintangehalten werde. Endlich
habe die Tube den Nutzen, daß bei krankhafter Beschaffenheit der Mem-
brana tympani der Schall vom Mund aus in das Mittelohr geleitet werden
könne, wodurch das Hören ermöglicht wird; daher käme es auch, daß
Volcher Koyter. 109
Schwerhörige bei offenem Munde besser hören und daß man die Schwin-
gungen eines Musikinstruments bei verschlossenen Gehörgängen deutlieb
empfinde, wenn man ein mit dem Instrumente in Berührung be-
findliches Stäbchen zwischen die Zähne stecke. Hier begeht
Koyter den Irrtum, die Leitung durch die Schädelknochen mit der Luft-
leitung durch die Tube zu verwechseln. Die Bogengänge und die
Schnecke, bei denen die Kleinheit des Raumes durch die Windungen
ersetzt werde, verstärken durch ihre Gestalt, ähnlich wie manche Musik-
instrumente, den Schall6). Im Gegensatz zu Eustachio und Fabricio
mißt er den inneren Ohrmuskeln keine Bedeutung für den Hörakt bei
und bestreitet namentlich ihre willkürliche Funktion7).
Die Schallw ahrnehmung geht nach K oyter, dessen An-
schauungen von den meisten seiner Zeitgenossen als maßgebend an-
gesehen wurden, folgendermaßen vor sich. Vom äußeren Ohr gelangt
der Schall in den Gehörgang, wird hier verstärkt und durch das
Trommelfell und die Kette der Gehörknöchelchen (die durch feste
Artikulation gleichsam ein Kontinuum bilden, sowie durch ihre Härte
zur Leitung am meisten geeignet sind) zu dem Vorhof- und Schnecken-
fenster fortgepflanzt und von hier aus den knöchernen Partien und dem
Hörnerv mitgeteilt 8). Durch die Erschütterung des Hammers wird
auch die Chorda tympani9) erschüttert und dadurch die innere Luft der
Paukenhöhle in Schwingung versetzt. Diese innere Luft, die nach
Koyter der wahre Träger und Leiter des Schalles ist10), der „Aer im-
plantatus", an dessen Dasein man bis Cotugno glaubte, muß sich leidend
und ruhig verhalten, um selbst für die leisesten Stöße der äußeren Luft
empfänglich zu sein. Der Name rühre davon her, daß die Alten, die sich
den Ursprung des „aer" nicht erklären konnten, annahmen, die innere
Luft sei von Anfang her vom Schöpfer eingepflanzt. Koyter leitet sie
von der äußeren Luft ab, die in den Zellen des Warzenfortsatzes einen
Erwärmungs- und Reinigungsprozeß durchmache11).
Im Labyrinth und in der spiralförmig gewundenen Schnecke, welche
nicht blind enden könne, sondern einen Ausgang haben müsse, wird der
Schall auf ähnliche Weise wie in musikalischen Instrumenten verstärkt
und von den Verzweigungen des Hörnerven aufgenommen, der sie zum
Perzeptionsorgan fortleitet.
Prüft man den Inhalt dieses Abschnittes genauer, so muss rühmend
anerkannt werden, daß Koyter es verstanden hat, auf Grund der spär-
lichen Kenntnisse seiner Zeit eine lichtvolle Darstellung der damals über-
haupt möglichen Gehörsphysiologie zu gehen, die, abgesehen von manchen
Irrtümern, so manches enthält, was auch durch spätere Forscher kaum
wesentlich geändert werden konnte. Zum Schlüsse dürren wir nicht un-
erwähnt lassen, daß Koyter das Gehörorgan verschiedener Tiere, z. B.
1 1 1 1 Volcher Koyter.
der Vöge\ l2), in seinen Beobacbtungskreis zog, und daß er auch dasselbe in
verschiedenen EntwicHungsepochen des Menschen eingehend studierte13).
So darf sein Werk für alle Zeit als ein Muster bezeichnet werden, das
einer reinen Begeisterung für den komplizierten Bau jenes Organs ent-
sprang, welches nach Koyter den erhabensten Meisterwerken der Natur
zugezählt werden muß. „Adde quod in auditus instrumento multa cognitu
ii ainus jucunda et utilia quam difficilia admirationeque obstupendum
nobis per obscuram quandam nebulam vix notum D. 0. M. artificium
quam dignissima sint."
1) „De auditus instrumento", Cap. 12- Tuberculum inter utramque fenestram
positum superiori sedi parvae conchae, quae in frenorum ornamenta adhibetur.
2) 1. c. Tertius meatus communis est portae anteriori et posteriori foramini,
vel utraeque fenestrae , ubi videlicet termini fenestrarum congrediuntur et unde
labyrinthus et Cochlea prodeunt.
3) 1. c. Cap. 17. Equidem multoties ductum huius nervi secutus et eodem
modo sese habere deprehendi.
4) Videmus solide corpora aptissima esse ad soni communicationem , vel de-
lationem , cujus rei experientia fieri potest. Invenias tibi trabem vel ferrum , quam
potes longissimum , colloces aliquem ab altero fine , tu vero stes ab altero , ferias
digitorum condylo partem tu am ita leniter, ut ictus vix a te percipiatur, alter vero
ex altero fine trabis collocatus, si aurem proprius ad trabem admoverit, quamvis
longissime a te dissitus exquisitius tarnen ictus percipiet, atque sed aliquo post
tempore, siquidem per lignum sonus non ita cito, atque per aerem permeare potest:
idem attestantur Musica instrumenta. Attribus itaque iis (ossiculis). ut sonum per
myringae commotionem iis participatum , foraminibus , per quae sonus ad nervum
auditorium deferetur et ossibus vicinis communicent . . . sed verus usus ossiculorum
nos latet. 1. c. Cap. 9.
") 1. c. Cap. 13.
e) 1. c. Cap. 14.
7) 1. c. Cap. 10.
A.er externus soni qualitate affectus in membranam myringam incurrit,
mviiiix pulsata ossicula membrana colligata commovet, ossicula porro nervum quen-
dam per transversura membranae expansum percutiunt, ex illa nervi sive funiculi
percussione ipse nervus in membranam percutitur, unde aer inclusus alterationem
et sonos excipit, soni vero per aurium tortuosos et flexuosos anfractus eitra ullam
turbam fertur pervaditque ad nervum auditorium, hoc demum exploratore et ministro
strepitua imago ad sentiendi principium transmittitur. 1. c. Cap. 1.
9) Tribuitur itaque cbordae hie usus, ut aerem percutiat, ex exceptione verbe-
rationis faetae a tribus ossiculis. 1. c. Cap. 11.
°) A.er hie qualiscumque sit, est primum et praeeipuum audiendi instrumentum
^cilicet animae. 1. c. Cap. 7.
") I. c. Cup. 8.
1 ) Vide „Observationes anatom." : De anatome avium. Extern, et intern, part.
h. c. Norimberg 1572.
i Meatus auditorius, sive canalis externus non unde quaque in pueris osseus
est, sed quasi omnino cartilaginosus et ad septimum usque mensem post pro-
creationem sejungi potest. 1. c. p. 5.
Fabricius ab Aquapendente. 111
Fabricius ab Aquapendente
(1537—1619).
Girolamo Fabrizio, einer der hervorragendsten Schüler Falloppios,
wurde 1537 in dem zum Kirchenstaate gehörigen Städtchen Aquapendente
geboren. Er genoß eine sehr sorgfältige Erziehung, studierte anfangs
Philologie und Philosophie, widmete sich aber später in Padua unter
Falloppio, von diesem vielfach gefördert, der Anatomie und Chirurgie.
Schon 1562 wurde er in Anbetracht seiner eminenten wissenschaftlichen
Leistungen der Nachfolger seines Lehrers. Die Universität Padua ehrte
seine Verdienste durch den Ehrentitel: „Professor supraordinarius",
der venezianische Senat durch seine Erhebung in den Adelstand. Er
genoß den unbestrittenen Ruhm eines großen Anatomen und gefeierten
Lehrers und sein Ruf als Arzt und Chirurg war so bedeutend , daß die
Vornehmsten des Landes ihn zu Rate zogen. Er nahm nur von den
Reichsten Honorare an. Hochadelige Herren belohnten seine Dienste
mit wertvollen Kunstgegenständen, die er in seiner Villa bei Padua zu
einem Museum vereinigte, das die Aufschrift: „Lucri Neglecti Lucrum "
trug. Sein Andenken wurde durch eine Bildsäule verewigt. Fabrizio
war der erste der Paduaner Professoren, die gleichzeitig das anatomische
und chirurgische Lehramt ausübten. Das von ihm auf eigene Kosten
erbaute anatomische Theater gibt Zeugnis für die Begeisterung, mit der
er die anatomische Wissenschaft zu fördern bestrebt war.
Von seinen Werken kommen für die Ohrenheilkunde in Betracht:
„De visione, voce et auditu". Venet. 1600. f. Patav. 1600. f.*); .,De
formato foetu". Venet. 1600. Die beste Gesamtausgabe ist die von
Albinus (Leid. 1737).
Einen Fortschritt seinen Vorgängern gegenüber bedeutet seine
Schilderung des äußeren und mittleren Ohres, die er mit wenig ge-
lungenen Abbildungen illustriert.
Vermengt mit zahlreichen in seinem Zeitalter beliebten philologi-
schen Erklärungen, beschreibt er die Ohrmuschel mit allen ihren Er-
habenheiten und Vertiefungen recht gut, den äußeren Gehörgang mit
Rücksicht auf seinen Verlauf, das Trommelfell und den Annulus tym-
panicus. In der Trommelhöhle, welche er als „concha" bezeichnet,
fand er manche Einzelheiten, die seinen Vorgängern unbekannt ge-
blieben sind.
Eingehend werden dieGehörknöchelchen geschildert. Bemerkens-
*) Der auf das Gehörorgan bezügliche Abschnitt besteht aus folgenden Teilen
„De aure, auditus organo, de dissectione et hiatoria" (P. I. Taf. 1). — „De actione
auris, h. e. de auditu" (P. IT). — „De uidlitatibus, tum totiua auris, tum partium
illius" (P. III).
112 Fabricius ab Aquapendente.
wert ist, daß sich unter den sonst formlosen und unrichtigen Abbildungen
der Gehörknöchelchen (S. 255) eine Reproduktion des Hammers mit
seinem langen Fortsatze befindet, den Caecilius Folius später als neue
Entdeckung beschreibt.
Fabrizio teilte den Irrtum mancher zeitgenössischer Anatomen, daß
die Knöchelchen kein Periost (periostio nequaquam operta) besäßen und
hielt sie für hohl und mit Mark gefüllt. Er ging näher auf ihre ge-
lenkige Verbindung ein, indem er die Artikulationsflächen beschreibt und
die Verbindung von Hammer und Amboß als Ginglymus auffaßt (ea scilicet
de articulationis specie, quae YlTT^°lJl0sl^)S appellatur. 1. c. P. I, Cap. 5,
p. 251). Die Knöchelchen sind nach ihm beim Fötus ebenso groß wie
beim Erwachsenen (dura perfeetaque ossa etiam in nascentibus infantibus).
Die Chorda faßt er als corpus sui generis, nicht als Nerv auf. Was die
Muskeln des inneren Ohres anbelangt, so ist ihm der innere Hammer-
muskel gut bekannt; er nennt ihn „Musculus malleum ad ineudem
movens". Den Steigbügelmuskel hingegen hält er für ein Ligament1).
Ferner beschreibt er einen von ihm im Jahr 1599 entdeckten Muskel,
der angeblich von der Mitte der Gehörgangswand entspringt und zu
jener Stelle des Trommelfells hinzieht, wo der Hammer befestigt ist.
Dieser Muskel soll nach Fabrizio das Trommelfell mit dem Hammer nach
außen ziehen, wäre somit ein Antagonist des inneren Hammermuskels
(Muse. Tens. tymp.) Die Abbildung dieses Muskels findet sich auf S. 254
(Fig. 17). Fabrizio konnte jedoch diesen Muskel nicht bei allen von
ihm untersuchten Gehörorganen nachweisen. Eine Bestätigung dieses
Befundes finden wir bei den späteren Autoren nicht, mit Ausnahme des
Casserio, der diese fragwürdige Entdeckung im Jahre 1593 gemacht
haben will. Die betreffende Stelle bei Fabrizio lautet: „Praeterea hoc
anno 1599 Musculum invenire visus sum in meatu auditorio, qui JCÖpo?
axoDOTixös dicitur, qui extra membranam est, exiguus, carneus, non expers
tendinis, qui a medietate ipsius duetus seu meatus reeta fertur, usquequo
in membranam exterius ad ejus ferme centrum inseratur, ea scilicet parte,
qua malleus intus membranae annectitur quam exterius una cum malleo
fcrahit" (1. c. P. I, Cap. 6, p. 251). Die Funktion dieser beiden Muskeln
des Trommelfells besteht nach seiner Ansicht darin, die Membrana
fcympani \«m- Zerreißung zu schützen (1. c. P. III, Cap. 6, p. 263. De
Musculi et articulationis Mallei utilitatibus). Von der Tube, die er „aquae-
duetus" nennt, kennt er das tympanale und pharyngeale Ostium; auch
hat er sie des öfteren vom äußeren Gehörgange aus mit einer Schweins-
borste oder einem silbernen Drahte sondiert. Eine ausführliche Be-
schreibung dieses Kanals aber vermissen wir (1. c. P. I, Cap. 9, p. 252).
Seine bildliche Darstellung des Promontoriums entspricht durch-
wegs den jetzt bekannten anatomischen Verhältnissen der inneren Trom-
Tafel VI
Marria Ia.br icio aactat fk NotnilM": Roma
Peiiitula Fabripium ; tu cpuxjue ^'i^nb Aqt
>biV Fabriciq (reiius: mclita Roma ► cU^ilici;
Peiulentem iiit cojfitfä NobilkaVit Aquaiu .
'iiililiilliill!iliillillil!lllllllulilUlllullly||llllü
FABRICIUS AB AQUAPENDENTE
Fabrizio ab Aquapendente. H3
rnelhöhlenwand , doch ist die Kenntnis und Bezeichnung der beiden
Labyrinthfenster mangelhaft.
Unter allen Teilen des Gehörorgans ist das Labyrinth am schwäch-
sten beschrieben. Dies geht schon daraus hervor, daß er nicht sicher
weiß, daß das Vorhoffenster in das Vestibulum führt. Er beruft sich
bloß auf die Autorität seines Lehrers, dem er in „rebus abstrusis", wie
er sich ausdrückt, großes Vertrauen schenkt2). Der Vorhof selbst ist
ihm fast unbekannt, die Bogengänge läßt er aus einer nicht zu
zählenden Menge von Kanälen bestehen und hält es für vergebliche
Mühe, sie darstellen zu wollen^). Auch die Schnecke, die er oft seinen
Schülern demonstrierte, kannte er höchst oberflächlich4). Gleich Vesal
steht er auf dem Standpunkt, daß der N. acusticus in der Trommelhöhle
endet, hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, daß manche kleinere
Zweige des Nerven in anderen Höhlungen des Ohres sich ausbreiten 5).
Von größerem Werte ist der physiologische Teil seiner Ab-
handlung*), namentlich soweit er sich auf den Nutzen der einzelnen
Teile des Ohres bezieht, wo allerdings meist Bekanntes aus Hippo-
krates, Aristoteles und Galen vorgebracht wird. Eine Unmasse von
Fragen, z. B. warum die Ohren am Kopfe stehen, weshalb vorne und
nicht hinten, weshalb sie oben breiter sind als unten, weshalb sie un-
beweglich sind u. s. w. wird ebenso wie der Nutzen jeder Erhabenheit
und Vertiefung der Ohrmuschel mit peinlichster Weitläufigkeit erledigt.
Bevor wir die Anschauungen Fabrizios vom Nutzen der übrigen Teile
des Gehörorgans besprechen, wollen wir kurz auf seine Hörtheorie eingehen.
Im wesentlichen schließt er sich hierin Koyter an. Der Träger
der Schall Wahrnehmung ist wieder der „aer implantatus", welcher die
angeblich zahllosen Höhlungen des Gehörorgans nach dem Gesetze „natura
horret vaccuum" ausfüllt6); der Gehörnerv spielt nach Fabrizio nur
eine sekundäre Rolle, insofern er, da nur Festes oder Luftförmiges als
Schallleiter diene, die Lebensluft, den „Spiritus animalis" ausströmen lasse.
Diese vermische sich mit dem aer implantatus und teile ihm die wesent-
lichen Eigenschaften mit, worauf sie als „species sensibilis" wieder zur
Seele zurückkehre7). Der Schall selbst ist nach seiner Meinung nichts
anderes als eine „evaporatio", welche die Höhlen des Ohres durchdringe.
Da nach Fabrizios Theorie (wie bei Koyter) das Trommelfell die äußere,
unreine, unruhige, kalte Luft vom „aer" strenge trennt und abschließt,
so erwächst ihm bei Erklärung der Fortpflanzung des Schalles eine
Schwierigkeit8), die er dadurch beheben will, daß er den Schall als
solchen vom Trommelfell aufgenommen und dann in das Tympanum
übertragen werden läßt, ohne daß äußere Luft eindringen könnte").
*) In P. II u. III.
Politzer. Geschichte der Ohrenheilkunde. I.
1 1 \ Fabrizio ab Aquapendente.
Würde dies der Fall sein, so müßte die Luft dem Gehörnerv und dem
Gehirne schädlich werden und, da sie durch ihre heftige Bewegung den
„aür implantatus" und damit den Lebensgeist verdrängen würde, wäre
Taubheit die nächste Folge.
Im Lichte dieser Theorie betrachtet Fabrizio das mittlere und innere
Ohr. Weiche Gewebe, sagt er, nehmen an seinem Aufbau deshalb nicht
teil, weil der Schall nur durch harte Körper geleitet wird. Das Trommel-
fell ist sehr dünn, um zur Schallleitung , fest, um zur Trennung der
äußeren und inneren Luft geeignet zu sein, trocken zur Schallaufnahme
und konkav, um den anprallenden Schall, der wie ein Wasserwirbel
sresen den Umbo schlage, zu konzentrieren und zu verstärken.
Bei Erörterung des Nutzens der Gehörknöchelchen erwähnt er ihre
Härte und Glätte10) als günstig und bemerkt, daß sie angeheftet und
schwebend aufgehängt seien (durch den Hammer am Trommelfell), damit
der Schall ähnlich wie auf eine schwingende Glocke am besten über-
trafen werden könne. Hohl seien die Gehörknöchelchen deshalb nur,
um Mark zur Ernährung enthalten zu können, anderseits behindern sie
Verletzungen des Trommelfells, die ihre Schwere begünstigen würde.
Auch die Mehrheit der Gehörknöchelchen und die Aktion des äußeren
und inneren Hammermuskels verhindere dies letztere.
Das eigentliche Aufnahmsorgan sei die Trommelhöhle, wo der
Schall, wenn er schwach ist, aufhöre, während er sich sonst in den
inneren Höhlen verliere. Die Löcher des inneren Ohres haben den
überschüssigen Schall durchzulassen, die großen den tiefen, die kleinen
den hohen Ton. Die Höhlen des Labyrinths und der Schnecke, die
ihrerseits in ihrer Gestalt dem Schall akkommodiert sein sollen, haben
keine andere Bestimmung als die, den überschüssigen Schall aufzunehmen,
damit Reflexion und Echo vermieden werde.
In der Frage über die willkürliche Bewegung der inneren Ohr-
muskeln nimmt Fabrizio einen bejahenden Standpunkt ein, indem er sich
auf eigene Erfahrung stützt und meint, man könne diese Bewegung,
welche synergistisch mit den Muskeln der anderen Seite verlaufe, wahr-
nehmen11). Jedoch diente sie weniger zum Hören selbst, als vielmehr
zur Hinwegschaffung der (verdorbenen) Luft.
Der Nutzen der Ohrtrompete, deren Entdecker er merkwürdiger-
weise nicht nennt, ist nach Fabrizios Darlegung ein vierfacher. Sie
dient erstens zur Reinigung 12) und Trockenhaltung des Gehörorgans,
zweitens zur Zuleitung neuer Luft und Ergänzung der „eingepflanzten",
drittens zur Abschwächung starken Schalles, der eine Trommelfellruptur
bedingen könnte, endlich damit Personen, deren Trommelfell verletzt ist,
auf dem Wege der Tuba, namentlich bei weitgeöffnetem Munde, hören
könnten.
Fabrizio ab Aquapendente. H5
Auch die Entwicklungsgeschichte des Ohres hat Fabrizio in den
Kreis seiner Beobachtungen gezogen. Es ist ihm bekannt, daß die Ge-
hörknöchelchen im Fötus vorhanden, beim Neugeborenen fast. so groß
wie beim Erwachsenen sind, und daß die Trommelhöhle beim Fötus
mit Schleim erfüllt ist. Hingegen dürfte er noch nicht, wie be-
hauptet wurde, die Existenz der noch nach der Geburt das Trommelfell
bedeckenden dicken Epidermislage klar erkannt haben, da er von einer
das Trommelfell bedeckenden und ablösbaren Pseudomembran spricht.
Die Gegengründe, die Morgagni gegen Fabrizio13) vorbringt, sind so
überzeugend, daß wir uns ihnen anschließen müssen.
In seinem die operative Chirurgie behandelnden Werke „Opera
medica" widmet Fabrizio den Ohr er krankungen nur einen kurzen
Abschnitt. Bei den im Gehörgange vorkommenden Operationen scheint
er besonderes Gewicht auf eine günstige Beleuchtung des tieferen Ge-
hörgangsabschnittes gelegt zu haben. Es ergibt sich dies aus einer von
Morgagni erwähnten, von Fabrizio angewendeten Untersuchungsmethode,
die darin bestand, daß er die Sonnenstrahlen durch ein kleines Loch im
Fensterladen in den Gehörgang fallen ließ. Zu demselben Zwecke soll
sich Fabrizio auch einer mit Wasser gefüllten Flasche bedient haben,
durch welche die konzentrierten Strahlen einer Kerze in den Gehörgang
geleitet wurden11).
Bei allen operativen Eingriffen im Ohre, die sich vorzugsweise auf
die Extraktion von Fremdkörpern beziehen, legt Fabrizio besonderes
Gewicht auf den Schutz des Trommelfells gegen etwaige Verletzungen.
Die von Paul von Aegina bei schwer zu extrahierenden Fremdkörpern
empfohlene halbmondförmige Inzision hinter der Ohrmuschel mit darauf-
folgender Ablösung des knorpelig-membranösen Gehörgangs verwirft er
als einen zu schwerwiegenden Eingriff, bei dem das ausfließende Blut das
Operationsfeld verdunkle und in den nächsten Tagen eine Entzündung
entstehe. Fabrizio bedient sich zur Entfernung der Fremdkörper öfters
kleiner Zangen mit gezähnten Branchen oder eines Instruments, das an
einem Ende eine ohrlöffelförmige Aushöhlung und am anderen ein Häkchen
hatte. Letzteres benützte er bei weichen Fremdkörpern, jenes schob er
unter härtere Substanzen. Zur leichteren Herausbeförderung des Fremd-
körpers empfiehlt er den äußeren Gehörgang ad maximum zu strecken.
Vor der Extraktion mit einer spitzen Sonde wurde stets die Stelle auf-
gesucht, wo das Instrument anzusetzen sei15).
») 1. c. Cap. 5, p. 251.
-) Ovalis cavitas est (nämlich die Trommelhöhle), cui stapes incumbit, ipsum-
que ostium magna ex parte occupat cluditque, a quo Fallopius, cui in rebus ab-
strusis maximam fidem adhibeo utque praeceptorem colo, vult in labyrinthum iri.
„De visione voce et auditu" in „Opera omnia anatomica et physiologica". Lugd.
Batav. 1737. P. I, Cap, 7, p. 252.
116
Giulio Casserio.
s) 1. c. Tertiuni foramen, ut patet, in alias ducit cavitates, quae tarnen in-
numerae sunt, invicemque intricatae ut merito labyrinthus dicantur et admirari qui-
dem eas licet dinumerare autem seu ad ordinem quendam redigere aut dirigere
non est ut quispiam tentet.
rundum foramen ducit in cochleam quam ego multos jam annos, Organum
ad ostensionem parans, transverse ipsam per totum cochlearem ductum forte incidi
diuque servari et solenni complurium annorum spectaculo auditoribus meis inspec-
tandam proposui quotannis publice plenis tbeatris ostendi. 1. c. Cap. 7.
5) . . . atque in nonnullas diductum propagines sie in plerasque ossis cavernulas
majoris momenti discurrit, donec ad primam praeeipuamque cavitatem, concham
appellatam, ubi ossicula consistunt, perveniat termineturque. Quam rem ita aeeipi
velim, ut negandum haudquaquam sit, nonnullas minoris momenti propagines in aliis
cavernulis cessare sed tarnen potiores ad potiorem et majorem, uti dictum est, ac-
cedere. 1. c. Cap. 10, p. 253.
6) Hie ille aer est, qui ab Aristotele et priscis complantatus, inaedificatus et
congenitus appellatur. 1. c. P. I, Cap. 8, p. 252; ferner P. III, Cap. 10, p. 265.
7) 1. c. P. III, Cap. 9. p. 265. De Nervi Auditorii utilitatibus.
8) Verum hoc loco difficultas non levis insurgit, quomodo scilicet per banc
membranam, quae aerem complantatum ab externo separat, fieri possit alteratio
ipsius soni in cornplantato aere, cum seeundo de anima Aristoteles dicat externum
aerem motum per continuitatem internum quoque movere. 1. c. P. III, Cap. 4. De
Membranae utilitatibus.
9) 1. c. Cap. 4.
10) Quae tarnen opei-ta non sunt ut reliqua ossa, sed nuda, alioqui ad soni
reeeptionem ac delationem forent inepta, ac perinde contingeret ac si jam proposita
dura corpora aliquo molli panno involveres. 1. c. P. III, Cap. 5, p. 262. De ossi-
culorum utilitatibus.
n) lllud praeterea habet notatu dignum hie motus, quod in utraque aure
eodem tempore fit, neque ullo modo separatim in altera tantum aure fieri potest,
ut videatur hie modus quandam habere analogiam cum oculorum motu, siquidem
uno moto oculo alter quoque movetur. 1. c. P. I, Cap. 6, p. 263.
12) Der Schleim der Trommelhöhle werde vermittels der Tuba durch Seiten-
lage, noch mehr durch Niesen entfernt. 1. c. P. III, Cap. 11.
13) Morgagni, Epist. Anat. Ep. V, 2.
,4) Morgagni, De sedibus et causis morborum. 4. T. T, p. 229 u. 230.
15) Opera Chirurgica Venetiis 1619. — De Aurium Chirurgia p. 39 — 41.
Giulio Casserio
(1561—1616).
Bevor wir von den italienischen Anatomen dieser glanzvollen Periode
scheiden, müssen wir noch eines Mannes gedenken, mit dem die Reihe
der hervorragenden Anatomen des Cinquecento abschließt: Giulio Cas-
serio (Casserius Placentinus), der sich mit besonderer Vorliebe der Ohr-
anatomie widmete und dessen Leistungen die seines Lehrers Fabrizio
ab Aquapendente weit übertreffen. Dieser war es, dessen Scharfblick
das hervorragende Talent Casserios erkannte und ihn als seinen würdigsten
Nachfolger auf dem Lehrstuhle zu Padua bezeichnete.
Tafel VII
^T,ntulu£y4rJre?r.(MSSZRJ maßne iMa
CajuriTnulh irernuore nomzn tiuv
i&r
JULIUS CASSERIUS
Giulio Casserio. 117
Giulio Casserio wurde zu Piacenza 1561 geboren und trat als
Famulus in die Dienste des Fabrizio. Da er bald ausgezeichnete An-
lagen verriet, ließ ihn Fabrizio bei seinen Vorlesungen assistieren und
gab ihm dadurch, wie durch manche andere gütige Förderung reich-
liche Gelegenheit zum gründlichen Studium der Anatomie. Casserio
benützte die Zeit so vortrefflich, daß er, ausgerüstet mit den nötigen
Kenntnissen, sehr bald den Doktorhut an der Universität Padua erwarb.
In seiner Ausbildung stetig fortschreitend, vermochte er bald seinen durch
Krankheit verhinderten Lehrer in den anatomischen Vorlesungen zu ver-
treten, und als Fabrizio, vom Alter gebeugt, sein Lehramt aufgab, wurde
1604 Casserio auf seinen Vorschlag zum Professor der Anatomie in Padua
ernannt. Dieses Amt bekleidete er zum Ruhme der Universität bis zu
seinem 1616 erfolgten Tode.
Besondere Verdienste erwarb sich Casserio durch seine Unter-
suchungen über Stimm- und Gehörwerkzeuge, deren vergleichende
Anatomie er in hervorragendem Maße förderte.
Die Werke Casserios verraten einen stupenden Fleiß und seltene
Exaktheit und gehören zu dem Besten in der älteren anatomischen Lite-
ratur, stehen aber in Bezug auf Diktion und Darstellungsweise hinter
den Werken seiner Zeitgenossen zurück, ein Mangel, der vielleicht aus
dem Bildungsgang des Autors erklärlich wird. Dagegen ersetzen sie
diesen Mangel durch viele gelungene Abbildungen , deren Casserio eine
so große Zahl lieferte, wie keiner seiner Vorgänger und wenige seiner
Nachfolger*).
An praktischer Fähigkeit, besonders als Chirurg, übertraf Casserio
den Fabrizio beträchtlich, dagegen stand er als Theoretiker weit hinter
ihm zurück.
Seine Leistungen in der Ohranatomie übertrafen aber unbestritten
die seines Lehrers. Casserio geht ausgreifender ins Detail, wo Fabrizio
in der Schilderung nur andeutungsweise vorgeht.
Die für die Otologie in Betracht kommenden Werke sind das in
schöner Austattung edierte Werk: „De vocis auditusque organis historia
anatomica tractatibus II. explicata". Ferrar. (1600). Mit 37 Kupfern
in Fol. und „Pentaesthesion, h. e. de quinque sensibus über". Venet.
1609. f. 33 Kupfertafeln. — Francofurti 1610. Lib. IV, 148-265. Ferner
„Tabulae anatomicae". LXXIX. Omnes novae nee ante hoc visae. Venet.
1627. f. cum supplementis Dan. Bucretii. S. 1. et a. f. Francof. 1632.
i Bucretius, der seine Tafeln später herausgab, erzählt, daß bei Casserio
tili Maler (Kduard Fialectus) und ein Kupferstecher (Franciscus Yalesius) wohnten,
wodurch er seine Entdeckungen rasch fixieren konnte. Auch ein deutscher Maler.
Joseph Murer, wird als einer seiner Mitarbeiter genannt.
2X8 Giulio Casserio.
Was in den genannten Werken Casserios zunächst auffällt, ist die
reiche Fülle von Tatsachen aus der vergleichenden Anatomie des Ohres.
Diese bearbeitete er zu dem Zwecke, um in den Bau des menschlichen
Ohres besser einzudringen, und es gelang ihm, bei Tieren manches auf-
zufinden, was die weitere Forschung auch beim Menschen feststellte1).
In ausgezeichneten Tafeln2) ließ er das Gehörorgan im Zusammenhange
oder in die einzelnen Bestandteile gesondert darstellen, wozu außer dem
menschlichen Gehörorgan auch das vom Schwein, Schaf, Rind, Ziege,
Hund, Pferd, Katze und Maus wie auch das von Fischen und Vögeln als
Objekt diente.
In welch subtiler Weise Casserio die vergleichende Anatomie des
Ohres behandelte, beweist seine Abbildung der Gehörknöchelchen ver-
schiedener Tierarten (Fig. 4). Die Gehörknöchelchen des Menschen dürfte
er bloß im mazerierten Zustande gesehen haben, wie aus der vollkommen
unrichtigen Darstellung der Hammeramboßverbindung erhellt.
Bei der Zergliederung der Gehörorgane von Tieren fand er den
von Varoli beim Menschen beschriebenen Steigbügelmuskel3), der
beim Pferde und Hunde im Jahre 1601 aufgefunden und zum ersten Male
abgebildet wurde, ferner dielnzisuren des knorpelig-membranösen Gehör-
ganges. Die Entdeckung des fälschlich als Muskel bezeichneten Levator
tympani minor veröffentlichte er im selben Jahre wie Fabrizio und
beruft sich, seine Priorität wahrend, auf das Zeugnis mit Namen an-
geführter Personen (Pentaestheseion, Cap. 11).
Casserio war auch der erste, der die Verschiedenheiten der Form
und Insertion der inneren Ohrmuskeln der Tiere von denen des
Menschen eingehend schilderte.
Ebenso genau beschrieb Casserio die äußeren Ohrmuskeln, die
bisher nur zum Teile bekannt waren und von manchen Nachfolgern
gänzlich geleugnet wurden. Er bildet den M. superior auriculae s.
Attollens sowie die drei Rückwärtszieher, M. retrahentes, ab, während
Falloppio die letzteren für einen Muskel ansah und Eustachio wie auch
Colombo überhaupt nur einen einzigen Muskel der Ohrmuschel zugaben.
Aeußerst eingehend schildert Casserio die einzelnen Unterabschnitte der
Ohrmuschel, wobei er hauptsächlich die Bezeichnungen des Rufus von
Ephesus benützt und die Struktur der Ohrmuschel (Haut, Fett, Knorpel,
Bänder, Muskel) eingehender Betrachtung in teleologischer Hinsicht
unterzieht4).
Genauer als seine Vorgänger beschreibt Casserio die Art der Ver-
laufsrichtung des äußeren Gehörganges5) und die Stellung des Trommel-
fells, welch letzteres nach seiner Ansicht vom Periost abstammt. Da-
gegen spricht er sich über die Natur der Chorda tympani nicht be-
stimmt aus. Bei der Schilderung der Trommelhöhle erwähnt er eine
Giulio Casserio.
119
von der Vena jugul. Intern, abstammende Vene und eine Arterie, die von
der Art. tempor. entspringt.
Was die Gehörknöchelchen6) betrifft, unterscheide! Casserio am
Hammer den Kopf, den Stiel und einen größeren und kleineren Fort-
satz7). Bezüglich des Hammermuskels, den er, wie Eustachio, Musculus
internus nannte, meinte er, daß sieh derselbe in zwei Sehnen spalte, mit
1^0 Giulio Casserio.
denen er sich am Hammer befestigen soll8). Ferner beschrieb er den
Aquaeductus Falloppii (Canalis facialis)9) ziemlich genau und war
der erste, der die auch von Guido Guidi erwähnte Membrana fenestrae
Cochleae, die er von dem Periost des Labyrinths herleitete, exakt
schilderte10). Hingegen scheint er der Anatomie der Ohrtrompete nur
wenig Beachtung geschenkt zu haben , da ihre Abbildung in seinen
Tafeln fehlt.
Vorzüglich für die damalige Zeit sind Casserios Untersuchungen
und Abbildungen des inneren Ohres, die lange Zeit als unübertroffen
galten. So kennt er den Vorhof und weiß, daß die Bogengänge
mit fünf Oeffnungen in diesen einmünden*)11).
Ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer setzt er die Zahl der Bogen-
gänge auf drei fest und berichtet eingehend über ihre Lage und Größe12).
Die Schnecke, deren Windungszahl er noch mit drei bestimmt,
bildete er losgetrennt vom Knochen ab und erkannte in ihr als erster
mit Sicherheit den schon von Eustachio erwähnten13) membranösen
Teil der lamina spiralis (septum spirale). Auch scheint er wenigstens
beim Kalbe den Verlauf des Schneckennerven verfolgt zu haben11);
irrtümlich jedoch beharrte er bei der alten Anschauung, daß Facialis
und Acusticus Zweige eines Nerven seien, woraus er die „Sympathie"
der Ohren, der Zunge und des Kehlkopfes ableitet. Alle diese Beschrei-
bungen, unter denen sich gerade die des inneren Ohres durch eine alle
vorhergehenden an Exaktheit und Detailkenntnis überbietende Genauig-
keit auszeichnen, sind durch treffliche bildliche Darstellungen erläutert.
Casserio beschäftigte sich auch mit der Entwicklungsgeschichte
und kam zu folgenden Ergebnissen. Das Felsenbein ist bei Kindern
vom Schuppenteil noch deutlich getrennt, der Processus styloides ist
knorpelig, der Gehörgang ist knorpelig (bei Erwachsenen teils knöchern,
teils knorpelig), der Annulus tympanicus deutlich erkennbar, die drei
Gehörknöchelchen sind bei Neugeborenen nicht so fest, wie bei Erwach-
senen etc.
Noch wollen wir erwähnen, daß er sich über die Beschaffen-
heit und den Nutzen des Ohrenschmalzes eingehend ausspricht und die
Existenz der Drüsen des Gehörgangs andeutet.
Casserios Physiologie enthält eine Menge wenig origineller
Ansichten über den Nutzen der einzelnen Teile des Gehörorgans15).
Seine Physiologie des Hörens gleicht im wesentlichen der des Koyter
*) Von vergleichend-anatomischem Interesse ist der Befund Casserios bei
Fischen (Esox Lucius), bei denen er Hörsteinchen auffand, von denen er sagt, daß
sie in einem ovalen, wass er gefüllten Bläschen enthalten sind. „Vesicula ovalem
figuram praeseferens, aqua plena; cui insunt duo corpuscula ossea discontinua,
divisa ac ab omni vinculo libera." 1. c. Lib. I, Cap. 20.
Giulio Casserio. 121
und Fabrizio, doch teilt er dem Nerven, den er als „instrumentum
auditus" ansieht, eine größere Rolle als dem „aer in genitus8 zu, an
dem er noch festhält10). Hinsichtlich der Rolle der Gehörknöchelchen
für den Hörakt steht Casserio insofern im Widerspruch mit der Ansicht
seines Lehrers, als er die Kette der Gehörknöchelchen bloß als eine
Stütze für das Trommelfell ansieht, während sie mit der Fortleitung
des Schalls nichts zu tun hätten17), eine Ansicht, die auch in neuerer
Zeit von Secchi und Zimmermann vertreten wird.
Die Förderung . welche die Ohranatomie durch Casserio erfahren,
muß umso höher angeschlagen werden, als die nächsten Dezennien arm
.an neuen Entdeckungen waren.
Ego una cum delineatione Auriculae hominis etiam brutales quasdain aures
perfiguravi: sunt quidem ubique in animalibus vivis conspicuae et obviae: iuvabit
tarnen, in suo musaeo eas cum humano conferre posse etsi ipsa animalia ibidem
non adsint.
2) Tabulae duodecim.
3) Pentaesthes. , Lib. I, Cap. 12, Tab. IX, Fig. 24, 25 Equus. Musculus in-
ternus a nomine hactenus inventus et observatus suo tendine tenuissimo Btapedi
adjunctus.
4) 1. c. Lib. I, Cap. 5, p. 19. Dort heißt es auch betreffs der Muskeln: nun-
quam mihi obtigit caput hominis, cui omnes (musculi auriculae) defuere.
5) 1. c. Cap. 6, p. 41.
6) De tribus quippe ossiculis quorum conformatio adeo elegans, ac artificiosa,
usus adeo excellens ac nobilis, ut utrumque oratione satis superque exprimere im-
possibile sit. I. c. Lib. I, Cap. 12, p. 66.
;) 1. c. Cap 12, p. 66.
B) 1. c. Cap. 13, i». 79 beschreibt ihn beim Pferd und Schwein etc. Insertion:
1) in elatiorem mallei apophysin, 2) altero in cervicem.
9) 1. c. Cap. 6, p. 40.
10) „Fenestra ovalia tortuosa" . . . „attamen merabrana cui Stapedis basis ap-
posita est clausuni existit". 1. c. Cap. 11, p. 58.
") 1. c. Cap. 11, p. 59.
12) Unus transversim, ab interioribus extrorsum; alius recta, ab anterioribus
retrorsum. Tertius oblique a posterioribus extrorsum. ibid.
1S) Duplici constat helice, altera ossea latiori, quae a labyrinthq est continua.
altera membranosa est molli, quam ea format membrana, quae duplex hoc antruni
vestiens utramque obserat fenestram. ibid.
") 1. c. Tal.. X, Fig. 17, p. 60.
1S) 1. c. Lib. III, Cap. 1.
18) Nervus est primaria pars in auditus organo. 1. c. sec. II, Cap. 12.
17) 1. c. sect. II, Cup. 9.
Außer den im Texte angeführten Autoren wurden als Quellen benützt:
G. B. Morgagni: Epist. anatomicae 17.
M. Portal: Histoire de l'Anatomie et Chirurgie. Paris 1770.
C. G. Lincke: Handbuch der theoret. u. prakt. Ohrenheilkunde 1837.
Edm. Dann: Skizze einer Geschichte der Ohrenheilkunde. Berlin 1*34.
St anislaus von Stein: Literatur der Anatomie u. Physiologie des Ohres
(russisch). Moskau 1890.
122 Ohranatomie im 16. Jahrhundert.
Während des Druckes kam mir die Inauguraldissertation des Stud. med.
Max Mayer Karl in, Königsberg 1905, zur Hand, die keine uns unbekannte
Daten enthält.
d) Stand der Ohranatomie in Deutschland und Holland
im 16. Jahrhundert.
Trotz des lebhaften geistigen Verkehrs, der sich gegen Ende des
16. Jahrhunderts zwischen Italien und den benachbarten Ländern ent-
wickelte , dauerte es sehr lange , bis die in Italien schon in höchster
Blüte stehende anatomische Wissenschaft in Deutschland, Frankreich und
Holland festen Fuß faßte. Besonders gilt dies von Deutschland. Noch
zersplitterten hier die Universitäten in scholastischen und philologischen
Fehden ihre Kräfte, noch war der Aberglaube gegen die Zergliederung
menschlicher Leichen in den großen Massen des Volkes nicht geschwunden,
und noch weit bis in das 16. Jahrhundert hinein ist von seiten der
regierenden Fürsten keine Förderung der aufkeimenden Wissenschaft zu
entdecken. Wie tief die Aversion gegen die Zergliederung der mensch-
lichen Leichen selbst in gelehrten Kreisen wurzelte, beweist die Tat-
sache, daß noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Anatom Jacob Trew
sich veranlaßt sah, eine Verteidigung der Anatomie zu veröffentlichen.
Bei den im 16. Jahrhundert an den deutschen Universitäten vorge-
nommenen spärlichen Sektionen begnügte man sich im allgemeinen mit
der oberflächlichen Besichtigung der äußeren Körperteile und der in den
großen Höhlen eingeschlossenen Organe.
Die noch erhaltenen deutschen anatomischen Werke aus dem Ende
des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts liefern ein trauriges Bild von
dem damaligen Stande dieser Wissenschaft. Zu ihnen gehört „die erste
in deutscher Sprache geschriebene höchst armselige und stümperhafte
Anatomie", welche den Anhang zu der im Jahre 1497 gedruckten
Cirurgia von Hieronymus Brunschwig bildet*), ferner die Schriften
von Joh. Peyligk und Magnus Hundt, „Der Spiegel der Artzny" des
Laurentius Phryesen, „Das Feldtbuch der Wundartzney" des Hans
von Gersdorf, „Die Anatomie" des Gualtherus Hermannus Ryff u. a.
Alle diese medizinischen Inkunabeln, die zum Teil durch beigefügte rohe,
nichts weniger als naturwahre Holzschnitte illustriert, ein mehr anti-
quarisches Interesse bieten, enthalten fast nur mangelhafte und unrichtige
Beschreibungen. Erst die Anatomie des Joh. Dryander, der sich um
die medizinische Philologie große Verdienste erwarb und wie es scheint,
zuerst anatomische Vorlesungen zu Marburg hielt, verdient einige Be-
i Hyrtl, Lehrbuch der Anatomie. 20. Aufl., p. 54.
Felix Plater. 123
aclitung, doch stützt er sich ganz auf Galen und gehört zu den er-
bittertsten Gegnern Vesals *).
Bei dieser Sachlage darf es nicht befremden, daß die Anatomie
des Gehörorgans in Deutschland erst sehr spät zur Entwicklung kam,
zumal die an und für sich schwierige Präparation des Organs eine
bereits ausgebildete Technik erfordert. Zu dieser fehlten aber geeignete
Instrumente, was aus der Tatsache erhellt, daß bis gegen Ende des
16. Jahrhunderts unter den auf den Titelblättern der Anatomien dar-
gestellten Sektionsinstrumenten sich nicht einmal die Pinzette findet**).
Die ersten deutschen Anatomen, welche den Spuren Vesals folgten,
sind Felix Plater, Kaspar Bauhin und Salomon Alberti. Sie
allein kommen für die Geschichte unseres Fachs im 16. Jahrhundert in
Betracht. Ihre anatomischen Entdeckungen können nicht entfernt mit
denen der Italiener verglichen werden, doch müssen wir es dieser ge-
ringen Zahl von Forschern als Verdienst anrechnen, daß sie sich zuerst
bemühten, die Ergebnisse ihrer großen Vorgänger und Zeitgenossen
durch eigene Untersuchungen zu bestätigen oder richtigzustellen. Ihre
Leistungen sollen hier kurz erwähnt werden.
Felix Plater (Platerus, 1536 — 1614), dessen Lebenslauf durch
G. Freitags Auszüge aus den Tagebüchern allgemein bekannt geworden
ist***), gehört zu den interessantesten Gestalten der Geschichte der
Medizin. Für die Anatomie bekundete er schon sehr frühe ein lebhaftes
Interesse, das er während seiner Studienzeit zu Montpellier durch eifrige
Sezierübungen betätigte. Der große Mangel an Sektionsmaterial ver-
anlaßte ihn, unterstützt von Freunden, in finsteren Nächten frische Leichen
aus den Gräbern zu entwenden.
Nach Vesal war es Plater, der in Basel (1557) an mensch-
lichen Leichen Anatomie lehrte. Im ganzen dürfte er während 50 Jahren
fast dreihundertmal Kadaver zergliedert haben. Als Professor in
Basel widmete er sich eifrig der anatomischen Forschung, deren Er-
gebnisse er in dem Hauptwerke: De corporis humani structura et usu
libri III tabulis methodice explicati, iconibusque accurate illustrati,
Basiliae 1583 u. 1603 (mit 50 Kupfertafeln), niederlegte. Die Ab-
bildungen sind zum Teil Vesal und Ivoyter entnommen, zum Teil neu
hinzugefügt, doch ist eine Anzahl von diesen schematisch und, wie die
hier wiedergegebenen zwei Figuren zeigen, auch jeder Realität bar.
Platers Beschreibung des Gehörorgans, welche in dem ge-
::) Haeser, Geschichte der Medizin. !l. Bd., ]>. 23.
**) Hyrtl, I.e. p. 65 meint, Fallopio, Eustachio, vielleicht auch Vesal müßten
sich der Pinzette bedient huben, wenn dieselbe auch erst bei Vidius «largestellt ist.
***) Gr. Freitag, Bilder aus deutscher Vergangenheit. 4. Aufl., Leipzig 1863,
I, S. 262.
124
Felix Plater.
nannten Werke enthalten ist, muß insofern lobend erwähnt werden, als
er im Gegensatz mancher seiner Zeitgenossen die Errungenschaften der
Italiener verwertet hat. Seine Schilderung des knöchernen Gehörgangs
und der Trommelhöhle sowie des Trommelfells enthält nur Bekanntes.
Vom Hammer kennt er zwei Fortsätze1). Genauer als seine Vor-
gänger schildert er die Ligamenta der Gehörknöchelchen, von denen
er das Ligam. process. min. incudis als neu beschreibt2). Die
wirkliche Lage der Gehörknöchelchen scheint er, wie die betreffende
Abbildung zeigt, nicht richtig erfaßt zu haben. Zutreffend ist seine Be-
schreibung der Trennung der knöchernen Ohrtrompete von dem Canalis
pro tensore tympani durch eine dünne Knochenlamelle 3). Durch den
knöchernen Kanal der Ohrtrompete dringe beim Schneuzen Luft in das
Ohr, wodurch Sausen entstehe4). Besser als die beigegebenen Ab-
bildungen vermuten lassen, ist seine Beschreibung der Bogengänge
und der Schnecke. Bei den knöchernen Bogengängen erwähnt er
deren ampulläre Erweiterung5).
Im Gegensatze zu der in mancher Beziehung richtigen Beschreibung
einzelner Teile des Gehörorgans sind die hier reproduzierten schemati-
schen Zeichnungen, welche die Topographie des Hörapparates versinn-
lichen sollen*), primitiv und mangelhaft. Die Texterklärung zeigt die
Irrtümmer der damaligen Vorstellung von den Lageverhältnissen der
einzelnen Teile des Gehörorgans, insbesondere von dem Verlauf der
Nerven und Gefäße im Ohre.
Fig. 5. Auditus organi vasorum, membranarum ossiculorum, foraminurnque delineatio.
aa Aerem admittens meatus, foramen 1 auditus organi (Aeußerer Gehörgang).
A Nervus auditorius quinti paris cerebri, bipartitus ubi foramen 4 auditus organi
subit (Hör- und Gesichtsnerv), ßbb Vena iugularis, cum nervea portione, primam
cavitatem (Trommelhöhle) auditus organi. per illius foramen 2, iuxta b pervadens.
c c Arteria, auditus Organum per illius foramen 3 subiens, et nervus per idem foramen
elapsus. C Eodem, extra auditus Organum per foramen illius 5 procidens. d d Hu-
milior nervi quinti paris portio (Hörnerv), in secundam et tertiam cavitatem (Bogen-
gänge und Schnecke) pertingens. e e Elatior nervi quinti paris portio (Gesichtsnerv)
per canalem anfractuosum (Kanal des N. facialis) ad c usque, ubi elabitur, ductus.
f Tympanum auris primam cavitatem claudens. g Ossicula auditus tria, invicem
iuncta. h Cavitas tertia, seu buccinum auditus organi (Schnecke), i Cavitas secunda,
seu fodina (Vorhof), tribus cuniculis (Bogengänge) excurrens, auditus organi. k 1 Canalis
seu aquaeductus. nervum et arteriam vehens, duobus foraminibus 1 se aperiens.
") Tab. XLIX, Fig. 20.
Kaspar Bauhin. 125
Die an den anatomischen Teil sich anschließenden physiologischen
Bemerkungen entbehren jedes Interesses.
*) Processulos duos habet sede posteriori tenues, acutos quorum elätior liga-
mento inhaeret, hurnilior orbitae merubranae irnrnersus est, 1. c. L. I, p. 33.
'-) Crura duo seu processus mutuos distantes emittit, quorum brevius ac fere
latius, ligamento nectitur orbitae, 1. c. p. 33.
3) Privati Cavitati primae gemini Canales. mutuo accumbentes tenuissima
tantum ossea squama invicem dirempti, 1. c. Lib. I, p. 31 und Lib. III, Tab. 7,
Fig. 4 ; litt, i i.
4) Per hos canales crederem aerem nonnumquam irrumpere, cum impetuosius
nasum emungendo sentimus aurium sibilum. ibid.
5) Cuniculos tres seu Canales, qui ex ipsa amplo initio prodeuntes, an-
gustiores sensim , ut observavi , facti , per ossis substantiam delati et reflexi , rursum
in hanc cameram recurrunt illicque rursum desinunt, 1. c. p. 32.
Kaspar Bauhin (1560—1624), der Nachfolger F. Platers auf
dem Lehrstuhle der Anatomie in Basel, entstammte einer französischen
Familie aus Amiens und zeichnete sich als Arzt, Anatom und Botaniker
aus. Seine anatomischen Kenntnisse erwarb er als Schüler des Fabricius
ab Aquapendente und als Freund und Studiengenosse des Casserio.
Er ist der Entdecker der Blinddarmklappe und der Begründer der noch
gegenwärtig zum Teil gebräuchlichen anatomischen Terminologie.
Sein „Theatrum anatomicum", Francoforti ad Moenum, 1605, ist,
wie Bauhin selbst zugibt, nur ein Auszug aus den Werken der großen
Italiener, illustriert durch verkleineite Abbildungen aus den Anatomien
des Vesal, Eustachio, Fabrizio und Plater1), doch enthält der
Abschnitt über das Gehörorgan manches interessante Detail.
Die Ohrtrompete wird in ihren Einzelheiten ausführlich be-
schrieben; doch nimmt er, wie Koyter, irrtümlich das Vorhandensein
einer Klappe an der Rachenmündung an, „damit dieser Gang nur
nach Bedarf offen sei" 2). „Um dies zu bewirken, ende die Tube
beiderseits dort, wo sich ein ,faucium musculus' befinde; daher werde,
wenn der Schlund während des Schlingaktes erweitert wird, auch die
Tube gleichzeitig geöffnet" 3). Erwähnenswert ist seine Mitteilung, daß
man das Trommelfell bei weitem Gehörgange sowohl bei Sonnenlicht
als auch bei künstlicher Beleuchtung sehen könne4). Die Gehör-
knöchelchen schildert er in der Art seines Vorgängers. Das Linsen-
knöchelchen ist ihm gänzlich unbekannt. Was die Chorda an-
belangt, so stimmt er am meisten der Anschauung des Eustachio bei,
daß diese ein Ast des 4. Nervenpaares sei. Dem Musculus tensor
tympani schreibt er, wie Casserio, zwei feine Sehnen zu, von denen
sich die eine am Hammergriff, die andere am Hammerhalse inseriert5).
Die Bogengänge beschreibt er den Entdeckungen seiner Vorgänger
entsprechend und behauptet, daß sie sich beim Kinde leichter heraus-
\2(\ Salomon Alberti.
präparieren lassen; er findet sie mit einem sehr dünnen und weichen,
membranösen Ueberzuge ausgekleidet6). Bezüglich der Schnecke,
die nach ihm drei bis vier Windungen besitzt, lehnt er sich an die
von Eustachio gegebene unklare Beschreibung des membranösen
Teiles an.
Seine Hörtheorie stützt sich im wesentlichen auf Fabrizio und
Casserio7). Er erkannte den Nutzen der Gestalt und Stellung des
äußeren Ohres für die Schallaufnahme8), meinte, daß das Trommelfell
zum Schutze der dahintergelegenen zarten Teile diene 9), und daß sich
der Schall vom Trommelfell durch die Gehörknöchelchen fortpflanze10).
Der Nutzen der Tuba Eustachii bestehe darin, daß die durch Mund und
Nase eindringenden Schallwellen durch sie in die Trommelhöhle geleitet
werden, von der aus sie durch die Gehörknöchelchen und die Membran
des Schneckenfensters zum Hörnerv gelangen11).
') 1. c. L. III, Tab. 23—26, p. 168—175.
2) 1. c. p. 422 u. 423. De canali, qui ex aure in os fertur. „Dein tunica mucosa
valvulae instar obductus , ne semper hie meatus in ore patente sit orificio , sed pro
necessitate pateat, alias quasi coneidat, ne facile mali vapores ex ore in aures transeant.
3) Ibid. quare dum fauces dilatantur sive aperiuntur ab bis musculis ad de-
glutitionem etiam meatus hie reseratur.
*) 1. c. p. 425. De Membranula Conchae seu tympani. Haec in viventibus
patulas aures habentibus, vel in Sole, vel candela apposita extrinsecus conspici potest.
5) 1. c. p. 437. De Musculis Auris internae. Duos tendines gracillimos producit
et alterum elatiori mallei apophysi, alterum ejus cervici infigit.
6) 1. c. p. 445. De Labyrintho et Cochlea, sive cavitate seeunda et tertia ossis
petrosi. Canaliculi quoque hi in superficie interiore membranula quodam mollissima
ac tenuissima vestiuntur.
7) 1. c. p. 448—454.
s) 1. c. p. 412—419.
9) 1. c. p. 425—428.
10) 1. c. p. 451—454.
") 1. c. p. 422— 425.
Zu den deutschen Aerzten, die sich mit Ohranatomie befaßten, gehört
auch Salomon Alberti (1540 — 1G00) aus Naumburg, Professor zu Witten-
berg, bekannt durch seine Schrift über die Tränenwerkzeuge.
In seiner „Historia plerarumque partium humani corporis, in usum
tyronum edita", Viteberg 1585 etc. (mit 30 Holzschnitten) beschreibt er
in dem das Gehörorgan behandelnden Abschnitte besonders ausführlich
die Schnecke, die er entdeckt zu haben vorgibt. Er kennt den Modiolus
und behauptet, daß der Schneckenkanal mit einem Nerv gefüllt sei.
Auch gab er nach Morgagni1) dem Vestibulum zuerst seinen Namen
und unterschied es, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, als eigenen
Bestandteil des Labyrinths '-').
Unter den holländischen Anatomen verdient noch Petrus Pavus,
Günther von Andernach. 127
Pieter Paaw (Paauw, Pavus, 1564 — 1617) genannt zu werden. Er
war seit 1589 Professor zu Leiden, wo er als Anatom und Chirurg
wirkte. In seinem Werke über Osteologie: Primitiae anatomicae de
humani corporis ossibus, L. B. 1615, beschrieb er auch das Gehörorgan,
doch stützte er sich hierbei vorwiegend auf die Zergliederung von Tieren.
Für seine Angabe, daß der Hammer mit dem stapes artikuliert3), finden
wir keine Erklärung. Pavus scheint das Os lenticulare zuerst beim
Ochsen aufgefunden zu haben1). Die zu seiner Zeit noch wenig be-
kannte Tuba Eustachii ist in dem genannten Werke meistens gut be-
schrieben.
Von den im 16. Jahrhundert erschienenen otologischen Abhandlungen seien
noch erwähnt :
Matthesius, De admirabili auditus instrumenti fabrica. Vitteberg 1577.
Werner, Johannes, Disputatio de visionis et auditus doctrina. Helmstad 1590-
Havenreuter, J. Ludovicus, De sensibus. Argentorati 1593.
Goclenius, Rud., De sensu et sensibus. Francofurt 1596.
Poll, Michael, De auditu. Francof. ad Viadr. 1600.
*) Morgagni, Ep. anat. XII, Cap. 2.
2) Histor. pler. c. h. part.
s) De hum. corp. Ossib. Part. I, Cap. 8.
4) Nach Wildberg, vide Lincke, Handb. d. Ohrenheilkunde, I. Bd. p. 127.
e) Stand der Ohranatomie in Frankreich im 16. Jahrhundert.
In Frankreich, wo die Schulen von Montpellier und Paris noch
spät bis in das 16. Jahrhundert hinein den Lehren Galen s anhingen,
währte es lange, bis die Anatomie zur Blüte kam. Von den großen
Errungenschaften Vesals und seiner italienischen Zeitgenossen wurde
in Frankreich gar nicht oder in polemischer Weise Kenntnis genommen.
Eigene Entdeckungen in der Otologie von größerer Bedeutung sind in
diesem Jahrhundert von den französischen Anatomen nicht zu verzeichnen.
Die hervorragendsten Professoren in Montpellier und Paris, Günther
von Andernach und Jacobus Sylvius, beide Lehrer des jugend-
lichen Vesal, waren zur Zeit, als dieser in Frankreich studierte, strenge
Galenisten und wandten erst später, nach dem Bekanntwerden des Werkes
Vesals, ihre Aufmerksamkeit den epochalen anatomischen Entdeckungen
der Italiener zu.
Günther von Andernach. Dies gilt insbesondere von Joh. (i ü nther
von Andernach (1487—1574), der sich schon in jungen Jahren des
Rufes eines ausgezeichneten Philologen erfreute. Als Professor der
griechischen Sprache in Löwen und später als Professor der Anatomie
an der Universität in Paris zählte Vesal vorübergehend zu seinen
Schülern. Noch Anhänger Galens, hat er in seinem ausführlichen Werke
Charles Estienne.
„Joannis Guintherii Andernaci medici clarissimi, de medicina veteri et
nova tum cognoscenda, tum faciunda Commentarii duo; Basileae 1571",
dem wir unsere folgenden, die Otologie betreffenden Notizen entnehmen,
die Entdeckungen der neueren Zeit nicht ganz außer acht gelassen. So
erwähnt er das Trommelfell und beschreibt die drei Gehörknöchelchen,
die ihm durch die Publikationen Vesals und der Italiener bekannt
wurden 11. Hingegen ist seine Beschreibung der Trommelhöhle und des
Labyrinthes, die durch die italienischen Anatomen bereits eine große
Förderung erfahren hatte, sehr mangelhaft.
Auch Günthers Besprechung der Ohrenkrankheiten 2) läßt deutlich
den Anhänger der alten Richtung, insbesondere der hippokratischen
und galenischen Schule erkennen, insofern er das alte abgebrauchte
System der Einteilung in Dolor, Surditas, Sonitus beibehält. Nur einige
an sich unbedeutende Bemerkungen, die vielleicht einigen Anspruch auf
Selbständigkeit erheben dürften und die Methode Günthers charakteri-
sieren, seienx hier kurz angeführt. Bei Feststellung der Krankheits-
ursachen, welche subjektive Geräusche hervorrufen, berücksichtigt er
Temperatur, Habitus und frühere Lebensweise des Patienten, stellt ferner
fest, ob die Geräusche dauernd oder in Intervallen auftreten. Sind sie
dauernd, so werden blähende oder unverdauliche Speisen, ein angefüllter
(a corpore repleto) oder ein leerer (aut exinanito) Körper, allzu große
Hitze oder Kälte, als ursächliche Momente hervorgehoben. Treten sie
in Intervallen auf, so sind dicke schleimige Flüssigkeiten und ähnliches
mehr die Ursache. Angeborene Schwerhörigkeit bringt er unter anderem
auch mit einem fehlerhaften Bau des Gehörorgans in Zusammenhang 3)
und hält sie für unheilbar.
*) 1. c. Coinm. I, Dialog. IV, p. 93 u. 94.
2) 1. c. Conim. I. Dialog. VIII, p. 620—624.
3) A structurae vitio, quo aut figura adest depravata aut instrumentum aliquod
deest, 1. c. p. 623.
Zu den verdienstvollsten Männern der französischen Schule dieser
Epoche zählen Charles Estienne, Guido Guidi und Laurent. Für
die Otologie haben alle diese Namen keine hohe Bedeutung und an
keinen knüpft sich irgend eine Avertvollere Entdeckung, Guidi aus-
genommen, der als erster den nach ihm benannten Vidianischeii Nerven
genauer beschrieb. Die beiden anderen stehen hinter ihren Zeitgenossen
und Vorgängern sogar weit zurück.
Charles Estienne (Stephanus), gegen 1503 in Paris geboren,
stammte aus der berühmten und gelehrten Buchdruckerfamilie Estienne
und entwickelte frühzeitig eine vielseitige wissenschaftliche Tätigkeit,
durch die er sich große Anerkennung im Gelehrtenkreise erwarb, während
er gleichzeitig durch die Verfolgung seiner dem Protestantismus an-
Charles Estienne. 129
hängenden Familie vielfache Kränkungen erlitt. Er erreichte ein Alter
von 60 Jahren.
Seine „De Dissectione partium corporis humani libri tres. etc.",
Parisiis 1545, mit zahlreichen großen Holzschnitten ausgestattet, galt
in Frankreich lange als das beste anatomische Werk. In seiner Dar-
stellung ein Anhänger Galen s, zeigt er doch in vielem, besonders in
der Schilderung der Bänder des menschlichen Körpers, eine auch von
späteren Anatomen anerkannte Selbständigkeit. Die Aehnlichkeit mehrerer
Abbildungen seines Werkes mit denen in der „Fabrica" Vesals ver-
leitete neuere Historiker zu der Annahme, Vesal hätte Abbildungen
des Estienne kopiert. Diese Annahme entbehrt jeder Begründung. Ob
umgekehrt Estienne die „Fabrica" für die bildliche Ausstattung seines
Werkes benützt hat, muß dahingestellt bleiben; textlich scheint dies nicht
der Fall zu sein , da die anatomische Schilderung des Gehörorgans von
Estienne von den zeitgenössischen Entdeckungen der Italiener nicht
einmal die 30 Jahre früher publizierte Schilderung des Trommelfells und
der Gehörknöchelchen in der „Isagoga" des Berengario da Carpi
enthält.
So wertvolle Details sein anatomisches Werk im allgemeinen auch
besitzt, teilt es bezüglich der Ohranatomie doch noch vollständig die An-
schauung alter und mittelalterlicher Autoren, indem es über das Gehör-
organ bloß sagt, daß der Gehörgang anfangs gerade, dann gewunden
verlaufe und sich gegen das Gehirn zu mit mehreren Löchern öffne,
durch welche der Schall eindringe *).
*) Ultra praedictum sinum, forainen auris apparet, quocl primo rectum et
simplex, procedendo flexuosum est, deinde vero iuxta cerebrum in multa alia tenuia
foramina diducitur, per quae facultas audiendi nobis est. 1. c. Lib. I, p. 19.
Vidus Vidius (Guido Guidi), ein Florentiner, ging im Jahre 1542
als Professor der Anatomie nach Paris, wo er unter großem Beifall lehrte.
Dort verblieb er 6 Jahre, worauf ihn Herzog Cosmo I. von Toscana
zurückberief und zum Professor der Philosophie und Medizin in Pisa er-
nannte,.. Sein anatomisches Werk erschien erst im Jahre 1611, lange
nach seinem Tode (1569), von seinem Neffen Julian Guidi heraus-
gegeben, und enthält auch die Ergebnisse späterer Zeit: De anatomia
corporis humani libri VII, tabulis LXXVII in aere incisis strata; Venetiis
Hill (Frankf. 1611, 1626*), 1645, 1677). An vielen Stellen sowie in
der ganzen Anordnung erscheint dieses Werk mit seinen vielfach mangel-
haften Tafeln als eine Kopie des Vesaischen Buches. Originelles findet
sich darin nur wenig. Doch gebührt Vidius das Verdienst, den gemein-
*) Diese Ausgabe wurde als Quelle benutzt.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I.
J30 Vidus Vidius.
schaftlichen Stamm des Vidianischen und des Gaumennerv zuerst genau
beschrieben zu haben.
Die Beschreibung des Gehörorgans findet sich an zwei verschiedenen
Stellen des Werkes, und zwar im 2. und 7. Buche.
Im 2. Buche1), das die gesamte Osteologie des Menschen enthält,
bespricht er unter Hinweis auf die Arbeiten Vesals und des be-
deutendsten Anatomen Spaniens, Juan Valverde de Amusco, der
bekanntlich die Vesaischen Lehren in seinem Vaterlande verbreitete,
die Struktur des Schläfebeins. Eine kurze Skizze dieser Beschreibung
gestattet einen Einblick in die gehöranatomischen Kenntnisse des Vidius.
Vom Proc. mastoid. weiß er, daß er im kindlichen Alter solid, beim
Erwachsenen jedoch hohl sei. Am Schläfebein werden vier „foramina" der
früheren Anatomen und ein fünftes von ihm aufgefundenes geschildert.
Seine Darstellung dieser „foramina" ist nicht klar genug, da er jeder
Namensbezeichnung aus dem Wege geht. Als erstes „foramen" be-
schreibt er den Meatus auditor. ext., als zweites das Foram. stylomastoid.,
von dem er sagt, daß es viele für blind endigend gehalten haben, weil
der Kanal, in den es führe, so gewunden sei, daß man schwer eine Borste
durchstecken könne. Vidius jedoch sah, daß die Borste aus dem Meatus
auditor. int. herauskomme und weiß auch , daß durch diesen Kanal die
Portio dura (N. facialis) des 5. Hirnnerv (N. acusticus) verläuft. Ob
er diese Entdeckung unabhängig von Falloppio gemacht hat, läßt sich
schwer feststellen. Tatsache ist, daß er an anderen Stellen das Werk
des Falloppio zitiert. Welches die anderen beiden „foramina" sind,
läßt sich bei der Unklarheit des Textes nicht entscheiden, zumal auch
die entsprechenden Abbildungen 2) nicht zur Aufklärung beitragen. Das
fünfte, von ihm selbst mitgeteilte „foramen" ist das For. mastoid., das
neben der Lambdanaht in der Nähe des Proc. mast. liegt und einem
Emissarium zum Eintritt in den Sinus diene 3). Außer diesen fünf großen
„foramina" gebe es noch andere kleine Löcher (parvula alia), gleichsam
Spalten (rimae), in die eine eingeführte Borste nicht allzu tief ein-
zudringen vermag.
Die bereits von Falloppio konstatierte Tatsache, daß bei Kindern
an Stelle des Meatus auditorius externus ein ringförmiges Knöchelchen
(Annulus tymp.) sich findet, welches sich leicht durch Kochen isolieren
lasse und erst später mit den übrigen Teilen des Schläfebeins verwachse,
wird von Guidi eingehend erörtert, ohne daß er Falloppio nennt4). Die
Trommelhöhle und das Labyrinth werden als vier „sinus" beschrieben.
In dem ersten der vier „sinus", der Trommelhöhle, die er nur als
Sinus bezeichnet, kennt er das runde und ovale Fenster, die drei Gehör-
knöchelchen und die Chorda. Beim Stapes bemerkt er, daß dieser mit
seiner Basis das nicht immer offen stehende ovale Fenster verschließe 5).
Viel us Vidius.
131
Der letzte Passus kommt auch für seine Hörtheorie in Betracht. Er sao-t
die Gehörknöchelchen seien durch Häutchen miteinander verbunden
(Membranulis alligantur) und die artikulierenden Flächen mit Gelenks-
knorpel bedeckt. Die Nervenstruktur der Chorda, die nach seiner
Beschreibung den Stapes mit dem zweiten Fortsatz des Incus verbindet
erkennt er nicht an und läßt es dahingestellt, ob sie ein kleiner Nerv
oder eine kleine Arterie sei6). Als zweiten „sinus" schildert er den
Vorhof und die Bogengänge, ohne auch diese mit einem eigenen Namen
zu bezeichnen, und als dritten die Schnecke. Erwähnenswert ist
seine Angabe, daß man im zweiten und dritten „sinus8 drei bis vier
kleine Löchelchen finde, durch die haardünne Aeste der weichen Portion
des 5. Hirnnerven (N. acust.) zu der weichen und dünnen Membran o-ehen,
welche diese beiden „sinus" innen auskleidet7). Als vierten „sinus"
endlich beschreibt er den inneren Gehörgang mit den kleinen dort sicht-
baren Löchelchen8).
Im 7. Buche9) fügt er dem bereits Mitgeteilten einige neue Be-
merkungen hinzu. So erwähnt er, daß der Canalis facialis kleine Löcher
besitze, durch die Gefäße und Aeste des Facialis austreten. Ferner hält
er die Membranen, die das runde und ovale Fenster verschließen, für
Derivate des Periosts der Trommelhöhle10). Die inneren Ohrmuskel
übersieht er gänzlich.
Recht kurz und bündig äußert er sich über die Hörtheorie X1).
Es sei nicht genügend festgestellt, inwieweit die einzelnen Teile des
Gehörorganes zum Hören beitragen. Durch den Schall würden die Gehör-
knöchelchen in Bewegung gesetzt und das ovale Fenster auf diese Weise
geöffnet, so daß durch dieses und das runde der Schall in die anderen
„sinus", welche „membranula ex nervulo quinti pari dilato" ausgekleidet
seien, eindringen könne. Dort sei nämlich der Sitz der vom Gehirn ver-
liehenen Hörfähigkeit. Daneben erklärt er an anderer Stelle12) die Luft,
welche „in intimo foramine auris residet", als das „praeeipuum instru-
mentum auditus".
Zu erwähnen wäre noch einiges, was von Vidius über Ohr-
pathologie mitgeteilt wird. Bei Kongestionen des Blutes nach dem
Ohre läßt er Blutegel in der Nase ansetzen. Schwerhörigkeit und
Taubheit will er durch laute Geräusche günstig beeinflussen. End-
lich empfiehlt er, das Ohr nicht zu verstopfen, damit einerseits der
Schall ungehindert einfallen und anderseits das Cerumen abfließen
könne 13).
>) Cap. 2, p. 24 u. 25.
2) 1. c. L. II, Tab. V, Fig. 1—6 (A, B, C, D), p. 29.
3) His quatuor adde quintum, quod ab externa parte calvariae deprehenditur
iuxta suturam lambdoidem ad originem processus mastoidis: interdum non in solo
132 Di Laurent.
osse temporum, sed partim etiam in occipitia insculpitur; exit per hoc vena, quae
a fönte sanguinis durae membranae cerebri fertur ad occipitium, 1. c.
4) . . . initio foraminis os parvum annuli modo figuratum deprehenditur in-
fantibus, praesertim ubi coquatur, separatum a reliquo osse, cum quo aetatis pro-
gressu coalescit, 1. c.
5) ... et sua basi ovatum foramen quod diximus claudit; neque enim semper
patet, 1. c.
6) Discurrit et per bunc primum sinum chorda tenuisshna , qua stapes cum
altero crure incudis coniungitur: videtur autem aut nervulus, aut parva arteria, 1. c.
7) Deprehenduntur tarnen tria, aut quatuor minima foramina in secundo, ac
tertio sinu, per quae ramuli mollis nervi quinti paris capillorum modo tenues ad
membranulam feruntur, mollem, ac tenuem. quae eosdem sinus internos ambit, 1. c.
8) Mollis, qui praebet audiendi facultatem per minima foramina in hoc sinus
vix conspicua, distribuitur in reliquos sinus iam dictos, ac membranam ipsos circum-
dantem, 1. c.
9) 1. c. Cap. V, p. 303 u. 304.
10) Unum ovatam figuram habens situm est ad superiorem, ac mediam partem
sinus ; tenuissimaque membrana clauditur ambiente Universum sinum, clauditur
autem a basi stapedis. Alteram versus posteriorem atque inferiorem partem est
rotundum. atque eadem membrana obductum, per quod patet auditus per unam
viam in secundum sinum, per alteram in tertium, 1. c.
n) ... illud tarnen in aperto est, quod ubi agitetur membrana, agitatur etiam
malleus per manubriolum membranae illigatum ; et propterea incus, et stapes, et ita
aperitur ovatum foramen, adeo ut sonus per hoc, et per alterum rotundum penetrare
ad alios sinus possit obductos membranula ex nervulo quinti pari dilata, ubi domi-
cilium est facultatis audiendi a cerebro transmissae. Sed haec coniectura magis
quam scientia comprehenduntur.
12) 1. c. p. 303.
13) Artis medicinalis Tom. V, Francof. 1595. Lib. IV, Cap. 10—12, p. 168—177.
Lib. VI, Cap. 5, p. 274—275.
Du Laurent. Zu den in dieser Epoche wirkenden französischen
Anatomen zählt Andreas Laurentius (f 1609), Kanzler der Universität
Montpellier, später Dekan der Pariser Fakultät und Leibarzt am franzö-
sischen Hofe. In seiner „Historia anatomica" v) bezeichnet Du Laurent
als äußeres Ohr bloß die knorpelige Ohrmuschel, die nicht nur zum
Schmuck , sondern auch zur Schallaufnahme dient 2). Geht sie aus
irgend einem Anlasse verloren, so vernimmt man Schall und Stimme
nur wie das Rauschen des Wassers oder das Zirpen der Zikade3). Die
Beweglichkeit der Ohrmuschel bei manchen Menschen schreibt er der
Wirkung besonderer Muskeln zu 4). Das Ohrenschmalz habe die Auf-
gabe , kleine Tierchen , die etwa versuchen ins Ohr einzudringen , fest-
zuhalten.
Das innere Ohr, zu dem Du Laurent auch den äußeren Gehör-
gang und das Trommelfell rechnet, wird von vier Gängen (meatus,
cavitas) gebildet. Den ersten Gehörgang, der durch das Trommelfell
nach innen zu seinen Abschluß findet, beschreibt er als gewunden, schief,
Du Laurent. 133
rund und eng („tortuosus est, obliquus, rotundus, angustus"); das
Trommelfell dagegen als zart , dicht , trocken , durchsichtig und sehr
empfindlich. („Tenuis est, densa, sicca, pellucida et exquisitissimi sehsus.")
Des Schutzes wegen ist es schief gestellt. Es entstammt weder der Pia
mater, noch dem 5. Gehirnnerv, sondern der harten Hirnhaut5). Ge-
staltet es sich bei der Bildung zu dick und zu dicht, so bewirkt es
unheilbare Taubheit, während es von Flüssigkeit (Eiter) triefend, Schwer-
hörigkeit erzeugt6). Der zweite Gang, der sich an das Trommelfell
anschließt (Trommelhöhle), von Aristoteles „Cochlea", von anderen
„pelvis" genannt, enthält neben Luft (aer vernaculus) die Gehör-
knöchelchen, von denen Du Laurent bemerkt, daß sie sonderbarer-
weise beim Knaben ebenso groß sind wie beim Greise („et, quod mirum
est, eorum in puerulo eadem est quae in sene magnitudo"). Von der
Chorda meint D u L a u r e n t , sie sei so klein , daß man nicht ent-
scheiden könne, ob sie Nerv, Vene oder Arterie sei. („Tarn exilis est
cliorda, ut quid sit, nervus an vena, an arteria dubitetur.") Auch das
Vorhandensein von Muskeln, die ihrer Kleinheit Avegen sich fast der
Beobachtung entziehen, wird erwähnt. Du Laurent wendet sich gegen
die Ansicht des Arantius, daß nur der Hammer sich bewege. Er weiß,
daß die Knöchelchen, die Chorda und die ausnehmend kleinen Muskeln
nur Organe der Fortleitung sind 7). Denn nicht durch die Bewegung
und das Zusammenschlagen der Knöchelchen werden Töne ausgelöst.
( ..Errant autem qui ossicula ita moveri putant, ut invicem percussa stre-
pitum edant.") Noch findet man im zweiten Gange einen knorpeligen
Kanal, der zum Gaumen hinführt (Tuba Eustachii), und zwei Fensterchen,
von denen das untere, wie Du Laurent bemerkt, keinen Namen besitzt.
Es folgt der dritte Gang, das Labyrinth, so geheißen, weil es von
vielen verborgenen Gängchen und Kämmerchen gebildet wird. („Tertia
sequitur cavitas, quam labyrinthum vocant, quod multis quasi cuniculis
et conclavibus furtim agatur. ") Der Zweck dieser Windungen ist es, die
Töne durch die Verengungen zu verschärfen und ihre Zerstreuung zu
verhindern. („Horum anfractuum hunc usum agnoscimus, ut sonws per
angusta transiens loca acutior fiat, nee dissipetur. ") Der vierte Gang,
von Falloppio „Cochlea" genannt, beherbergt den Hörnerv, der vom
."). Hirnnerv seinen Ausgang nimmt und die Töne zum Gehirne (ad
sensum communem) leitet.
Was die Physiologie des Gehörorgans betrifft8), so gibt Laurent
über das Hören folgende Erklärung: Die Luftwelle, von Avicenna
„Klangwelle" (unda vocalis) genannt, pflanzt sich bis zum Ohre fort
gleich Kreisen im Wasser. Sie dringt in den ersten (äußeren) Gehör-
gang ein und bewegt das Trommelfell. Die Bewegung setzt sich ver-
mittels der Gehörknöchelchen und der inneren Luft (..vernaculus aer et
134 ^u Laurent.
congenitus"), sowie durch die Fenster in die gewundenen Gänge und
das Labyrinth fort und gelangt schließlich in die Schnecke. Von hier
leitet der Hörnerv die Töne im Gehirn weiter.
Aristoteles hatte behauptet, das erste und wichtigste Organ des
Gehörsinns sei die im Ohr befindliche Luft. Laurent zieht diese Be-
hauptung in den Kreis seiner Betrachtungen und leugnet die dem aer
ingenitus zugeschriebene Bedeutung. Die innere Luft sei nur das
innere Medium, das wichtigste Instrument des Gehörorgans aber sei der
5. Hirnnerv.
Du Laurent untersucht ferner die merkwürdigen Beziehungen
zwischen dem Ohr auf der einen , Gaumen , Zunge und Larynx auf der
anderen Seite. Er gelangt hierbei trotz der Richtigkeit der angegebenen
Symptome zu durchwegs falschen Erklärungen. Wenn wir gespannt
zuhören, halten wir den Atem an; wenn wir gähnen, hören wir
schlecht*); reizt man mit einem Messer das Trommelfell**), so entsteht
sofort ein trockener Husten; Schwerhörige sprechen mühsam und durch
die Nase; Taubgeborene sind auch stumm. Faßt man mit Mund und
Zähnen eine Zither und verschließt beide Ohren , so hört man besser.
Für dies alles lassen sich zwei Gründe anführen. Der 5. Hirnnerv gibt
einen größeren Ast für das Ohr, einen kleineren für Zunge und Larynx
ab; daher verbinden sich Störungen des Gehörs leicht mit denen der Zunge.
Jene volkstümliche Ansicht, Taube seien auch stumm, weil sie die Sprache
nicht lernen könnten, hält er für falsch. Denn warum atmen und
seufzen die Tauben auch schwer? Und würden sie nicht selbst Worte
und Sprache erfinden, um ihre Gefühle und Empfindungen auszudrücken,
wofern sie nur Worte hervorbringen könnten? — Der zweite Grund dieser
Zusammenhänge liegt im Ductus cartilagineus (Tuba Eustachii). Wenn
man den Atem anhält, um gut zu hören, so geschieht dies, damit der
zweite Gehörgang (Trommelhöhle) nicht mit Luft gefüllt und das Trommel-
fell dadurch gespannt werde. Beim Gähnen wird es so gespannt und auf-
gebläht, daß wir Töne nicht aufnehmen können. Schließlich erregt man
durch Druck auf das Trommelfell Speichelabsonderung und Husten, weil
durch den Druck das Ohrenschmalz (sordes) durch die Ohrtrompete zur
Zunge gelangt!
Die vorhergehende Schilderung des Standes der Otologie in Frank-
reich im 16. Jahrhundert zeigt, daß die Leistungen der französischen
Anatomen in diesem Zeiträume für die Entwicklung der Ohrenheilkunde
fast ohne jegliche Bedeutung sind. Erst im 17. Jahrhundert geht die
Führerschaft auf diesem Wissensgebiete auf die Franzosen über.
) Wurde bereits von Aristoteles beobachtet. Problem. Sekt. XI. 29 u. 44.
**) Nicht durch Reizung des Trommelfells sondern der Gehörgangswände wird
Husten ausgelöst.
Paracelsus. 135
') Historia anatomica humani corporis et singularum eius partium. Francoforti
ad Moenura 1600. Lib. XI, Cap. 12 u. 13.
2) S. 426 — 427 : „Non sunt ad ornatum tantura . ut existimarunt quidam . con-
structae auriculae, sed ut irruentis aeris sonurn excipiant; et si forte audiendi meatum
praeterfugerit aer, a posteriore parte repulsus, antrorsum versus cavitatem ingrediatur/
3) S. 427: „Quibus ex vulnere aut alia quauis de caussa praecisae sunt aures,
ii sonos et articulatas voces fluitantis aquae aut resonantis cicadae in modum ex-
audiunt."
4) S. 427: „Aures uni homini fere semper immobiles sunt: si quando tarnen
eas moveri contingat, ut in quibusdam obseruavi, exiguorum musculorum opera id
fieri existimandum."
5) S. 427: „Ortum ducit non a pia meninge, nee a neruo quintae conjugationis
dilatato , ut voluerunt quidam , sed a portiuneula durae meningis , cuius naturam
omnino refert."
6) S. 427: ,Hoc in loco dignum est obseruatione, membranam hanc a prima
conformatione crassiorem et densiorem surditatis insanabilis caussam esse. Quod si
aliquando humoris influxu madeat, gravem et difficilem auditum parit."
7) S. 428: „Haec igitur pulsationis sunt Organa, ossieula tria, eborda etmusculi."
8) 1. c. Lib. XI, Controversiae anatomieae questiones, IX, X, XI.
f) Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen
im 16. Jahrhundert.
Der wissenschaftliche Fortschritt in der Erkenntnis und Behandlung
der Ohrenkrankheiten im 16. Jahrhundert stand in keinem Verhältnisse
zu dem durch die großen anatomischen Entdeckungen hervorgerufenen
Umschwung in der Methode wissenschaftlicher Forschung. Als hauptsäch-
liches Hindernis des Fortschrittes der Ohrpathologie ist in erster Reihe
der gänzliche Mangel einer pathologischen Anatomie des Gehör-
organs anzusehen. Die frühen Ansätze zu dieser finden wir erst im fol-
genden Jahrhundert. Auch hatten die durch die Reformation hervorge-
rufenen Wirren und die verheerenden Epidemien in Europa das Interesse
von dem weniger wichtig scheinenden Spezialfache vollständig abgelenkt,
und man sucht in den Schriften dieser Periode vergeblich nach einer eine
Reform der Ohrpathologie anbahnenden Idee. Obwohl nun unter den
hervorragenden Aerzten dieser Zeit manche noch der arabistischen Doktrin-
medizin anhängen, während andere sich in unnützen Spekulationen ergehen
oder noch dem krassen Mystizismus und Aberglauben huldigen, zeigt sich
doch schon bei vielen eine Rückkehr zu den lange vernachlässigten Lehren
der Hippokratiker. Indem man wieder anfing, sich der auf die Beobachtung
der Krankheitserscheinungen basierenden ärztlichen Kunst zuzuwenden,
wurde ein Fortschritt in der Otologie angebahnt, der allerdings erst in
den folgenden Jahrhunderten zu Tage tritt. Bemerkenswert bleibt es
immerhin, daß die Begründer der Ohranatomie: Vesal, Falloppio, In-
grassia, Eustachio, die sich eines hohen Rufes als Aerzte und Chi-
13(3 Paracelsus.
rurgen ihrer Zeit erfreuten, fast nichts für die Reformierung der Patho-
logie des Ohres geleistet haben.
Die große Mehrzahl der in dieser Periode erschienenen medizinischen
Werke enthalten fast ausnahmslos einen Abschnitt über Ohrerkrankungen
und deren Behandlung. Doch ergibt eine Durchsicht dieser Werke fast
nie eine selbständige Bearbeitung des Gegenstandes, sondern meist Wie-
derholungen früherer Autoren. Nur hie und da finden wir eine von den
älteren Aerzten abweichende, originellere Auffassung der Ohrpathologie
oder einen interessanten Krankheitsfall oder endlich einen praktischen
Eingriff, der verzeichnet zu werden verdient. Ich werde mich daher im
folgenden nur auf eine kurze Schilderung der ohrenärztlichen Literatur
dieser Periode beschränken, ohne auf die einzelnen, meist wertlosen
Schriften näher einzugehen. In der folgenden Darstellung wurde mehr
auf die geschichtliche Bedeutung der Autoren als auf die chronologische
Reihenfolge Rücksicht genommen.
Paracelsus. Zu jenen Männern, die sich in ihren Anschauungen
von der mittelalterlichen Tradition lossagten, und die Pathologie nach
eigenartigen — allerdings vielfach mystisch beeinflußten - — Ideen zu
reformieren bestrebt waren, zählt Aureolus Philippus Theophrastus
Paracelsus (1491 — 1541) Bombast ab Hohenheim, eine der meistge-
nannten und doch dunkelsten Persönlichkeiten seiner Zeit. In seinen
zahlreichen, nur zum Teile von ihm selbst verfaßten Schriften sind der
Behandlung der Ohrkrankheiten an verschiedenen Stellen kurze Abschnitte
gewidmet. Ein Verächter der arabischen und Galenischen Medizin, ver-
wirft er die von ihnen empfohlenen, reizenden Einspritzungen bei Ohr-
entzündungen (Recepta universa, quae infusiones in aures suadent, im-
proba sunt et falsa*). Indes ist die von Paracelsus vorgeschlagene Be-
handlung der Otitis kompliziert genug und seine Verordnungen entbehren,
wie die folgenden Rezepte zeigen, keineswegs stark reizende Ingredienzien.
Als besonders wirksam preist er die Solutionen der Tutia (Nihil enim in
aures infundi debet, nisi Receptum sit ex Tutiä). Die von Paracelsus
empfohlenen Rezepte lauten:
%. Tutiae praeparatae sine aceto o ß. Carabae ^j. Reduc in liquorem. Deinde
buius liquori8 5 vij ß. Alcohol vini exiccati 3 ij. Reduc per maris praeparationem.
Fiat Sief. Hoc debet in moduni Emplastri imponi.
H-. Seminis Jusquiami papaveris, lolij. nigellae an. 3ß. Fellia tauri §ß. cam-
phonie liquefacta ad pondus omnium. Reduc in siccum Sief. — Id. p. 510 a.
*) Die von mir benützte Ausgabe ist: Aur. Philipp. Theoph. Paracelsi
Bombast ab Hohenheim opera omnia medico-chemico-chirurgica tribus voluminibus
comprehensa. Genevae 1658. — Vol. I. Paragraphorurn Liber XIII et XIV. De
doloribus Aurium et oculorum, p. 509 b.
Paracelsus. 137
An anderer Stelle bezeichnet Paracelsus die von den Alten an-
gewendete Therapie der Ohraffektionen als vollkommen unnütz (Prae-
terea nulla cura a veteribus in dolore aurium tradita utilis est, sed sunt
omnes erroneae), ohne dabei eine bessere an deren Stelle zu setzen. Sein
Skeptizismus gegenüber der Behandlung von Ohrenleiden charakterisiert
sich auch durch folgenden Satz: si surditas adfuerit, frustra est omnis
cura. Nam quod natura semel adimit, reparare medicus nullo pacto
potest*). Ebenso hält er die Verwundung des Ohres für unheilbar**),
berichtet jedoch über einen Fall***) von Heilung der Schwerhörigkeit nach
Verlust der Ohrmuschel. Subjektive Geräuschef) werden nach
Paracelsus durch heftige Geräusche (fragor tormentorum, campanarum
sonitus, molendinorum tumultus) hervorgerufen. Als Heilmittel empfiehlt
er wiederholte Skarifikation der Ohrmuschel, Cucurbitula hinter dem Ohre,
und endlich Venaesektion unter der Zunge.
Für das Entstehen von Würmern macht er ein Sperma, Fäulnis
und Hitze im Ohre verantwortlich und schreibt vor, jede Wurmart durch
ein anderes spezifisches Mittel zu töten. So empfiehlt er Agaricus, Kaute,
Engelwurzel, Johanniskraut, Koloquinthen, Mehl von einer faulen Tanne
und weißen Vitriol ff).
J. Fernelius. Als einer der ältesten, jedoch nicht als bedeutendster
in dieser Reihe ist Johannes Fernelius (1497 — 1558) zu nennen, der
in seiner „Universa Medicina" (I. ed. Venetiis 1564) die „Aurium morbi
et symptomata, horumque causae et signa" behandelt, aus denen hier die
markantesten Stellen hervorgehoben werden sollen ff f).
Wenn Fernelius Ohren schmerz, subjektive Geräusche
und Schwerhörigkeit denselben Ursachen entspringen läßt (Jam vero
dolor, tinnitus, auditusque gravis, et omnia audiendi symptomata, ex iis-
) Ibid. Scholia in Libros paragr. p. 549 a.
**) Id. vol. III. Chirurgia Magna, Tract. I, Cap. 3. p. 3b.
) Ibid. Cap. 16. Surditas a vulnere curata. p. IIb und Chirurgia vulnerum.
Cap. 16. Surditas illuvione vulneris curata. p. 83 b.
f) Ibid. Aurium Tinnitus. Chir. Mag. Tract. III, Cap. 15, p. 37a.
i'f) Weitere bedeutungslose Bemerkungen über das Gehörorgan finden sich in
dem umfangreichen Werke des Paracelsus an folgenden Stellen:
Vol. I. De caduco Matricis Paragr. VI. Surditas ex caduco. p. 687 b. Modus
pharmacandi. Tract. I.
Vol. II. Archidoxis über I. De Prologo et Microcosmo. Surdi cur fiant. p. II».
Lib. nonus de signatura rerum natura. Aures magnae, quid; depressae, quid.
p. 109 a.
Vergl. ferner: Schriften des Paracelsus, herausg. v. Job. Huser, Straßburg
1618. Vol. I, p. 192, 455 u. 536, Ohrenheilk. von Lincke, Bd. II, p. 28 und Sudhof,
Paracelsus, 1905.
fff) Trajecti ad Rhenum 1556, Pathologiae Lib. V, Cap. 6, p. 93.
138 Johannes Fernelius.
dem saepe causis procedunt), so bedeutet das sicherlich einen Fortschritt
gegenüber der Anschauung vieler seiner Vorgänger, welche diese Einzel-
symptome als ebensoviele Krankheitsbilder behandelten. Die subjek-
tiven Ohrgeräusche, die durch Bewegung und Erregung von Stoffen
im inneren Ohre entstehen (ex motu et agitatione eorum nascitur quae
intimam aurem occupant), unterscheidet Fernelius in Sibilus, Tinnitus,
Sonitus, Strepitus und Fluctuatio. — Sibilus (Sausen) entstehe infolge
eines schwachen Hauches, der spärlich entweicht (ex flatu tenui exiliter
elabente), tinnitus (Klingen) infolge unterbrochenen Ausströmens jenes
Hauches (ex illius cursu interrupto) , sonitus (Brausen) infolge einer
dichteren Luft, die voller herausströmt (ex crassiore plenius erumpente),
strepitus (Rasseln) infolge heftigen Antriebes (ex valido impulsu)
und endlich die fluctuatio durch Hin- und Herwogen von Flüssig-
keit (ex humoris jactatione). Seine Therapie der Ohraffektionen, ebenso
kompliziert wie die der Vorgänger, bietet nichts Erwähnenswertes.
Rondeletti, Lehrer Vesals und Professor an der Universität Montpellier,
bringt in seinem vorzugsweise der Therapie der Krankheiten gewidmeten Werke*)
nur eine Anzahl komplizierter Rezepte gegen Ohrschmerz (p. 293). gegen Ohrgeräusche
(p. 297) und gegen Schwerhörigkeit (p. 298). Seine Mitteilungen unterscheiden sich
nur wenig von dem unwissenschaftlichen Wust, dem wir so oft bei den Autoren des
Mittelalters begegnen.
Hier wäre noch der früher (S. 76) als Anatom angeführte Alessandro Bene-
detti (f 1525) zu erwähnen, der in seinem pathologisch-therapeutischen Werke**)
sich dahin ausspricht, daß die klinischen und pathologisch-anatomischen Beobachtungen
die einzige Grundlage eines Fortschrittes der medizinischen Wissenschaften bilden
müssen. Trotzdem ist in seiner Ohrpathologie kaum eine Spur dieses Ideenganges
zu entdecken. Seine Therapie gefällt sich vielmehr in der Anpreisung der phan-
tastischsten Mittel, z. B. Sperma eines Ebers oder eine Mischung von Mäusekot und
Honig gegen Ohrenschmerz, Urin von Kindern, Speichel eines nüchternen Menschen,
und in P^ssig aufgelösten Taubenmist gegen Ohrwürmer etc.
Ebensowenig Erfreuliches bieten die medizinischen Werke dieser Zeitepoche
des Antonio Donato d'Altomare (Donatus ab Altomari, geb. 1520) !), des Gio-
vanni Battista Monte (Montanus, geb. 1498) 2), des Vittore Trincavella
(geb. 1496)
') De medendis humani corporis malis ars medica. Venet. 1570, Cap. 33 — 35,
p. 145-151.
2) Consultationes medicae. 1583.
3) Consilia medica. Basel 1587.
ensi
*) Gulielmi Rondelpttii, doct. medici, et medicinae in schola Monspeli
profFesoris Regij et Cancellarij Methodus curandorum omnium morborum corporis
humani in tres libros distincta. Lugduni MDLXXV.
**) Omnium a vertice ad calcem morborum signa , causae , indicationes et
remediorum compositiones utendique rationes generatim libris XXX, conscripta
Basileae 1539. Lib. III, Cap. 1—30.
Hieronymus Mercurialis. 139
Hieronymus Mercurialis. Einer fast ebenso großen Popularität
als Mediziner wie Paracelsus erfreute sich im 16. Jahrhundert Gero-
nimo Mercurialis. 1530 zu Forli in der Romagna geboren, ab-
solvierte er seine Studien in Bologna, wurde in Padua zum Doktor
promoviert und 1569 daselbst zum Professor ernannt. Im Jahre 1587
folgte er einem Rufe nach Bologna, von wo er 1599 nach Pisa über-
siedelte. Er starb 1606 in seiner Vaterstadt.
In seinem in der Uebergangszeit aus der arabischen in die neu-
hippokratische Periode verfaßten, reichhaltigen therapeutischen Werke*)
werden die Erkrankungen des Gehörorgans weitläufig behandelt. Wenn
in diesem Werke auch vorwiegend dasjenige, was die Alten und die
Araber gelehrt hatten, zusammengetragen ist, so findet sich darin doch
auch manches Selbständige und Eigentümliche, das wir zur Charakteri-
sierung der medizinischen Denkweise der damaligen Zeit erwähnen wollen.
Die Taubheit und Schwerhörigkeit, lehrt Mercurialis, kann durch patho-
logische Veränderungen im Gehirn oder im Gehörorgane selbst be-
dingt werden, sie kann angeboren oder erworben, veraltet oder frisch,
essentiell oder sympathisch (durch consensus) sein. Liegt die Ursache
im Gehirn, so wird die Schwerhörigkeit durch die „mala intemperies",
Tumoren, Verletzungen, Entzündungen (Phrenitis) etc. hervorgerufen, in-
dem nämlich keine genügende Versorgung des Gehörorgans mit den zur
Funktion nötigen „Spiritus animales" stattfindet. (Viele und reine Lebens-
geister erzeugen gutes Gehör, wenige oder krankhaft veränderte ein
schlechtes.)
Ist die Ursache im Gehörorgan selbst gelegen, so kann sie bestehen
in „mala intemperies", Solutio continui (in den Knochen oder im Trommel-
felle), oder in der Verschließung durch Sordes (Ohrenschmalz) und „hu-
mores".
Im Alter wird Schwerhörigkeit beobachtet, weil zu wenige und zu
schwache Nervengeister vom Gehirn zum Ohre dringen.
Aeußere Veranlassungen bilden starke Geräusche, Fremdkörper,
kaltes Wasser, schädliche Medikamente, Dämpfe (Auripigment, Queck-
silber, Arsenik). Sehr häufig trete Schwerhörigkeit im Gefolge von Krank-
heiten auf (Epilepsie, „Lethargie", „Phrenitis", Lungenkrankheiten).
Der Zusammenhang mit Lungenkrankheiten wurde (schon seit Ari-
stoteles) aus dem funktionellen Zusammenhange des Sprechorgans (Luft-
röhre) mit dem Gehörorgan erklärt.
Der Konnex mit cerebralen Prozessen erkläre sich dadurch, daß das
Ohr dem Gehirne vermöge der Beziehung des Gehörsinnes zur Vernunft
*) De Compositione rnedicamentorum tractatus, tres libros complectens, eiusdem
de oculorum et auriurn affectionibus praelectiones seorsim. editae. Francoforti 1591
(I. Edit. 1584, p. 138—182).
] \() Hieronymus Mercurialis.
am nächsten stehe und weil sich die Entzündungen auf dem Wege der
harten Hirnhaut in das Gehörorgan fortpflanzen, welches ja von ihren
Fortsetzungen ausgekleidet sei. Das verhältnismäßig häufige Vorkommen
angeborener Taubheit erklärt Mercurialis aus folgenden Momenten:
1. Sei das Ohr in utero Schädlichkeiten am leichtesten ausgesetzt, weil
es offen stehe; 2. werde es wegen seiner Leere leicht verstopft; 3. seien
die Hörnerven wegen ihrer nachbarlichen Beziehungen zum Gehirne
empfindlicher und daher leichter verletzbar *).
Innere Ursachen bewirken stets doppelseitige Gehörsfehler, im Gegen-
satz zu äußeren.
Was die Diagnostik anlangt, so steht Mercurialis einfach auf
dem Standpunkt des „Ex juvantibus", wofür wir zwei Beispiele anführen
wollen: „Quod si fiat auditus vitiuni a stomacho, cognoscetis hoc iudicio;
quia cibo et cocto evacuato stomacho, melius audiunt; pleno et crudo de-
terius." ... „Si intemperies fuerit frigida ex adverso cognoscetur; quia
in aure frigiditas percipietur, lenietur affectus usu calidorum." In der
Prognostik verhält er sich sehr zurückhaltend, indem er angeborene
oder auch sehr veraltete Fälle einfach für unheilbar erklärt.
Auf einer sehr reichen Belesenheit basieren die therapeutischen und
prophylaktischen Vorschriften des Mercurialis.
Vor allem gebietet er zur Verhütung der Schwerhörigkeit Ver-
meidung zu großer Kälte oder Hitze, Exzesse im Trinken und Essen und
heftiger Geräusche. Alles, was schwere Dünste aufsteigen lasse, wie
z. B. starker Wein, manche Nahrungsmittel, wie Lauch (nach Rufus von
Ephesus: „allium maxime nocere") wirke schädlich.
Von großem Nutzen bei Taubheit seien starker Schall (Hörtrompete),
weil er erwärmend wirke und die stockenden Säfte auflöse, zerteile, aus-
treibe 2).
Die lokale Therapie Mercurialis' verfügt über schwache, mittel-
starke, starke Mittel. Zu den schwachen zählt Oleum amygdalarum,
amararum, Oleum laurinum, juniperinum, Succus absinthii, Mel alembi-
carum, Adeps anserinus, acetum, Aqua marina, Succus raphane cum sale.
Zu den mittelstarken: Succus rutae, Fei taurinum, vulpinum, lepo-
rinum, Pulvis aristolochiae cum melle, Succus ceparum , porri , crocus,
muscus, galbanum, myrrha, Oleum sabinae, Succus sambuci, Succus traga-
canthae, Succus cucumeris asinini, Succus cyclaminis. Zu den starken:
Beide Nieswurz, Salpeter, Castoreum, Ol. Euphorb., Ol. sinap. (letzteres
besonders von Avenzoar und Maimonides empfohlen), Ameiseneier
in Ol. oliv, gekocht, Aalgalle etc.
Die Medikamente sollen stets temperiert, fein zubereitet, in geringer
Menge angewendet werden, und zwar in Form von Instillationen, Ein-
güssen, Kollyrien, Vaporisationen 3), Bähungen, Pflastern etc.
Hieronymus Mercurialis. 141
Zur Instillation l) bediente man sich der sogenannten wTs-p/ota 5)
und der Kollyrien (J).
Außer den genannten Medikamenten empfiehlt Mercurialis auch
Nies- oder Kau mittel.
Die zweite Hauptgruppe in der Pathologie des Ohres bildet bei
Mercurialis das Ohrensausen. Ursache desselben sei die Ansamm-
lung von Dünsten, und die Feuchtigkeit spiele nur insofern eine Rolle,
als sie die Ausgänge versperrt und sich in Dünste auflöst 7). Zur Be-
seitigung des Leidens empfiehlt er Narcotica und scharfe Mittel oder auch
Kauterien 8).
Endlich unterzieht Mercurialis auch den „Ohrenschmerz" einer
eingehenden Betrachtung und gedenkt hierbei der Entzündung des Trommel-
fells, die er durch Ausdehnung der zarten Venen und durch vermehrten
Blutandrang verursacht hält9).
Der Ohrenschmerz gehört nicht dem Gehörsinn, sondern dem Tast-
sinn an (Galen), sei von inneren oder äußeren Ursachen abhängig, trete
beständig oder intermittierend auf, mit oder ohne Jucken (Avicenna).
Hitze (heiße Luft, heißes Wasser, Ofenhitze etc.) vermöge Ohrenschmerz
durch Verderbnis der Säfte hervorzurufen.
In der Prognose hält sich Mercurialis an Hippokrates,
Galen, Celsus und Avicenna. In der Therapie sind zwei Wege ein-
zuschlagen, je nachdem die Ursache behoben werden kann, oder aber
lediglich die Betäubung beabsichtigt wird. Unter den lokalen Medika-
menten erwähnt er Albumen, Lac. mulieris, Succ. coriandri, Succ. grana-
tor, Ol. rosar. (bei Intemperies calida), Succ. cepar. mint, ad ignem una
cum oleo, cui immersum sit piper vel euphorbium. Um die supponierten
Dämpfe zu zerstören, empfiehlt Mercurialis folgendes:
Ego vero accipio cepam seu corticem cepae in quo pono 5 ]j vel üj olei chamo-
millae; deinde addo 3j pulv. anisor. et tantideru pulv. piperia albi, jubeo, ut cortex
supra prunas ignitas eontineatur usque quo totum oleum absorbeatur . deinde con-
tundi curo et exprimi succum, qui instillatus in aurem dolentem ex vaporibus
dolorem trahit.
Unter den Mitteln zur Entfernung der Fremdkörper verwendet
er nichts, was nicht bereits die früheren Autoren angegeben hätten. Zu-
nächst müsse das Ohr ausgewaschen (ausgespritzt) werden, was oft allein
schon genüge10). Führt dies nicht zum Ziele, so soll die Sonde oder
mit Terpentin bestrichene Wolle zur Verwendung kommen.
') . . . tribus de causis potissimum auditum a nativitate oblaedi: una est, quia
foetus in utero habet omnia fere instrumenta sensuum occlusa, exeeptis auribus : nam
neque nares, neque os, neque oculos apertos habet, aures ut plurimum habet patentes;
et propterea facile fit, ut aliquid ex utero in aures labatur, quod quidem contingere
non potest aliis sensibus; altera ratio est, quia instrumentum auditus internum
"[42 Hieronymus Mercurialis.
vacuum est, ut dixi: vacuum autem in utero, et capite humidissimo facile repleri
potest; tertia ratio est, quia nervi auditorii, cum sint propinquiores cerebro, sunt
magis possibiles; et hinc fit, ut etiam facilius ottendantur. 1. c. p. 148.
2) „Capite vero vacuo juvat sonitus; nam medici praecipiunt, ut tubae appo-
nantur auribus. ratio autem, cur haec juvent est duplex; prima, quia calefaciunt
meatum auditorium, quae calefactio non trabit a capite; (|uia non est plenum, sed
discutit reliquias bumorum existentium in instrumento; altera, quoniam vehemens
illa inclamatio suo impulsu elidit bumores ex locis impactis, et ita surditatem solvit."
1. c. p. 154.
3) Beispiel für eine Vaporisation: Rp. myrrbae , galbani, croci ana 3-J-ß-
fol. rosar. . major., sabinae, ää 5. ß. terantur omnia, et super carbones ponantur
adurenda, et dum comburuntur, baunatur fumus per fistulam in aures. 1. c. p. 158.
4) Beispiel für eine Instillation: Rp. mellis, succi cej^arum, olei sinapis
ää 3. £. castorei §.ß. misce, et guttatim infundatur in aurem. 1. c. p. 158.
5) „Nam medici habent instrumentum quoddam, quod Graeci appellant wxk-(ytizov,
Celsus et Scribonius vocant modo strigilem. modo clysterem auricularem, est boc in-
strumentum veluti ab una parte concavum, habet conculam, quae impletur liquore
et deinde immittitur intra anfractus auris. 1. c. p. 157.
f') Beispiel für ein „Collyrium": Rad. ellebori nigri, nitri, castorei ää ^.j.
myrrbae croci ää^-ß- cum albumine ovi formetur collyrium. 1. c. p. 159. Quando
enim tractavi de bis, dixi sub illis intelligi medicamenta ad modum fistulae, quae
omnibus cavis partibus imponuntur: fiunt interdum ex medicamentis , interdum ex
panno lineo, vel gossypio, quae contorta et aliquo liquore oblita induntur in
aures. 1. c. p. 157. Collyria vero ex gossypio, aut lino ita parantur, accipitur haec
materia, et intorquetur: ad modum, quo utuntur chirurgi in imponendis his collyriis
in vulneribus et postquam intortum est collyrium, illinitur oleo et musco vel melle.
1. c. p. 159.
7) Dixi falsam esse, nisi sano modo intelligatur; quia etiam humores con-
currunt ad tinnitum : humores inquam intra aures , hoc pacto , tum quia claudunt
intra aurem flatus; tum quia ex ipsis fiunt vapores, qui deinde faciunt tinnitum; ut-
cumque fit, sicuti docui, vera causa est vaj)or, qui interdum multus est, et tum semper
tinnitum facit; interdum paucus, et tunc non facit tinnitum, nisi in his, qui pollent
auditu subtili. 1. c. p. 162.
s) Expertus sum cauteria facta in bracchio auri affectae multum conferre, quia
humores illi ex quibus continuo flatus fiunt, paulatim per haec emissaria evacuantur.
1. c. p. 170.
9) In hac non trita speculatione, ita statuendum judico. nullibi internas posse
oriri inflammationes, praeterquam in hac tunica (Trommelfell) ; in qua tametsi venae
sint admodum exiles, tarnen tempore doloris paulatim dilatantur, et quo maior fit
attractio materiae ad ipsam, eo magis venae distenduntur, et fiunt capaces sanguinis
ita copiosi, ut possit fieri inflammatio in hac pellicula arida. 1. c. p. 172.
10) „Quia ex elotione interdum sola exeunt haec corpora." 1. c. p. 181.
Ein Zeitgenosse des Mercurialis, der deutsche Praktiker Johann Crato
von Krafftheim (ursprünglich Krafft, 1519—1585) hat in seiner Schrift „Con-
siliorum et epistolarum medicinalium libri VII", Frankfurt 1589, sich nur wenig
mit den Krankheiten des Ohres beschäftigt. Er bespricht bloß folgende Arten von
Ohraffektionen: Schwerhörigkeit1), Schwerhörigkeit im Verein mit Ohrensausen2),
Ohrensausen infolge Magen- und Gehirnerkrankung3), Ohrensausen infolge eines
Magenleidens4) und empfiehlt für diese Erkrankungen verschiedene äußerst kom-
plizierte Rezepte, wie Einträufelungen, Purgativmittel, Räucherungen etc.
Hieron yinus Capivacci. J43
J) 1. c. Lib. VI. In difficultate auditus consilium XLII.
2) Ibid. In difficultate auditus et tinnitu aurium cons. XLIII.
3) Ibid. In tinnitu aurium e ventriculi et cerebri vitio cons. XLIV.
4) Ibid. De tinnitu aurium e ventriculi vitio cons. XLV.
Hieronymus Capivacci. Ein Schüler Rondelets und Landsmann
des Mercurialis, der Paduaner Hieronimo Capivaccio (Capo di
Vacco, gest. 1589), nimmt in seinem Werke „Opera omnia quinque Sec-
tionibus comprehensa, Cap. I, p. 587 — 591, De laeso auditu" *) in der
Darstellung der Ohrenkrankheiten einen ziemlich selbständigen Stand-
punkt unter seinen Zeitgenossen ein. Er gibt zunächst eine allgemeine
Uebersicht über die Aetiologie der Ohraffektionen. Die Krankheiten,
durch die das Gehör verletzt werden kann, teilt er ein in Erkrankungen
des Gehirns, Erkrankung (Verdickung) des Hörnerven, des Labyrinthes,
des Trommelfells, des knöchernen und knorpeligen Gehörganges und des
gesamten Gehörorgans.
Von Affektionen des Trommelfells werden erwähnt schlechte Zu-
sammensetzung (mala compositio), abnorme Verdickung (densitas praeter
naturam) und Geschwüre mit darauf folgender Narbenbildung (cicatrix,
quae interdum sequitur ulcera). Läsionen der Gehörknöchelchen
haben, wie er aus ihrer Anatomie zu erklären sucht, keinen Einfluß auf
die Gehörsschärfe (errant enim valde qui credunt, auditum laedi ob vitia
ossiculorum: ignorantque anatomes).
Bei Besprechung der differentialdiagnostischen Momente der Trommel-
fell- und Labyrintherkrankung teilt er einen interessanten Versuch mit:
Man nehme einen Eisenstab von Ellenlänge. Das eine Ende wird auf
die Zähne des Patienten, das andere auf die Saiten einer Zither auf-
gesetzt. Hört der Patient die Töne des Instrumentes, so läßt sich daraus
der Schluß ziehen, daß die Ursache der Taubheit in einer Erkrankung
des Trommelfells liege. Vernimmt der Patient die Töne nicht, so rühre
die Taubheit von einer Erkrankung des Labyrinthes her**).
Die Wichtigkeit dieses Versuches für die spätere Entwicklung der
Differentialdiagnose zwischen Hörstörung infolge eines Schallleitungs-
hindernisses oder einer Erkrankung des nervösen Apparates bedarf keiner
weiteren Ausführung.
*) Herausgegeben von J. H. Bayer, Frankfurt 1603.
**) Quare maxime diligentia est opus, ut cognoscatur an auditus sit ablatus.
ob morbuni myringae, vel potius nervi expansi : quod sie cognoscitur. Sumatur
ferrum longitudine cubiti; et una extremitaa imponatur supra dentes, altera autem
extremitas imponatur, verbi gratia, supra chordas citharae: et quispiam ferro com-
moveat chordas citharae : tunc , si aeger sentit sonum citharae , surditas dependet a
morbo myringae: si non sentit, surditas dependet a morbo nervi expansi, ut prorsus:
extineta sit vis facultatia.
] | ! Arnatus Lusitanus.
Der Nachfolger des Capivaccio im Lehramte, Ercole Sassonia (Herkules
Saxonia, 1551 — 1607), behandelt in seinem Werke*) die Ohrerkrankungen sehr ober-
iliichlich und gelangt wiederholt zu unhaltbaren Hypothesen, von denen nur der
Absonderlichkeit halber die folgende zitiert sei: Schwerhörige, deren Hörnerv er-
krankt ist, sprechen leise, weil gleichzeitig der Zungennerv affiziert sei, während
Taube, mit Erkrankung irgend eines anderen Teiles des Gehörorganes , mit lauter
Stimme sprechen. Noch sonderbarer klingt es, daß Sassonia dies als differential-
diagnostischen Behelf heranziehen will. Von praktischem Interesse ist ein Verfahren,
das Sassonia zur Entfernung von gequollenen Bohnen aus dem äußeren Gehör-
gange vorschlägt. Durch eine in den Gehörgang bis zur Bohne vorgeschobene Kanüle
wird ein glühender Draht eingeführt und mit diesem die Bohne durchbohrt. Durch
wiederholtes Durchbrennen werde der Fremdkörper so verkleinert, daß es dann
leicht gelingt, ihn zu entfernen.
Amatus Lusitanus. Als einer der tüchtigsten und rationellsten
Therapeuten dieser Periode ist Amatus Lusitanus (geb. 1511) zu
nennen, in dessen „Curationum Medicinalium Centuriae septem"
1551 mehrere interessante Krankengeschichten in Betracht kommen. Die
eine in der „Centuria sexta" enthaltene führt die Ueberschrift: „Curatio
quinta, in qua agitur de puero loquente, qui postea ob morbum saevum
supervenientem , mutus factus est"1). Ein 5j'ähriger Knabe, der das
Sprechen mit zwei Jahren erlernt hatte, wurde von einer fieberhaften
Krankheit befallen , nach welcher er an Armen und Beinen gelähmt,
gleichzeitig taub und stumm wurde. Da die Lähmung der Extremitäten
nach einiger Zeit nachließ, hoffte Amatus die Taubstummheit heilen zu
können, was ihm auch angeblich gelang. Er empfahl eine durch eine
genau angegebene Diät geregelte Lebensweise und eine sehr komplizierte
Medikation, von der folgendes Rezept Zeugnis gibt:
„Rec. olei amygdalarum amararum , uncias duas, vini optimi albi, uncias
duas et alterius mediain, maioranae pug. medium, ellebori nigri, scryptulum medium,
misce, et ad ignem fiat decoctio usque ad vini consumptionem ; et fiat expressio, et
colatura, cui adde moschi grana duo, misce, et utere, ac per aures ex eo parum
infunde, quod moscato gossypio occludebatur, item succum hunc per nares attra-
hebat2)."
Die zweite Krankengeschichte betrifft einen Fall von Taubheit bei
einem 34jährigen Manne, der die gallische Krankheit (Lues) durchge-
macht hat: „Curatio vigesima quinta, in qua agitur de surdidate contracta
ob malum vitae regimen* :1).
') p. 162; Venetiis 1560.
2) p. 166; ibidem.
8) p. 188; ibidem.
) l'antheum medicinae selectum etc. Francoforti 1604. Lib. I, Cap. 20,
p. 133-138. Lib. IX, Cap. 41, p. 783.
Petrus Forestus. 145
Petrus Forestus (1522—1597). Zu den Schriftstellern dieser
Periode, die auch die Krankheiten des Gehörorgans in den Bereich ihrer
Beobachtungen zogen, zählt Pieter van Foreest, der von seinen' Lands-
leuten den Ehrentitel eines holländischen Hippokrates erhielt. Sprengel
urteilt in seiner Geschichte der Arzneikunde über ihn folgendermaßen:
,,Nicht nur für sein Jahrhundert, sondern für alle folgenden Zeitalter ist
Forests Sammlung von Beobachtungen klassisch; er erzählt, was seine
Vorgänger selten tun, seine Beobachtungen vollständig, hascht nicht nach
Seltenheiten, sondern sucht die gewöhnlichen Erscheinungen des kranken
Zustandes mit aller Treue und Einfachheit des geraden, rechtschaffenen
Mannes und scharfsinnigen Arztes vorzutragen." Auch für seine Beobach-
tungen über Erkrankungen des Gehörorgans :: ) läßt sich, wenn man nicht
strenge ins Gericht geht, dieses Urteil akzeptieren; die 15 mitgeteilten
Krankengeschichten sind, obwohl sie nichts Epochemachendes enthalten,
immerhin vorurteilsfrei beobachtet und deshalb lesenswert. Minder inter-
essant sind die beigegebenen Scholien, welche deutlich das arabische Vor-
bild, gleichzeitig aber auch die hohe Gelehrsamkeit des Verfassers erkennen
lassen. In der ersten Beobachtung (De auris dolore intensissimo) schil-
dert Forest den Krankheitsverlauf eines Schankburschen , der seit drei
Monaten an Ohrenschmerzen litt und bei dem eine innere Ohrenentzün-
dung auf die Hirnhaut übergriff und zum raschen Tode führte. Daran
schließt sich die kurze Krankengeschichte einer Frau, die seit zwei
Wochen an heftigen Schmerzen des linken Ohres erkrankt war, bei der
es ihm aber gelang, durch drastische Purgantien, Schröpfköpfe auf
Nacken und Schulter und Umschläge aus gebratenen Zwiebeln, Ka-
millenöl und frischer Butter die Schmerzen bald zu beheben. Die zweite
Beobachtung (De aurium dolore ex frigore contractu) enthält die Be-
schreibung eines durch Erkältung hervorgerufenen Ohrenschmerzes. Als
Gegenstück zu diesem Falle dient die dritte Beobachtung (De aurium
dolore ex calore contractu) einer Ohrenaffektion , die durch Einwirkung-
großer Hitze entstanden sein soll. Ferner erwähnt er einen Fall, in
dem die Ohrenerkrankung durch Einlegen eines Stückchens Zwiebel in
das Ohr gegen Zahnschmerz hervorgerufen wurde. Von den anderen
Beobachtungen erwähnen wir einen Fall, wo ein Knabe sich eine Muschel
ins Ohr gesteckt hatte, die darin ein halbes Jahr verweilte, bis sie die
Mutter mit einer Haarnadel herauszog, ferner den Fall einer Frau, die
sieben Jahre hindurch taub war, so daß sie nicht einmal das Glocken-
geläute hören konnte und nach vielen erfolglosen Kuren auf den Rat
eines alten Weibes Moschus ins Ohr steckte , wodurch sie plötzlich von
*) Observationum et curationum medicinalium ac chirurgicarum Opera omnia.
Francoforti 1619. Lib. XII. De aurium morbis. p. 56 — 83.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1. 10
146 J°h- Heurnius.
ihrem Leiden befreit wurde. Forest gibt an, daß er selbst in einigen
Fällen, bei denen ein eitriger Ausfluß aus den Ohren bestand, die Taub-
heit durch Anwendung von Moschus zur Heilung brachte. Bei der Be-
sprechung der Otitis behandelt er ausführlicher als seine Vorgänger die
nachfolgenden Eiterungen und Ulzerationen. Hierbei legt er besonderes
Gewicht auf die Erkenntnis, ob die Krankheit bloß die äußeren oder auch
die inneren Partien des Gehörorganes affiziert habe, weil davon Prognose
und Therapie in hervorragendem Maße abhängen. Die Entzündung der
inneren Teile schließt er aus der Intensität der Symptome und der gleich-
zeitigen „Paraphrenesis".
Joh. Heurnius. Eine der ältesten Schriften des 10. Jahrhunderts,
in der auch die Pathologie des Ohres ausführlicher behandelt wird, ist
die des holländischen Arztes Jan van Heurne (Heurnius, 1543 — 1601),
„De morbis oculorum, aurium, nasi, dentium et oris über" *), die posthum
vom Sohne des Verfassers, Otto Heurnius (1577 — 1652), herausgegeben
wurde. Der Hauptinhalt des Buches stellt sich als eine wertlose Kompi-
lation dar, in der die Therapie den weitesten Raum einnimmt, die in
ihrer Kompliziertheit und Absonderlichkeit an die Arabisten erinnert.
Von einigem Interesse dürften die prophylaktischen Maßregeln sein,
die das Werkchen enthält und die auch von den späteren Autoren viel-
fach zitiert werden.
Es heißt da: „ Meide die heftigen Nord- und Südwinde; denn der
Frost schadet den Nerven sehr. Hast du in solcher Zeit einen Weg, so
gib Baumwolle ins Ohr, in welche zwei Körner Moschus oder Bibergeil
eingeschlossen sind. Achte stets darauf, daß dir kein Wasser beim Regen
ins Ohr falle. Reinige dir häufig deine Ohren mit Essig und Honig.
Beim Waschen des Kopfes verschließe die Ohren u. s. w."**).
Ein anderer holländischer Arzt in der zweiten Hälfte des IG. Jahrhunderts.
Godefridus Stechius (Versteeg, Steegh), behandelt in seiner „Ars medica, sive
medicinae" (Francofurti 1606, Lib. VIII, Cap. 13) die Ohrerkrankungen höchst ober-
flächlich und nach den alten, rein empirischen Prinzipien. Unter anderem empfiehlt
er gegen subjektive Geräusche nach Syphilis ein Dekokt von Guajakholz und Ehren-
preis in Wasser, welches über grünen Nußschalen destilliert wurde. Sein Vorschlag,
ein Trommelfell, welches durch heftiges Geräusch nach innen gedrängt wurde, durch
Saugen zu reponieren, ist keineswegs neu, da dieses Verfahren, wie ich gezeigt habe,
schon von Simeon im 11. Jahrhundert (s. 8. Gl) und nach ihm von anderen Aerzten
empfohlen wurde.
*) Lugd. Batav. 1602.
**) Vita calidos incursus Aquilonis et austri : frigus enim nervis indicit bellum.
Si iter tunc agendum, indat auri gossipium cui inclusa sint mosci aut castorei grana
duo. Caveat ne aqua ex pluvia aurem ingrediatur. Saepe eluat aures aceto et melle.
Si caput lavandum, obstruat aures ... 1. c. Cap. 8. De passionibus aurium. p. 61.
***) Ephem. med. physic, Dec. II. Ann. 6, Obs. 123, p. 254.
Felix Plater. 147
Anschließend hieran sei eine Mitteilung des Joh. Ludwig Hanneman
(1640 — 1724) erwähnt, nach der ein Chirurg die Methode der Luftverdünnung bei
Tauben mit großem Erfolge angewendet haben soll. Das Verfahren bestand darin,
daß er dem Patienten eine Röhre ins Ohr steckte , an der er so lange sog , bis der
Patient einen Schmerz im Ohre verspürte.
Felix Plater (1530—1(314). der bereits früher (S. 123) als Anatom
genannt wurde, galt als einer der gefeiertesten Aerzte des 16. Jahr-
hunderts. Seine therapeutischen Vorschriften wurzeln ganz in den An-
schauungen der absonderlichen Systeme des Paracelsus und Mer-
curialis.
In seinen „Observationum libri tres", die von seinem Sohne Fran-
ziskus mit einer beigefügten „Mantissa observationum" herausgegeben
wurden (Basileae 1680), findet sich nur weniges, was für die Patho-
logie und Therapie der Ohrerkrankungen in Betracht kommt.
Ausführlicher und für die Bedeutung Platers charakteristischer ist»
sein „Praxeos medicae opus cum centuria posthuma, emendatum et auct.
a Feiice Platero". Basileae 1656 *). Abweichend von der Galenschen
Einteilung der Ohrerkrankungen, versucht er diese auf Grundlage der
neuen anatomischen Entdeckungen zu klassifizieren. Seine Einteilung in
Verletzungen der Funktionen des Gehörorgans, in Ohrenschmerz und
Ohrenfluß muß jedoch schon deshalb als mißglückt bezeichnet werden,
weil er die Krankheitssymptome als selbständige Erkrankungen auffaßt.
Von einigem Interesse jedoch sind seine vorurteilsfreien Beobachtungen
über Ohrenerkrankungen.
Er erwähnt eine Art von Taubheit, die in Alpengegenden auftreten
soll und dadurch charakterisiert ist, daß sie sich gleich von Geburt an
zeigt, wobei das betreffende Individuum stets an einem Kröpfe leidet. Er
führt sie auf einen Erguß von Flüssigkeit aus dem Kopfe ins Ohr zurück*).
Dieser Symptomenkomplex entspricht unseren jetzigen Erfahrungen
über den endemischen mit Taubheit komplizierten Kretinismus in Alpen-
gegenden.
Als Krankheiten des Trommelfells führt Plater Verwundungen
durch Ohrlöffel, Abszesse, Geschwüre, Verdickung, Erschlaffung und
vermehrte Spannung an, ohne daß er diese Veränderungen jemals durch
Okularinspektion des Trommelfells am Lebenden gesehen hätte. Als
krankhafte Veränderungen der Gehörknöchelchen werden Verbil-
dungen und Ankylose erwähnt. Die von ihm beobachteten Fälle von
Ulzerationen am Ost. pharyng. tubae Eust. dürften nach Kuh (De in-
flammat. auris mediae. Vratisl. 1S42) als syphilitische Geschwüre an-
*) Sicuti inAlpinis regionibus, hac de causa multos difßcilem auditum
ab ortu. vel mox in aetatis progressu unä cum strumis, illis ob similem causam
familiaribus habere cernimus.
•j^g Felix Plater.
zusprechen sein. — Erwähnenswert ist noch ein Fall, betreffend ein
Mädchen, bei dem nach einem Sturze anfangs reines Blut, später eine
große Menge von Serum aus dem Ohre floß , bei dem es sich zweifellos
um eine Basisfraktur gehandelt hat.
Bei der nüchternen Beobachtung Pia ters erscheint es befremdlich,
daß er die Tatsache, daß Taubgeborene oder solche, die in den ersten
Lebensjahren taub geworden sind , stumm bleiben , gänzlich mißdeutet.
Er ist nämlich der Ansicht, daß eine Verletzung irgend eines gemein-
samen Astes zwischen Hör- und Sprachnerv Taubstummheit zur Folge
habe 2). Hingegen sind folgende Beobachtungen an Taubstummen von
großem Interesse: 1. Ein Taubstummer, der aus der Art der Bewegung
der Lippen die Sprache anderer verstehen gelernt hat3). 2. Ein Taub-
stummer, mit dem man sich dadurch verständigen konnte, daß man
ihm auf einem Tische mit dem Finger die Buchstaben aufzeichnete4)
und 3. ein bemerkenswerter Fall, wo ein Taubstummer, der auch blind
war, dadurch Mitteilungen empfing, daß man ihm mit dem Finger auf
den entblößten Armen Schriftzeichen aufschrieb 5).
') S. 108 : In auditus laesione observationes.
2) Surcia et muta puella. ab infantia. Obs. lib. III. Basileae 1680, p. 109.
3) S. 112: Surdus et mutus ab ortu, qui scribere potuit et ex motu labiorum
aliquid intelligere.
4) S. 112: Surdus qui etiam verba, ex solo ductu digitorum literas exprimente,
percipiebat.
5) S. 112: Surdus, mutus. coecus, cui eadem opera literae et verba exprimi
potuerunt.
Einen größeren Nutzen aus den Errungenschaften der Anatomie zog
in dieser Periode die technische Ausbildung der Chirurgie. Nament-
lich waren es die häufig wiederkehrenden Kriege in Deutschland, Frank-
reich, Italien und den Niederlanden, in welchen den die Kriegsheere be-
gleitenden Aerzten zur Ausbildung chirurgischer Kenntnisse reichliche
•Gelegenheit geboten wurde.
Der Gewinn für die Otiatrie in chirurgischer Hinsicht war jedoch
sehr gering. Was sich darüber in den Schriften dieser Periode findet,
beschränkt sich auf die chirurgische Behandlung der Hieb- und Schuß-
wunden der Ohrmuschel und der äußeren Ohrgegend, auf die Abtragung
gut- und bösartiger Neubildungen der Ohrmuschel und auf die operative
Entfernung von Fremdkörpern und Polypen aus dem äußeren Gehörgange.
Operative Eingriffe am Gehörorgane selbst waren zu jener Zeit noch
unbekannt.
Ambrosius Pare. Zu den hervorragendsten Vertretern der Chi-
rurgie des 16. Jahrhunderts zählt unstreitig Ambroise Pare* (1510 bis
Ambroise Pare. 149
1590), der von seinen Landsleuten als der Begründer der französischen
Chirurgie gefeiert wird. Seinem außergewöhnlichen Talente gelang es,
sich aus kleinen Anfängen in den Feldzügen unter Heinrich IL, Karl IX.
und Heinrich III. die Stellung eines „Chirurgien ordinaire du Roi" zu
erringen. Die in seinen Werken niedergelegten kriegschirurgischen Er-
fahrungen werden noch heute mit Nutzen gelesen.
Hochbetagt starb Pare im Jahre 1590.
A. Pares Bedeutung wurde von Gurlt in seiner vortrefflichen Ge-
schichte der Chirurgie und von M a l[g a i g n e eingehend gewürdigt.
Die mir als Quelle dienende Ausgabe der Werke Pares „Oeuvres
completes revues et collationnees sur toutes les editions avec les variantes
etc. par J. F. Malgaigne, 3 Vol., Paris 1840" enthalten zerstreut mehrere
das Ohr betreffende Kapitel. Der Abschnitt über den Bau und den
Nutzen der einzelnen Teile des Gehörorgans (Vol. I, p. 279) ist sehr
lückenhaft und den zeitgenössischen Autoren entlehnt. War doch Pare
bei der Publikation der ersten Ausgabe seines Werkes die Entdeckung
des Steigbügels noch unbekannt. Dasselbe gilt von seiner Aetiologie und
Symptomatologie der Ohrerkrankungen (Vol. II, p. 601) und von seiner
Erklärung der subjektiven Geräusche. Hier steht er noch ganz unter dem
Einflüsse der mittelalterlichen Otiatrie.
Viel wertvoller, weil auf eigener kriegschirurgischer Erfahrung ba-
sierend, sind seine Angaben über die Behandlung der Wunden der
Ohrmuschel (Vol. II, p. 89). Hier empfiehlt er beim Nähen der
Wunde, die Nadel nicht durch den Knorpel durchzustechen, da dieser
leicht gangränös werde *). Bei Hiebwunden, die den Gehörgang treffen,
müsse man durch Einlegen von Schwamm und trockenen Medikamenten
in den Gehörgang die starke Entwicklung von Granulationen verhindern,
welche zur Obstruktion des Ohrkanals führen können.
Was Pare als Ohrgeschwüre (Vlceres des oreilles) bezeichnet,
umfaßt der Textierung nach alle eitrigen Entzündungen des äußeren und
mittleren Ohres, mit mäßigem oder starkem Sekret- und Eiterabfluß, der
zuweilen vom Gehirn stammt. Seine komplizierte Therapie ist noch ganz
von Galen beeinflußt. Gegen Eiterausfluß, der sich nicht genügend aus
dem Gehörgang entleeren könne, müsse das Sekret mit einer eigenen
Spritze (Pyoulcos) ausgezogen werden 2). Zu dessen Heilung werden lau-
warme Einträufelungen von konzentriertem Essig und Ochsengalle oder
Einblasungen von in Essig gekochtem, fein pulverisiertem Eisenrost in
den Gehörgang empfohlen.
In einem besonderen Kapitel (Vol. II, p. 442) bespricht Pare
die angeborenen und erworbenen Atresien des äußeren Ge-
hörgangs und die Fremdkörper im Ohre. Die Beseitigung der tief-
greifenden Atresien ist nach Pare viel schwieriger als die der oberfläch-
150 Ambroise Pare.
liehen. Bei ihrer Behandlung, operativ sowohl als durch Aetzmittel,
müsse man wegen der großen Empfindlichkeit dieser Teile und ihrer
Nähe zum Gehirne sehr vorsichtig vorgehen , da bei Ergriffensein des
letzteren der Kranke in Konvulsionen tödlich endet3).
Zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem Gehörgange benützt
Pare Pinzetten und gekrümmte Instrumente nach Art eines „cure-oreille1,
und bei stark eingekeilten Körpern eine kleine „tire-fond", deren man
sich zur Extraktion von Bleikugeln aus Schußwunden bedient. Gelingt
der instrumentale Eingriff nicht, so wird in der Tiefe des Ohres eine
kleine Inzision gemacht, um Platz für das einzuführende Instrument zu
schaffen.
Individuen, die das ganze Ohr verloren haben (Vol. II, p. 442),
empfiehlt er den Defekt durch langen Haarwuchs zu decken oder eine
entsprechend geformte Mütze zu tragen (Calotte).
Interessant ist die Methode Pares, bei teilweisem oder gänzlichem
Verlust die Ohrmuschel durch eine Prothese zu ersetzen. Ist noch ein
Rest erhalten, so werden mittels eines kleinen „portepiece" an dem Rand
des stehej gebliebenen Ohrknorpels eine Anzahl kleiner Oeffnungen ge-
macht und nach Ueberhäutung dieser Oeffnungen ein künstlich geformtes
Stück an den stehengebliebenen Rest angeheftet. Bei Totalverlust der
Ohrmuschel wird ein schön geformtes Ohr aus Pappe oder gepreßtem
(gesottenem) Leder durch eine federnde Spange befestigt1).
1) Et de ton aiguille ne toueberas au Cartilage , de peur que la partie ne
tombe en gangrene (ce que souuentes fois est arriue) inais seulement prendras le
cuir, et ce peu de chair qui est autour le dit Cartilage: et auec compresses et
bandages (Vol. II, p. 89).
2) Que si la boue et sanie ne pouuoit estre euacuee, ü faudroit la tirer par
une seringue propre, dite Pyoulcos (Vol. II, p. 263).
:i) Or il faut traiter ce mal bien curieusement , de peur de faire tomber le
malade en conuulsion, et le faire mourir, pour la grande sensibilite de ceste partie,
et qu'elle est proebe du cerueau (Vol. II, p. 442).
4) On doit troüer le cartilage auec une petite porte-piece, et y faire des trous
tant qu'il sera necessaire. Apres la cicatrisation des dits trous. on attachera une
oreille artificielle : et oü l'oreille auroit este du tout amputee , on y en appliquera
une artificielle de papier colle, ou cuir boüilli, faconnee de bonne graee (Vol. II. p. 610).
Ein Zeitgenosse Par 6a und Freund des Par acelsus, der berühmte deutsche
Wundarzt Felix Wuertz (Wi rtz, 1514—1575) gibt in seiner „Practica der Wund-
arzney, darin allerlei schädliche Mißbräuche des Wundarztes abgeschafft werden etc."*)
einige nützliche Winke zur chirurgischen Behandlung des Obres. Um einen sicheren
kosmetischen Erfolg bei genähten Wunden der Ohrmuschel zu erzielen, rät er, die
Nähte baldigst zu entfernen, da es sonst leicht zur Eiterung komme, wodurch un-
schöne Narben entstehen.
*) Basel 1612, p. 108: ferner p. 469.
Fabricius Hildanus. 151
Fabricius Hildanus (1560 — 1634)*). Zu den berühmten Chirurgen
deutscher Abstammung, deren Wirken in die zweite Hälfte des 16. und
die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts fällt, zählt Fabricius, nach. seinem
Geburtsorte van Hilden genannt. Trotz ungünstiger Lebensverhältnisse
in der Jugend eignete er sich einen solchen Bildungsgrad an, daß er
sich im 16. Lebensjahre der Wundarzneikunst widmen konnte. Dem
Brauche jener Zeit gemäß nahm er zunächst Dienste bei mehreren
Wundärzten und ging dann, mit praktischen Kenntnissen ausgerüstet, an
die Hochschule in Köln, wo er Gelegenheit fand, sich wissenschaftlich
auszubilden. Nach 5jährigem Aufenthalte daselbst (1596) finden wir
Fabricius bald in Genf, bald in Lausanne, Basel, Bern, überall in-
folge seines großen Rufes von zahlreichen Kranken aufgesucht und trotz
intensiver Berufstätigkeit eine fruchtbare, schriftstellerische Tätigkeit
entwickelnd, stets umgeben von Aerzten aller Länder, die seinen Ruf als
Lehrer verbreiteten.
Fabricius wird mit Recht als derjenige bezeichnet, der zuerst in
Deutschland die Wichtigkeit der Kenntnis der Anatomie für die Medizin
im allgemeinen und die Chirurgie im besonderen anerkannte*1"). Von
seinen zahlreichen Schriften sind für die Otiatrie nur seine „Observatio-
num et curationum chirurgicarum centuriae" (1606 — 1641) von Inter-
esse***). Diese enthalten eine Anzahl von Beobachtungen über ope-
rative Eingriffe bei Fremdkörpern und Polypen, von denen hier einige
kurz mitgeteilt werden sollen.
Am ausführlichsten ergeht sich Fabricius über die Frem d-
körper des äußeren Gehörganges, von denen er fünf Fälle
(observationes) schildert. Die Observatio IV. der ersten Centuriaf)
beginnt Fabricius mit einer brieflichen Mitteilung an Kaspar Bau-
hin über eine anatomische Entdeckung, durch die er den Symptomen-
komplex des betreffenden Falles zu erklären versucht. Seiner Ansicht
nach soll nämlich ein Ast des „fünften Nervenpaares " (Gesichts-
und Hörnerv) zum Rückenmark verlaufen und Aestchen durch den
ersten und zweiten Halswirbel für die Muskeln des Kehlkopfes .ab-
geben. Als eine Stütze für diese Annahme gilt ihm das Auftreten von
Husten beim Kitzeln des Ohres. Jetzt wissen wir, daß der vom Gehör-
*) Traugott Wilh. Gust. Benedikt. „Commentatio de Fabricio Hildano".
Inauguraldissert. Breslau 1847.
**) Vergl. seine kleine Schrift „ Kurze Beschreibung der Fuertrefflichkeit, Nutz-
und Notwendigkeit der Anatomey". Bern 1624.
***) I. ed. Basel 1606; von mir wurde als Quelle benützt: Guilhelmi Fabricii
Hildani opera observationum et curationum medicochirurgicarum quae extant omnia.
Francofurti ad Moenum 1646.
f) 1. c. p. 15.
152
Fabricius Hildanus.
gange ausgelöste Reflexhusten durch den Raums auricularis N. vagi ver-
mittelt wird. Durchwegs hypothetisch und nur auf die Symptome des
folgenden Falles gegründet ist seine angebliche anatomische Entdeckung,
daß Zweige vom Gesichts- und Hörnerven mit dem vierten, fünften und
sechsten Armmuskelnerven (Spinalnerven) zu den Armen und Fingern, ja
sogar zu den Beinen und Zehen ver-
laufen.
Einem 10jährigen Mädchen ge-
riet beim Spiele eine erbsengroße
Glaskugel ins Ohr. Da den vier
zitierten Chirurgen die Extraktion nicht
gelang, beschloß die Mutter, das Kind,
das über die heftigsten Ohrenschmer-
zen klagte, „Dei et naturae arbitrio''
zu überlassen. Die Ohrenschmerzen
ließen wohl bald nach, doch stellten
sich heftige, bis zur Sagittalnaht aus-
strahlende Kopfschmerzen ein, deren
Intensität nach der Witterung wech-
selte. Außerdem entwickelte sich eine
Gefühllosigkeit im linken Arme , die
sich auch auf Daumen und Zeigefinger
erstreckte, später bis zur Lende fort-
schritt und schließlich auch Unter-
schenkel und Fuß ergriff, bis die ganze
linke Körperhälfte anästhetisch war *).
Darauf wechselte, besonders des Nachts,
Gefühllosigkeit mit den heftigsten
Schmerzen in den oberen und unteren
Extremitäten. Gleichzeitig litt das
Mädchen an trockenem Husten und
unregelmäßiger Menstruation. Nach
5jährigem Leiden traten außerdem epi-
leptiforme Konvulsionen auf und der
Arm verfiel der Atrophie2). Durch die
bedenklichen Symptome geängstigt,
konsultierte die Mutter ohne Erfolg
, ohne jedoch diesen vom Vorhanden-
sein des Fremdkörpers im Ohre Mitteilung zu machen. Auch Fabricius,
der über die Krankheitsursache nicht informiert wurde, erzielte durch
interne und externe Medikation kein Resultat , bis ihn die Patientin auf
die nun seit 8 Jahren in ihrem Ohre befindliche Glaskugel aufmerksam
Fig. 6. Reproduktion des Speculum
Auris des Fabricius Hildanus aus
dem zitierten Werke, p. 17.
„medicos, chirurgos et empiricos'
Fabricius Hildanus. 153
machte. Durch die hierauf von ihm ausgeführte Extraktion wurde die
Patientin mit einem Schlage von allen ihren Beschwerden befreit. Nach
dem geschilderten Symptomenkomplex dürfte es sich in diesem Falle
um eine durch den Fremdkörper im Gehörgange bedingte Reflexneurose
gehandelt haben.
Im Anschlüsse an diese Krankengeschichte schildert er den Vor-
gang bei der Extraktion des Fremdkörpers und fügt dem Texte in
rohen Holzschnitten die Instrumente bei, deren er sich hier soAvie bei
ähnlichen Operationen bediente. Darunter befindet sich auch die Ab-
bildung des zangenförmigen gespaltenen Ohrspekulums, dessen Kon-
struktion mit den späteren Itardschen und Kr am ersehen Specula
übereinstimmt. Fabricius benützte sein Spekulum hauptsächlich zur
Erweiterung und besseren Beleuchtung bei operativen Eingriffen im Ge-
hörgange; von einer Inspektion des Trommelfells war dabei keine Rede.
Pietro de la Cerlata (s. S. 63) galt lange als der erste, der sich eines Ohr-
spekulums bedient haben soll. Die Stelle über den Ohrenspiegel in seiner Chirurgia
(Venet. 1492, Lib. V, Track IX, Cap. 9. p. 114), die beweisen soll, daß der Ohren-
spiegel ein langgekanntes Instrument sei, lautet: „Si autem fuerit (sc. surditas) a
Verruca aut a re aliqua ingressa, scitur per patientem et per inspectionem ad solem
trahendo aurem et ampliando cum speculo aut alio instrumento." Diese Stelle
ist jedoch wörtlich der „ Grande Chirurgie" des Guy de Chauliac (14. Jahrhundert)
entnommen. (La grande Chirurgie de M. Guy de Chauliac composee l'an de Grace
1363. Tours 1598, p. 530, lin. 19— 21.) Auch die Angabe Gurlts. daß Vigo (S. 64)
des Ohrenspiegels als erster gedacht, trifft nicht zu, da Chauliac lange vor Vigo
gelebt hat. — In späterer Zeit wird das Ohrspekulum auch von Falloppio (Opera
omnia. Francof. 1606, Tom. II, Tract. II, p. 238) erwähnt. — Ein dem Ohrspekulum
des Fabricius ähnlicher, als Dilatator benutzter „ Ohrspiegel " wird von Konrad
von Solingen in seinen „Handgriffe der Wundarznei" (Wittenberg 1712. S. 155.
Taf. III, Fig. 7) abgebildet.
Hier eine kurze Skizze der von Fabricius geübten Alethode der
Fremdkörperextraktion 3) : Nachdem die Patientin an einen sonnigen Ort
gebracht wurde, erweiterte er mit seinem Zangenspekulum den vorher
mit Mandelöl eingefetteten Gehörgang, suchte hierauf mit einer Somlr
(specillum) eine Stelle, wo er am besten mit seinem Ohrlöffel (cochleare)
zwischen Fremdkörper und Gehörgang ansetzen konnte und stemmte
dann mit einiger GeAvaltanwendung die bereits durch Ceruminalmassen
festgeheftete Glaskugel heraus. Außerdem hatte er noch zur eventuellen
Verwendung eine gerade Pinzette (tenaculum) zur Verfügung. Ein von
ihm ersonnenes Instrumentarium zur Entfernung von Erbsen, mit dem
der Operateur dem Kranken weniger Schmerzen bereitet als mit dem
^cochleare", welches aber zu seiner Anwendung eine größere Geschick-
lichkeit erfordert, findet auch hier Erwähnung. Es besteht aus zwei
ineinanderpassenden Röhren, von denen die mit kleinerem Durchmesser
154 Fabricius Hildanus.
an ihrem vorderen Ende eine trepanartige Zahnung besitzt. Zuerst wird
die weitere Röhre bis an den Fremdkörper geschoben, dann durch diese
die kleinere gezahnte Röhre eingeführt und durch kleine Drehungen an
den Fremdkörper fixiert. Endlich wird durch die kleinere Röhre ein
kleiner Bohrer in die Erbse eingebohrt und zum Schlüsse beide Röhren
mit Bohrer und Fremdkörper herausgezogen. Als Beispiele werden
(Observ. V, Cent. I) zwei nach dieser Methode mit Erfolg operierte Fälle
angeführt.
Schließlich berichtet Fabricius (Observ. VI) über die Entfernung
einer in den äußeren Gehörgang geratenen Nadel und (Observ. X der
Cent. VI)*) über einen Fall, wo eine Taubheit durch Extraktion einer
mit Cerumen („sordes aurium") bedeckten Grille sofort beseitigt wurde4).
Die Observ. I. der III. Cent.**) bespricht in recht ausführlicher Weise
die Entfernung eines Polypen des äußeren Gehörganges, der
nach Variola bei einem 8jährigen Mädchen sich gebildet haben soll.
Der Polyp, den Fabricius wegen seiner Form und Härte „fungus
scirrhosus'' nennt, ragte aus dem Ohre heraus und hatte den Gehörgang
bereits stark erweitert. Eigentümlicherweise verschob Fabricius die Ent-
fernung wegen der herrschenden Kälte auf das nächste Frühjahr und ver-
suchte in der Zwischenzeit interne und externe Mittel. Da die Basis des
gestielten Polypen tief im Gehörgange in der Nähe des Trommelfells saß
und die Patientin einer Exzision abgeneigt war, erdachte sich Fabricius
einen Apparat, um den Polypen hart an seinem Ursprung abbinden zu
können. Er verwendete hiezu eine U -förmig gebogene, an ihren beiden
Enden und in der Mitte durchlochte elastische Silberspange, die sich
mit ihren beiden Enden, den Polypenstiel umfassend, in den Gehörgang
einschieben ließ. Nachdem Fabricius nun einen einfachen Knoten um
den Polypen geschürzt hatte, zog er die Enden des Fadens durch die
Endlöcher seiner Silberspange und schob diese und damit die Ligatur
so tief als möglich in den äußeren Gehörgang, während gleichzeitig sein
Assistent mit einem Faden, der durch das Mittelloch der Spange geführt
wurde, den Polypen nach außen spannte. Der Faden wurde zuerst locker
liegen gelassen und erst in den nächsten Tagen nach und nach stärker
zugeschnürt. Als der Polyp abgefallen war, behandelte er den zurück-
gebliebenen Rest mit ätzender Flüssigkeit, wobei er den normalen Teil
des äußeren Gehörganges durch eingelegte Wachsplättchen schützte.
Erwähnt sei noch, daß Fabricius ein curettenartiges Instrument (von
ihm „cultellus separatorius" genannt) abbildet, das ihm zur Entfernung
von Granulationen (carunculas) im äußeren Gehörgang diente.
Die Observ. IV. ergeht sich eingehend über einen Fall, bei dem
*) 1. c. p. 507.
**) 1. c. p. 183—188.
Tafel VIII
Ihtude fchetzt van FJBJUCIVS HlLDAAN
Zyn hjhaam fchonk hy'jraf, na dat hy z» vetl iure
Den kranken, m nun ntci, 4etrjux' haä by aefla&n
De jztel in ' tUahaam tum syn bocken is qeuaarm.
\Y- VA
GUILELM. FABRICIUS HILDANUS
Fabriciua Hildanus. 155
ein Kirschkern in das rechte Ohr eines 12jährigen Knaben geriet, von
dem behandelnden Arzt mit einem spitzen Haken noch tiefer hinein-
gestoßen und erst durch die hierauf folgende Eiterung spontan ausge-
stoßen wurde. Interessant ist die Beobachtung, daß der Knabe an
Schwindelanfällen litt, schwankenden Gang zeigte und den Kopf auf die
rechte Seite hängen ließ.
Die nächstfolgenden drei Kapitel (Observ. V, VI und VII) schildern
Fälle von Ertaubung infolge heftiger Lufterschütterung (Glockengeläute,
Explosion eines Geschosses), ferner infolge eines traumatischen Insultes
(Sturz aus der Höhe). Die Unheilbarkeit in diesen Fällen bringt F a-
bricius mit der Zerreißung des Trommelfells, das er für eine Aus-
spannung des Hörnerven ansieht, in Zusammenhang; auch denkt er an
die Möglichkeit einer bloßen Erschlaffung dieser Membran, sowie an eine
Dislokation der Gehörknöchelchen.
In der Observ. XXV.*) berichtet Fabricius von einer schweren
Taubheit, die sich im Anschlüsse an eine Instillation von Flüssigkeit
in den äußeren Gehörgang entwickelte. Wir geben die mitgeteilte
Krankheitsgeschichte wegen der von Fabricius an seine Hörer ge-
richteten Lehren etwas ausführlicher. Ein 8j ähriges Mädchen war an
einem Ohrenkatarrh mit gleichzeitigen subjektiven Geräuschen erkrankt.
Von einem „Empiricus" wurde ihm eine ölige Flüssigkeit ins Ohr
eingebracht. Hierauf bekam das Kind heftige Schmerzen, die durch
mehrere Tage anhielten, ferner stellten sich Fieber und andere schwere
Symptome ein. Zwei herbeigerufene erfahrene Aerzte wendeten ver-
schiedene innere und äußere Medikamente an. Die Schmerzen und auch
die anderen bedrohlichen Symptome verschwanden nach und nach; doch
blieb eine von Tag zu Tag zunehmende Schwerhörigkeit zurück, und im
24. Lebensjahre war die Patientin bereits so taub, daß sie das Explosions-
o-eräusch einer in ihrer nächsten Nähe abgefeuerten Kanone nicht hören
konnte. Im Anschlüsse an diese mit den genauesten Daten versehene
Krankheitsgeschichte richtet Fabricius an die Studierenden der Me-
dizin (tyrones) die Mahnung, bei Ohrenleiden keine örtlichen Mittel
zu gebrauchen, bevor nicht allgemeine angewendet wurden, insbesondere
dann, wenn die Ohrerkrankung schwer und der Körper mit schlechten
Säften erfüllt sei; ferner mögen die Ohrmittel nicht scharf (acre), son-
dern sehr mild (lenissimum) sein, weil die Flüssigkeit sich leicht bis zum
Trommelfell ergieße, dann aber wegen der Krümmung des äußeren Ge-
höro-anges nicht wieder ausfließen könne. Deshalb benützt Fabricius
Wieken aus feinem Flachs und Baumwolle (turundas ex carbaso et
gossypio), die er an der Spitze mit dem Arzneimittel befeuchtet. Auch
►) 1. c. Cent. V, p. 405—406.
[56 Fabricius Hildanus.
darin, meint Fabricius, habe jener „Empiricus" einen groben Fehler
begangen, daß er in beide Ohren zu gleicher Zeit das scharfe Medika-
ment einflößte. Zum Schlüsse wird noch erwähnt, wie man Flüssigkeit
aus der Tiefe des Ohres entfernen könne. Man nimmt einen mit Be-
tonienwasser getränkten und dann gut ausgepreßten Schwamm, führt ihn
in den Gehörgang ein und läßt den Patienten auf der kranken Seite
liegen; doch muß der Schwamm eventuell häufig gewechselt und ge-
reinigt werden.
Die nächste Krankheitsgeschichte (Observ. XXVI.)*) behandelt den
Fall eines 8jährigen Knaben, der nach einer schweren Erkrankung nicht
nur taub, sondern auch stumm blieb. Fabricius erklärt ganz richtig,
daß der Knabe, der seine Muttersprache als Kind noch nicht beherrschte,
diese einfach vergaß, und sie, nachdem er einmal taub wurde, nicht
wieder erlernen konnte.
Die Observ. XXXIX.**) handelt von einem Abszeß, der sich bei
einem 40jährigen Weibe hinter dem linken Ohre bildete und, nachdem
er Faustgröße erreicht hatte, spontan nach außen durchbrach. Da die
Krankheit letal endete, dürfte es sich in diesem Falle um ein Ueber-
greifen einer Schläfenbeincaries mit Abszeß im Warzenfortsatze auf das
Gehirn gehandelt haben. Anknüpfend hieran rät Fabricius, bei
solchen Abszessen nicht bis zum spontanen Durchbruch zu warten, son-
dern früher zu inzidieren.
Am Schlüsse der Observ. II.***) spricht Fabricius „de puru-
lentis auribus". Ein 24jähriges Weib hatte seit ihrer Kindheit „puru-
lentas aures", aus denen manchmal „cocta et digesta materia", bisweilen
auch „subtilis et tenuis" floß. Gleichzeitig bestanden Schmerzen und
zeitweilig ein „foetor". Bei naßkalter Witterung klagte die Patientin
auch über Schmerzen in den Armen. Bei der Okularinspektion fand nun
Fabricius den äußeren Gehörgang mit Eiter erfüllt und beim Aus-
wischen der Ohren zog er ein Stückchen halb verfaulten Knorpel heraus.
Hierbei beobachtete er, daß bei dieser Patientin, wenn sie Mund und
Nase verschloß und eine heftige Exspirationsbewegung ausführte, Luft
aus den Ohren entwich, indem Blasen im Eiter entstanden5). Als Fa-
bricius diesen Versuch mehrmals wiederholte, berichtete ihm die Pa-
tientin, daß sie ihr Gehör bedeutend gebessert finde und daß ihr die
Krankheit wenig Unannehmlichkeiten mehr bereite.
Eine ähnliche Krankengeschichte behandelt die Observ. III. der
III. Cent. f) in der Form eines Briefes an seinen Freund Georg Horst,
*) 1. c. Cent. V, p. 406.
**) 1. c. Cent. I, p. 33.
***) Cent. III, p. 189.
-;-) P. 189.
Gaspal' Tagliacozzi. 157
dem er gleichzeitig von der Erkrankung seines Sohnes an der Pest Mit-
teilung macht. Ein oOjähriger Mann, der vor einigen Jahren am linken
Ohre an einem schmerzhaften Katarrh litt, bekam im äußeren Gehör-
gange einen „abscessus" und wurde, wie Fabricius sich ausdrückt,
mehr durch die Natur als durch die Arzneimittel geheilt. Von da an
zeigte es sich aber, daß bei Verschluß von Mund und Nase und gleich-
zeitiger heftiger Exspirationsbewegung Luft aus dem Gehörgange aus-
strömte, die von den Danebenstehenden deutlich wahrgenommen werden
konnte 6). Schmerzen waren seither nicht vorhanden, und als wunderbar
hebt Fabricius hervor, daß das Gehör kaum verschlechtert war. Es
handelt sich hier zweifellos um eine abgelaufene Mittelohreiterung mit
persistenter Perforation des Trommelfells.
*) Accidebant praeterea levo brachio quasi Stupores, usque ad cligitos pollicem
et indicem, progredientes ad lumbos usque tibiam et pedem: et ut paucis dicam.
totum latus sinistrum continuis ijs ceu stuporibus languebat.
2) Quum annis quatuor aut quinque sie doleret, aeeiderunt interdum epilepticae
convulsiones : ipsurn quoque brachium in atrophiam ineidit.
3) Primo locum splendidum elegi, ita quidem ut radii solares in auris meatum
penetrarent. Mox meatum auris undique inunxi oleo amygdalarum dulcium. Deinde
dilatato nonnihil speculo (infra figurato) auris medio (quo facilius eo possem intro-
spicere) tum oculis contemplari, tum specillo explorare coepi . . .
4) „Admoto speculo auris in profundo aliquid praeternaturale video: im-
missis itaque instrumentis . qualia hie depieta sunt, materiam quandam pinguem
flavamque, sordes aurium prae se ferentem, et prope membranam tympani tenaciter
baerentem extraxi : hinc in ipso momento tinnitus remisit, et auditum recuperare
coepit. Materiam autem banece cum diligenter inspexisse grillum semiputrid um,
sordibusque auris involutum esse reperi."
5) Id autem observatione dignum in boc affectu oecurrit , nimirum aerem.
clausis naribus et ore , tarn violenter ex auribus efflare et exspirare . ut impositis
pennis . . .
6) Ab eo tempore, quotiens cumque os et nares claudit ac bucas inflat spiri-
tumque vi expellere tentat, flatus tarn impetuose per aurem illam sinistram exspirat,
ut sibilus satis clarus ab ipsis quoque adstantibus facile pereipiatur, et candela si
auri admoveas, exstinguatur.
Gaspar Tagliacozzi. Den Chirurgen des 16. Jahrhunderts ist der
Bolognese Gaspar Tagliacozzi (1546 — 1599) beizuzählen. Ihm ver-
dankt die Chirurgie das Wiederaufleben der schon im Altertume geübten
oto plastischen Operationen. Wie früher erwähnt, haben schon
die Inder und später Celsus und die Byzantiner versucht, verloren ge-
gangene Stückchen der Ohrmuschel auf plastischem WTege zu ersetzen.
Später war es der sizilianische Wundarzt Branca aus Catania und
dessen Familie, die dieses Verfahren übten. Von ihnen ging die Kenntnis
der plastischen Operationen auf die Familie Vianeo (Bojani) zu Tropaea
in Kalabrien über, von der sie Tagliacozzi erlernt haben dürfte.
Tagliacozzi, der sich eingehend mit dieser Operationsmethode
Li
Gaspar Tagliacozzi.
beschäftigte, beschreibt in seinem 1597 zu Venedig, ein Jahr später in
Frankfurt erschienenen Werke*) die plastischen Operationen an der
Nase, an den Lippen und am Ohre nach Methoden, die sich zum großen
Teile noch bis jetzt in der Chirurgie erhalten haben. Das am Schlüsse
des Werkes angegebene Verfahren zur Wiederherstellung von Ohr-
defekten wird durch mehrere rohe Holzschnitte illustriert. Bei ganz-
lichem Mangel der Ohrmuschel rät er von jeder kosmetischen Operation
ab. Nach seiner Erfahrung könne nur bei partiellen Defekten ein günstiges
Resultat erzielt werden, und zwar seien die Chancen für den Ersatz des
unteren Teiles der Ohrmuschel viel
günstiger als bei Defekten des obe-
ren Abschnittes, weil dieser eine kom-
pliziertere Form habe und wegen
seiner vom Kopfe abstehenden Stel-
lung schwerer ernährt werde. Zum
Ersatz des Defektes entnimmt er Haut-
lappen der benachbarten Gegend hin-
ter und unter dem Ohre, und zwar
bei Mangel des oberen Teiles
von der oberen Gegend des Pla-
num mastoideum (Fig. 7), und
bei Mangel des unteren Ab-
schnittes von der s eitlichen
Halsgegend *). Bei der Lappenbil-
dung am Planum mastoideum wird
die über dem Warzenfortsatz ver-
laufende Arterie verletzt2). Mit ge-
radem Schnitt 3) durchtrennt er das
vorher mit Schwarzstift umzeichnete
Hautstück und heftet den gestielten Lappen in einem Akte an die
unter Schonung des Knorpels1) sorgfältig wundgemachten Ränder der
Ohrmuschel an.
'l 1. c. p. 604. Icon vigesimasecunda.
") Cum enim per locum ex quo tradux excinditur, insignis quidam arteriae
ramus perreptet, quem velis nolis oportet incidere. 1. c. p. 547.
3) Nee negligere illud oportet, ut quantum fieri poterit, ad reetam lineain
ducatur sectio. 1. c. p. 552.
') Interea feriet autem curtam , et acutissimo ferro ad extremam eius oram
Collum detrahet, cavens ne cartilaginem dilaceret. 1. c. p. 552.
Fig. 7. Ersatz des defekten, oberen Ab-
schnittes der Ohrmuschel B durch einen
oberhalb des Planum mastoid. entnom-
menen Haut läppen A. — Reproduktion
aus dem zitierten Werke Tagliacozzis,
p. 604.
*) Cheirurgia nova Gasparis Taliacotii de narium, aurium. labiorumque defectu,
per insitionem cutis ex humero, arte hactenus omnibus ignota, sarciendo etc.,
Francofurti 1598. Lib. II, Cap. 20 De curtarum aurium chirurgia. p. 546 — 558.
Ütologische Literatur im 16. Jahrhundert. 159
Außer den im Texte angeführten Autoren sind noch folgende in dieser Periode
erschienene Schriften zu erwähnen, die nur unwesentliche otologische Details enthalten.
Hieronymus Cardanus, De Subtilitate. Lib. XXI.
Carbo Ludovicus, Inferior horno vel de sui ipsius cognitione. Coloniae
1597. De auribus et auditu spirituali. Cap. 55 u. 56.
Jo. Ferrerius, Auditum esse magis necessarium quam visum. Parisiis 1539.
Cipriano Giambelli, Trattato dell' Anima. Trevigi 1594. Della Vista e
dell' Udito. Lib. 1.
Baccius Andreas, De thermis, lacubus, fluminibus, balneis totius orbis.
Venetiis 1571. De Aurium morbis. Lib. III, Cap. 1, p. 138.
Jo. Alphonsus de Fonsecha. Medicorum Incipientium medicina etc.
Madriti 1598. Luminar. 2. Cap. 3, p. 104 et seqq. multa de auribus.
Galeotus Martius, De Homine. Basileae 1517. De Auribus. Lib. I, p. 12.
Sim. Maiolus, De Irregularitate. Romae 1585. De Aurium defectibu*.
Lib. I, Cap. 25.
Franc. Petrarcha, De remediis utriusque fortunae. Basileae 1581. De
Auditu perdito. T. I.
Plutarchus, De Auditione libellus: inter Moralia. Basileae 1573.
Bartolomeo Montagnana (f 1525), Selectiorum Operum, ubi consilium de
Aegritudinibus aurium. Francofurti 1604.
Barthelemy Pardoux (Perdulcis 1545—1611), Univer^a medicina ex medi-
corum principum sententiis. Lugduni 1651. Lib. XIII, Sect. 4. Cap. 3 et seqq., de
Aurium tinnitu, surditate et parotide.
Giovanni Battista della Porta (1536 — 1615). Magia naturale. Napoli 1677.
Lib. XX, Caj). 5 d'un istrumento per udir da lontano.
Id.. Fisonomia, ridotta dallo Stelluti. Roma 1637. Fol. 36, Lib. II, delle Orecchie.
Id.. Phytognoruonica Plantarum etc. Rothomagi 1650. Lib. III, Cap. 40,
magnarum aurium animalia ad auditus gravitatem valere.
Thomas Feyens (Fienus 1567), Simiotice. de Signis medicis. Lugduni 1633.
Part. 2a. Cap. 3. £ 7, ab auribus.
Johann Dolaeus (1651 — 1707), Encyclopaedia chirurgica rationalis. Franco-
furti 1703. Lib. I, Cap. 14—15, p. 109 — 131. De aurium dolore, inflammatione etc.
Marcellus Donatus, De medica historia mirabili libri VI. Mantuae 1586.
Lib. II, Cap. 12. p. 77—78.
Duncan Liddel (1561 — 1613), Ars medica, succincte et perspicue explicata.
Hamburgi 1608. Lib. III, Cap. 7, p. 301—304.
Reinert Solenander, Consiliorum medicinalium sectiones quinque. Francof.
1596. Sect. I, Cons. 3 et 4, p. 14—20: Sect. II, Cons. 10 et 11, p. 130—132.
Joh. Schenk von Grafenberg (1530 — 1598), Observationes medicinal.
Francof. Lib. I. p. 175- 17s.
Henricus Petraenus (1589 — 1620), Nosologia harmonica . dogmatica et
hermetica. Marburg 1615. Diss. XI, p. 204—223.
Jean Baptiste van Helmont (1577 — 1644), Opera. Herausgeg. von seinem
Sohne Franciscus Mercurius Helmont. Lugd. Bat. 1677.
Marcus Aurelius Severinus (1580 — 1656). De efficaci medicina. Franco-
furti 1646. Lib. VII, p. 295.
Hieronymus Provenzalis, De sensibus. Romae 1597. Part. II. Cap. 26
et seqq., de sensu, organo et situ auditus.
Raph. Volaterranus. Commentaria. Lib. XXIV. Fol. 738, Aures. Lugduni 1552.
Stand der Otiatrie im 17. Jahrhundert.
Ein Ueberblick der Leistungen auf otologischem Gebiete im 17. Jahr-
hundert ergibt nur wenig Erfreuliches. Den Leistungen der großen
Italiener in der vorhergehenden Epoche gegenüber erscheinen die Ergeb-
nisse des 17. Jahrhunderts eher als ein Rückschritt. Dies gilt insbesondere
von Deutschland, wo die wissenschaftliche Forschung durch den dreißig-
jährigen Krieg auf das niedrigste Niveau herabgedrückt wurde, während
sich gleichzeitig in Frankreich und in den Niederlanden eine erfolg-
reiche wissenschaftliche Tätigkeit entwickelt, die auch unserem Fache
zu gute kommt.
Immerhin sind in diesem Jahrhundert mehrere für den Fortschritt
der Naturwissenschaften und der Medizin epochale Ereignisse zu ver-
zeichnen, deren Ergebnisse für die Otologie allerdings erst im folgenden
Jahrhundert zu Tage treten. Wir meinen die Erfindung des Mikroskops
und die neue Richtung der naturwissenschaftlichen Forschung durch die
von dem genialen Baco von Verulam inaugurierte induktive Methode.
Wir würden jedoch zu weit gehen, wollten wir das ganze 17. Jahr-
hundert als eine sterile Zeit für die Otologie bezeichnen. Denn am Aus-
gang des Jahrhunderts begegnen wir zwei Forschern , deren Leistungen
einen Wendepunkt in der Otologie bedeutet: Du Verney und Val-
salva. Da das Wirken des Letzteren zum Teil in das folgende Jahr-
hundert fällt und mit dem seines Schülers Morgagni im engen Konnexe
steht, so erscheint es gerechtfertigt, Valsalva an die Spitze der italieni-
schen Anatomen des 18. Jahrhunderts zu stellen.
a) Anatomie und Physiologie des Gehörorgans im
17. Jahrhundert.
(Erste Periode.)
Die lange Periode von Casserio bis Du Verney ist hinsichtlich
der anatomischen Entdeckungen am Gehörorgane mit der vorhergehenden
großen italienischen Epoche nicht in Vergleich zu ziehen. Trotz des
raschen Anwachsen der Spezialliteratur ist die Summe hervorragender,
neuer anatomischer Beiträge nur recht bescheiden. Immerhin aber zeigt
Die Ohranatomie in Italien im 17. Jahrhundert. 161
das vorliegende historische Material, daß der Kreis der Forscher, die
der Ohranatomie ihr Interesse zuwendeten, immer größer wurde und
daß die französischen, englischen, dänischen, niederländischen und deut-
schen Anatomen, die nun — allerdings spät — den hohen Wert der
Forschungsergebnisse der Italiener anerkannten, sich eifrig am Aufbau
der Anatomie beteiligten.
Während im 16. Jahrhundert außerhalb Italiens die Ohranatomie
nur andeutungsweise behandelt wurde, finden wir im 17. Jahrhundert
kein anatomisches Werk, in dem dieser Teil der Anatomie nicht be-
rücksichtigt würde. Ja wir finden Schriften, die ein bestimmtes Thema,
z. B. das Schläfebein, das Trommelfell, die Gehörknöchelchen u. a., ge-
sondert behandeln.
Im ganzen stellt sich dieser Zeitraum als Uebergangsperiode dar.
Die groben anatomischen Verhältnisse waren zum großen Teile auf-
gedeckt. Für die feinere Zergliederung aber fehlte noch jene aus-
gebildete Technik und Schärfe der Beobachtung, welche die Männer der
folgenden Periode, Valsalva und Morgagni, charakterisiert.
Die physiologischen Anschauungen über die Gehörfunk-
tion bewegen sich anfangs noch zum großen Teile in dem Gesichtskreis
des Koyter und Casserio, doch wurden später im Anschluß an den
großen Aufschwung, den die Physik insbesondere durch französische und
italienische Forscher nahm, die Kenntnisse über den Schall und über
Schallfortpflanzung wesentlich vertieft und erweitert.
Auch in diesem Zeitabschnitt leisteten die Italiener noch Einiges,
doch behaupteten sie nicht mehr in dem Maße das Uebergewicht wie
in der früheren Periode. Jetzt sind es namentlich französische und
niederländische Forscher, deren Leistungen rühmend hervorgehoben wer-
den müssen. Von den Männern, die sich um die Ohranatomie verdient
gemacht haben, sind zu erwähnen: die Italiener Caecilius Folius,
Marchetti, die Deutschen Heinrich Glaser, Michael Lyser, Bohn
und der Schweizer Bonet, die Niederländer De le Boe Sylvius,
Tulpius und Spighel, die Dänen Nicolaus Steno, Bartholin,
der Engländer Th. Willis, die Franzosen Claude Perrault und
Jean Mery u. a. — Für die Physiologie des Gehörorgans und die
Schallehre kommen in Betracht Kircher, Molinetti, Willis, Lamy,
Bartoli, Mersenne und Gassend i.
Italien.
In dem Vaterlande der wichtigsten anatomischen Entdeckungen auf
otologischem Gebiete trat nach Casserio ein lange dauernder Stillstand
ein. Die glänzende italienische Epoche der anatomischen Forschung
fand im 17. Jahrhundert nur kleine Epigonen. Erst im 18. Jahrhundert
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 11
152 Caecilius Folius.
wurde durch Valsalva und Morgagni, Cotugno und Scarpa die
Reihe jener Forscher geschlossen, welche den Ruhm der italienischen
Anatomen für immer begründet haben.
Das Hauptinteresse in dieser Periode hatte sich den Tiersektionen,
die allerdings auch für die Ohranatomie manches Ersprießliche ergaben,
und der von Malpighi begründeten mikroskopischen Anatomie zuge-
wendet. In der auf Zergliederung von Tieren basierenden anatomischen
Forschung haben sich Rondeletti, Ulysses Aldrovandi x), namentlich
aber Marc Aurelius Severinus (1580 — 1656) hervorgetan. Letzterer
bevorzugte die Sektion von Tieren vor der menschlichen Anatomie und
legte seine Ergebnisse in der „Zootomia Democritea" (Nürnberg
1654) nieder. Die mikroskopische Anatomie wurde in glänzendster Weise
durch Malpighi (gest. 1694) gefördert. Seine mit Silvestro Bon-
figlioli unternommenen Untersuchungen über das Gehörorgan brachten
jedoch nichts Neues. Erst seinem Schüler Valsalva war es vorbehalten,
sein ganzes Talent und seinen unermüdlichen Eifer in den Dienst der
otologischen Forschung zu stellen.
Unter den vor Valsalva wirkenden Anatomen seien im folgenden
jene Italiener genannt, denen die Ohranatomie wenn auch keine hervor-
ragende, so immerhin eine erwähnenswerte Förderung verdankt.
') De piscibus libri quinque. De Cetis liber unus. Francofurti 1670. 1. c.
Lib. IV, Cap. 2. p. 159; Lib. I, Cap. 19; Lib. II, Cap. 25, p. 23.
Caecilius Folius. Zu den Anatomen, die sich durch Entdeckung
eines einzelnen Details einen Namen in der Anatomie erworben haben,
zählt Cecilio Folio (1615 — 1650). Zu Modena geboren, studierteer an
der Universität Padua, wo er an der anatomischen Lehrkanzel der Nach-
folger Veslings wurde. Nach Niederlegung seines Lehramtes nahm er
bleibenden Wohnsitz in Venedig. Er hinterließ die Resultate seiner
anatomischen Untersuchungen über das Gehörorgan in einer dem Tho-
mas Bartholinus gewidmeten Tafel mit sechs anatomischen, in Kupfer-
stich ausgeführten Abbildungen, welche wohl zu den besten jener Zeit
gehören, nach unseren heutigen Anforderungen aber durchaus keinen
Anspruch auf Naturtreue erheben können. Wir finden daher das über-
s( liwengliche Lob, welches Portal dieser Tafel widmet, in keiner Weise
gerechtfertigt.
Die den Titel „Nova auris internae delineatio" (Venet. 1645)
führende Tafel*), der außer der Widmung nur zwei Seiten Figuren-
erklärung, aber kein beschreibender Text beigegeben ist, enthält unter
*) Von mir wurde die in den „Disputation, anatomicar. selectar". Vol. III
des Albr. v. Hall er enthaltene Tafel des C. Folius benützt.
Caecilius Folius. \Q%
anderem die bekannte Entdeckung des Folio, die des langen Ham-
merfortsatzes (Processus longus spinosus s. Folii).
Zwar war dieser schon dem Koyter (Proc. primus), Casserio (Proc.
anterior elatior et exilior) und Fabricius ab Aquapendente nicht ganz unbe-
kannt, wurde aber von Caecilius Folius zuerst als eigener Fortsatz be-
schrieben und abgebildet. Dieser Fortsatz führt wohl auch mit mehr
Berechtigung den Namen „Processus Ravii" nach dem deutschen Ana-
tomen Jac. Ravius, der den beim Neugeborenen in seiner ganzen
Länge darstellbaren, grazilen langen Fortsatz zuerst beschrieb, während
Folius nur den kurzen Rest desselben beim Erwachsenen darstellte
und abbildete. Von inneren Ohrmuskeln nennt Folius den Muse. rot.
intern, (tensor tympani) sowie einen Muse. aur. extern., der sich an dem
langen Fortsatz inseriert. Dieser Musculus Folii (laxator major s. obli-
quus) ist aber wohl nichts anderes als das vordere Band des Hammers
(ligamentum mallei anterius s. process. long, mallei).
Von den sechs Abbildungen der Tafel stellt die erste das Laby-
rinth und die Schnecke mit der Fenestra rotunda (Cochleae) und
ovalis (vestibuli) dar. Die halbzirkelförmigen Kanäle (Circumvolutiones)
werden ziemlich gut abgebildet. In der Erläuterung spricht Folius von
einem kleinen Loch, welches in eine der Schneckentreppen einige
Blutgefäße durchtreten läßt. Der Fazialkanal wird als Aquaeductus
Fallopiae bezeichnet, durch den die Portio dura des Nervus audi-
torius geht.
Die zweite Abbildung enthält unter anderem Detail der Trom-
melhöhle auch den obenerwähnten langen Hammerfortsatz („subtilior
Processus, cui alligatur musculus alter auris externus").
Die dritte Abbildung bringt die Gehörknöchelchen zur An-
sicht, von denen jedoch nur der Amboß und Stapes gut getroffen sind,
während das Detail des Hammers mit seinem zu lang geratenen Hals,
dem viel zu kurzen Hammergriff und der falschen Stellung des langen
Fortsatzes sofort als mißlungen in die Augen fällt. Was Folius als
Stapedis osseus globulus in dieser Abbildung bezeichnet, wird von Manchen
als das Linsenbein gedeutet.
Die vierte Figur stellt die Schnecke in zwei und einer halben
Windung mit ihren beiden Skalen dar, die fünfte die einzelnen Teile
des Gehörorgans im Zusammenhange in richtiger topographischer Lage.
An der sechsten mehr schematischen Abbildung sieht man unter
anderem die Scheidewand, welche die Schnecke in zwei Treppen teilt
(„intermedium quoddam cochleam in duos gyros dividens"), ferner daß
zwei Bogengänge, der senkrechte und hintere, mit einer gemein-
schaftlichen Oeffnung in den Vorhof münden, woraus sich also im
ganzen fünf Oeffnungen ergeben.
164 Domenico de Marchetti.
Domenico de Marchetti (1626 — 1688), Assistent Veslings und
Nachfolger auf dem Lehrstuhle für Anatomie zu Padua, schildert in
seinem Handbuche der Anatomie*) das Gehörorgan im Sinne seines
Lehrers, weicht jedoch in mancher Beziehung von ihm ab. So beschreibt
er irrtümlicherweise den kurzen Amboßschenkel in Verbindung mit dem
Trommelfellring und erwähnt ein membranöses Ligament, das den langen
Amboßschenkel mit dem Stapes verbindet *). Er leugnet ferner das von
Sylvius und seinem Lehrer Vesling beschriebene Linsenbein (ossiculum
quartum) oder wenigstens dessen konstantes Vorkommen 2). Schnecke
und Labyrinth (Bogengänge) schildert er eigentümlicherweise als zwei
vereinigte Knochen in „tympani cavitate" s), das Labyrinth als aus vier
runden Höhlungen bestehend (ex quatuor constituitur cavitatibus rotundis),
von denen der „aer" gereinigt (puriorfactus) zur Schnecke hinabsteigt.
Von der Schnecke weiß er, daß sie aus zwei Windungen und dem Teile
einer dritten besteht. Unverständlich ist die Beziehung, in die er die
trockene und gebrechliche Substanz der Schnecke mit der besseren Kon-
servierung des Tones bringt4). Das innere Ohr versorgen seiner Ansicht
nach Aeste vom dritten (N. trigeminus) und fünften Nervenpaare (N. fac.
u. acust.). Als Ast des dritten Nervenpaares sieht er die Chorda an, die
einerseits durch die Trommelhöhle verlaufe, sich mit dem Gesichtsnerv
verbinde und sich anderseits im Warzenfortsatze ausbreite. Ob Mar-
chetti, wie von Manchen behauptet wird, einer der ersten war, die
mit Entschiedenheit das Vorkommen des später vielfach diskutierten
„foramen Rivini" im Trommelfelle gesehen hat, kann aus den in der
„Anatomia" vorliegenden Angaben nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
Für diese Ansicht Marchettis scheint vielleicht die im physiologischen
Teile entwickelte Theorie zu sprechen, daß die äußere Luft in den
Gehörgang und dann in die Trommelhöhle gelange5); doch ist bei der
Trommelfellbeschreibung und auch sonst an keiner Stelle von einem
„foramen" die Rede. Endlich sei noch die auf falschen Voraussetzungen
basierende Meinung Marchettis erwähnt, daß die „audiendi facultas"
allen Teilen des Gehörorgans insgesamt zukomme, dem Nerv, dem
Trommelfell, den Knöchelchen, und nicht irgend einem dieser Teile allein5).
') Ex Pedibus primus, et brevior, annulo tympani connectitur: alter vero, liga-
mento membranoso, ossiculo alteri adhaeret, quod Os Stapes dicitur. p. 225.
2) Additur a Sylvio, et ä Veslingio, quartum ossiculum, quibus ego non
assentior: quoniam in medio istorum ossiculorum nibil aliud reperitur, nisi liga-
mentum, quod ipsa ossicula alligat. p. 225.
3) Caeterum, in tympani cavitate, duo ossa unita, sed ä figura distincta resident,
quorutn unum cocblea, alterum verö Labyrinthus nuncupatur. p. 226.
*) Anatomia, cui responsiones ad Riolanum, Anatomicum Parisiensem, in i25sius
Animadversionibus contra Veslingium additae sunt. I. edit. Paduae 1652. III. edit.
Lugd. Batav. 1688, Cap. 16, p. 220—230. De Auribus.
Antonio Molinetti. 165
4) Est Cochlea aurium cavitas, in processu petroso posita, ex duobus gyris cum
aliqua portione tertii , cujus substantia siccissima est, facileque frangibilis, a natura
sie producta, ut melius sonum conservare, et puriorem detinere possit. p. 227.
5) Cui dabitur igitur ex istis portionibus sensus auditus? Non nervo: nam,
eo laeso, auditus amittitur: non membranae tympani, non ossibus; nam, illis quoque
laesis , cessat audiendi facultas. Vidi ego quendam membrana tympani carentem,
cui sensus auditus defecerat: unde audiendi facultas non est propria, sed communis
omnibus istis partibus. p. 229.
Antonio Molinetti (gest. 1673), ein venetianischer Arzt, später
Professor zu Padua, gibt in seinen Werken: „Dissertationes anatomicae
et pathologicae de sensibus et eorum organis" (Padua 1669)*) und
„Dissertationes anatomico-pathologicae, quibus humani corporis partes
aecuratissime describuntur morbique singulas divexantes explicantur"
(Venedig 1675)**) nichts, was einen Fortschritt in unserem Fache be-
deuten könnte. Im letzten Werke nimmt eine weitläufige und ge-
künstelte Parallele zwischen der Physiologie des Auges und des Ohres
den größten Raum ein. Seine anatomische Beschreibung ist an vielen
Stellen mangelhaft, am oberflächlichsten wird das innere Ohr behandelt.
Die Chorda beschreibt er richtig als Ast des fünften Nervenpaares und
zwar der „pars dura" (N. facialis) und erklärt alle Angaben, die sie
vom vierten Nervenpaare herleiten, als Irrtümer1). Er läßt sie in den
Hammermuskel gehen und sich dort ausbreiten 2). Auf diese irrige
Annahme baut er eine eigentümliche Hypothese der Chordafunktion.
Die mit dem Trommelfell und Hammer gleichzeitig erschütterte Chorda
soll den Hammermuskel mehr oder minder innervieren, wodurch in
weiterer Folge das ovale Fenster durch die Stapesplatte mehr oder minder
fest verschlossen werde3). Er behauptet ferner, daß der Folianische
Fortsatz dem Annulus tympanicus fester als dem Hammer anhafte 4).
Daß Schwerhörige bei geöffnetem Munde besser hören, erklärt er damit,
daß die durch die Tube eindringende Luft die Schwingungen der
Stapesmembran verstärke und somit die „innere Luft" des Labyrinthes
in intensiverer Weise erschüttere 5). Seine gehörphysiologischen An-
schauungen, die noch immer im „aer ingenitus" fußen, sprechen sich
in folgender Hypothese aus: der Schall, resp. die Erschütterung der
äußeren Luft pflanzt sich durch das Trommelfell und die Gehörknöchel-
chen fort und gelangt zur Membran des Stapes. Dieser teilt Moli-
netti eine wichtige Rolle zu; sie wird nämlich in Schwingungen ver-
setzt, dadurch der Schall verstärkt und die im Labyrinthe befindliche
*) Cap. 7, p. 39 nach Lincke (1837). Cf.: Bibliotheca anatomica sive recens
in anatomia inventorum thesaurus locupletissimus etc. Gencve 2 voll. 1699. T. II,
p. 273. Memoires de Trevoux 1707. p. 415 . . . 1685.
**) Lib. IV, Cap. 7—10, p. 160—172.
Itiii Antonio Molinetti.
Luft erschüttert. In den Bogengängen wird der Schall (resp. die in
Schwingung versetzte innere Luft) konzentriert und reflektiert und ge-
laugt hierauf in die Schnecke. Dort trifft er auf die Endigungen des
Hörnerven, von denen er zum Gehirne geleitet wird.
') Nunc autem de origine dicamus, et quidem communis hactenus sententia
obtinuit , originem nerui huius esse a coniugatione quarta nervorum cerebri ; quod
opinione magis, quam rei veritate asseritur; cum enim, surculum esse coniugationis
quintae impossibile duxerint, in quartana fere omnes concessere, persuasi scilicet ab
alia nulla ex magis distantibus propagari neruulum posse : nulla igitur bactenus
certior cognitio de ortu huius nerui fuit; cum, neque illi , qui ita opinati sunt,
manantem a quarta neruum ostendere potuerint. Nee mirum , nam a quinta suam
trahit originem, quae res omnino ita se habet, p. 166.
2) Rimulam inde nactus alteram, ad latus pariter Tympani, per illam in mus-
culum contendit, describendum, deineeps, per quem diffunditur. p. 167.
3) Sequitur igitur necessario , vt quoties aer sonorus , hoc est ab extrinseco
percussus, membranam Tympani percutit, neruus, qui inter membranam et malleum
est, percussionem excipiat eiusque modum impertiat statim musculo illi interno auris;
hie vero aptans se usui , subito corripitur , et magis quidem ac minus , pro modo
percussionis primae ; Correptus itaque musculus Mallei processum trahit. cui inseritur,
Incudisque positum proinde inuertit, cuius caput articulatur capiti Mallei. vt posteä
dicam : cumque ineudis processui oblongo. superiori angulo, et obtusiore stapes ad-
haereat, sequitur etiam necessario, vt ad modum trahentis musculi, stapes eleuetur.
et magis, vel minus attollatur ä foramine ouali labyrinthi, quod naturaliter obsidet,
vt diximus, illudque magis aut minus patulum esse cogat. p. 167.
4) Arctius quippe annulo adhaeret, vel circulo Tympani, quam Malleo.
p. 167.
5) Causam denique colligamus , propter quam , qui minus perfecta audiunt,
dieta excipere ore aperto student, scilicet aer ex palato per foramen dictum Tym-
panum subit, et insinuatus in aerem Tympani, motum ex percussione membranae
adaugens, eundem cogit in membranulam Stapedis maiori cum impetu ferri, et illum
pariter mouere vehementiüs, qui est in labj'rintho.
D. Bartoli. Hier wäre noch des vielseitigen Jesuiten Daniele Bartoli
(1608 — 1684) zu gedenken, dem die Akustik ein wertvolles physikalisch-physiologisches
Werk: „Del Suono, de Tremori armonici e dell' Udito", Komae 1679,
Bononia 1680, verdankt. In diesem sucht er nachzuweisen, daß feste Körper ebenso
wie die Luft geeignet sind . den Schall fortzupflanzen und zu übertragen , und daß
die Konsonanz der tönenden Körper abhängig sei von der Uebereinstimmung ihrer
Vibrationen. Er schloß im Gegensatz zu Kircher und Gassendi, daß sich starker
Schall nicht schneller und leichter als schwacher fortpflanze und erklärte den
Mechanismus des sogen. Ohres des Dionys von Syrakus aus akustischen Ge-
setzen. Nach Hai ler in seinen „Praelectiones Academicae Boerhavü" soll Bartoli
die Funktion der Tuba als Ventilationsapparat der Trommelhöhle bereits gekannt
haben. Seine Angaben über den Nutzen der einzelnen Teile des Gehörorgans bieten
ebenso wie seine Notizen über Pathologie und Therapie der Ohrenerkrankungen
nichts Erwähnenswertes.
Unter den italienischen Anatomen sind noch Colle, Cortesius und Man-
fredi zu nennen.
Giovanni Colle aus Belluno. Professor zu Padua (gest. 1631), bringt in seiner
Johannes Wesling. 167
Sammlung chirurgischer und anatomischer Merkwürdigkeiten*) nur wenig Bemerkens-
wertes über das Gehörorgan.
Giambattista Cortesi (1553 — 1639['?]) aus Bologna, Schüler des um die
Rhino- und Otoplastik verdienten Tagliacozzi, teilte in seinem medizinischen
Sammelwerke auch einiges aus der Ohranatomie mit und fügte mangelhafte eigene
Abbildungen hinzu**).
Paolo Manfredi, Professor zu Rom, wendet sich in seinem „Novae circa
aurem observationes"***) vorzugsweise der Detailanatomie der Gehörknöchelchen zu,
an denen er Feinheiten erkannte , die den früheren Anatomen entgangen waren.
Besonders hervorzuheben ist seine Schilderung der Gelenksverbindungen der Gehör-
knöchelchen, das Ligament zwischen Amboß und Linsenbein, die Membran des Stapes
und die Furchen seiner Schenkel.
Von minderer Bedeutung für diese Epoche in Italien sind Curtius Mari-
nellusf), Aemilius Parisanusff), Octav. Scarlatinusfff), welche die Ana-
tomie des Gehörorgans bloß vorübergehend streiften, Cremoninus Caesar*-;-) und
Bonaventura**-;-), die die Physiologie des Gehörorgans kursorisch behandelten.
Deutschland.
Die Leistungen der Deutschen auf otologischem Gebiete müssen in
dieser Periode als sehr geringfügig bezeichnet werden, da die Ana-
tomen fast durchwegs ihre Daten aus italienischen und fremdländi-
schen Werken entlehnten. Wir können uns daher auf eine kurze
Uebersicht der otologischen Literatur der zeitgenössischen deutschen
und schweizer Autoren beschränken. Hervorzuheben sind die anatomi-
schen Schriften J. Veslings, Michael Lysers, J. H. Glasers,
die physiologischen Arbeiten Joh. Bohns und des Physikers Ath.
K i r c h e r und das die pathologische Anatomie behandelnde Werk des
Theophile Bonet.
Johannes Veslingius (Wesling, 1598 — 1649) aus Minden, ein
Westfale , der seine medizinische Ausbildung in Wien erhielt , wurde
nach vorübergehendem Aufenthalte in Venedig, wo er Privatvorlesungen
über Anatomie veranstaltete, wegen seiner hervorragenden Begabung im
Jahre 1632 als Professor der Anatomie nach Padua berufen. Die Hoch-
schätzung seiner Zeitgenossen ergibt sich aus der Tatsache, daß sein
Hauptwerk, das „Syntagma anatomicum", ins Italienische, Deutsche,
Englische und Niederländische übersetzt wurde 1).
*) Elucidarium anatomico-chirurgicum ex Graecis, Arabibus et Latinis selectum.
Venet. 1621. Cf. Haller, Element, phys. Vol. V, Lib. XV, Sect. § 12.
**) Miscelleanorum medicorum Decades X, vid. Dec. I.
***) Novae observationes circa uveam oculi et aurem. Romae 1668.
f) Anatomia. Patav. 1652.
ff) De morbis nobiliores animae facultates obsidentibus. Venet. 1615.
fff) Homo et ejus partes, figuratus et symbolicus. Bonon. 1680.
*f) Tractatus de sensibus externis. Messan. 1637.
**f) Quid sit sonus? Mediol. 1681.
158 Johannes Wesling.
Vesling teilt das Gehörorgan in eine „Auris externa", wozu er
bloß die Ohrmuschel mit dem äußeren Ohrmuskel rechnet, und in
ein „Auditus Organum", unter welchem Begriff er die übrigen Teile
des Gehörorgans, nämlich den äußeren Gehör gang, die Trommel-
höhle, das Labyrinth und die Schnecke zusammenfaßt. Das
Trommelfell ist nach ihm nur eine Ausspannung des Periosts, mit dem
es ununterbrochen zusammenhängt, und wegen der in ihm verlaufenden
und unter ihm hinwegziehenden Nerven sehr empfindlich. Manchmal will
er es doppelt beobachtet haben2). Ob Vesling unter einem von ihm
erwähnten, als „subtensumque exile ac nerveum" beschriebenen Ligament
die Chorda versteht, wie es sein Kommentator Gerard Blasius deutet,
läßt sich aus dem vorliegenden Text nicht mit Sicherheit feststellen 3).
Unklar ist auch seine Beschreibung des Annulus tympanicus, den
er nicht unter diesem Namen kennt. Er spricht von ihm bloß als
einer „proximae cavitatis orbita", in die das Trommelfell fest eingefügt
worden sei, die obere Stelle ausgenommen, an der es leicht gelinge, das
Trommelfell herauszuziehen (unsere jetzige Incisura Rivini) 4). Die Ge-
hörknöchelchen hält er wie alle anderen Anatomen jener Zeit für
„membranis destituta" (periostlos); den Hammergriff (pediolus sive cauda)
beschreibt er als am Ende ein wenig nach einwärts gedreht, wodurch
er das ihm anhaftende Trommelfell leicht gegen die Mitte hinein-
ziehe5). Die Hammer-Amboßverbindung sieht er für wenig fest
an. Den Hammermuskel fand er mit zwei, in seltenen Fällen mit einer
Sehne sich am Hammer inserieren. Verhältnismäßig zutreffend darge-
stellt sind Amboß und Steigbügel, weniger das Linsenbein, von
ihm „Ossiculum quartum" genannt. Dieses beschreibt er als dem Steig-
bügelligament (wofür er die Sehne des Muse. Stapedius hält) eingefügt 6).
Erwähnt werden ferner das Antrum mastoideum („antrum laxum"),
die Tube („e tympano ad palatum meatus"), die „fenestra ovalis"
und die „fenestra rotunda". Mangelhaft geschildert ist der Vorhof
und die Bogengänge („Labyrintbus"), denen er vier Foramina zu-
spricht, und die Schnecke („Cochlea"), die er mit zwei Windungen und
einer teilweisen dritten darstellt. Er erspart sich hier eine weitläufige
Beschreibung, indem er auf die wenig gelungenen Abbildungen verweist.
Den Hörnerv („portio mollior") findet er am Ende des inneren Gehör-
ganges vom Gesichtsnerv (portio durior) durch einen leichten Knochen-
vorsprung geschieden. Der größere Teil des Hörnerven begibt sich in
die Mitte der Schnecke, ein kleinerer in die Bogengänge, beide der
Hörfunktion dienend 7). Ein kleiner Ast unseres dreigeteilten Nerven
(„a quarta nervorum conjungatione") verlaufe mit dem „fünften Nerven-
paar", werde in einer versteckten Grube des inneren Ohres aufgenommen
und gelange in die Trommelhöhle, wo er sich in zwei Aeste teile, von
Michael Lyser. 169
denen der eine sich mit dem Gesichtsnerven verbinde, während der
andere die Höhlungen des Warzenfortsatzes innerviere. Dieser Ast ver-
sorge mit sensiblen Fasern die Schleimhaut, mit motorischen die inneren
Ohrmuskeln 8). Obwohl Vesling noch am Aer ingenitus des „Labyrinthes"
und der Schnecke festhält, räumt er ihm doch bei der Hörfunktion keine
Rolle mehr ein , sondern hält die Schnecke für das eigentliche Per-
zeptionsorgan 9).
a) Syntagrna anatomicum, publicis dissectionibus in auditorium usum diligenter
aptatum. Padua 1641. — Ich habe hier „Joannis Veslingii Syntagrna anatomicum,
commentario atque appendice ex veterum, recentiorum, propriisque, observationibus,
illustratum et auctum a Gerardo Blasio, Ed. II, Amstelodami 1666" verwendet. De
Auribus. Cap. 16. p. 246—259.
2) Periostii expansio quaedam videtur, quo separato et ipsa protinus secedit,
sensuque propter nervös, et quos suscipit, et qui sub ea progrediuntur, exquisito valde
praedita. Duplex interdum conspicitur. 1. c. p. 249.
3) Est autem velamentum auris internum, tenue quidem, attamen ob singularem
lentorem, subtensumque exile ac nerveum ligamentum satis firmum, ut non minus
externam aeris vim , citra facilem noxam sustineat, quam illapsam soni speciem sic-
citate conservet, atque in cavitates auris penitiores trajiciat. 1. c. p. 249.
4) Adhaeret firmiter ossiculo, cui mallei nomen impositum est, tum proximae
cavitatis orbitae, si partem excipias, quae superiorem auditorii meatus regionem
attingit. In ea enim laxior omnino connexio est, ut evolvi membrana atque explicari
nonnihil queat. 1. c. p. 250.
5) Reliquurn ossiculi, sive id pediolo sive caudae compares, extremo suo intror-
sum aliquantulum contortum, adhaerentem sibi membranam leviter circa medium
intorquet. 1. c. p. 251.
6) Stapedi additur ossiculum quartum, rotundum, perexiguum. ligamento
Stapedis innexum, quod Francisco Sylvio inventum adscribitur. 1. c. p. 252.
7) . . . altera mollior, in extremo ossei meatus, ä priore leviter prominente
apophysi dirempta. Haec parte majore Cochleae centro insistit, minore ad labyrinthi
circulos porrigitur, utrobique audiendi munus officiumque consummans. 1. c. p. 254.
8) Addit sese his ramulus singularis, ä quarta nervorum conjungatione huc
productus. Is internae auris secretiore cuniculo receptus in tympanum progreditur
egressuque bifidus, i)artim quinti paris duriori portioni descendenti se jungit, partim
in mammiformis processus cavernas spargitur. 1. c. p. 254.
9) Nam cum partem respicimus, quae in primis sonum conservat. intendit et
ad scopum intimum perducit, penes Cochleam utique principatus steterit: cum eam
quae ad recepti soni perceptionem requiritur pervestigamus, utique Nervi mollioris
expansio, qui intimo Cochleae gyro accumbit, reliquis partibus dignitate praecellit.
1. c. p. 254.
Michael Lyser. Eine um die Mitte des 17. Jahrhunderts er-
schienene, für ihre Zeit sehr nützliche Schrift über anatomische Sektions-
technik, welche auch ein Kapitel über die Zergliederung des Gehör-
organs enthält, hat den Schüler des Bartholinus, Michael Lyser
(1(526 — 1659), zum Verfasser. Das Buch, welches nach einer Aeußerung
Th. Bartholinis so vortrefflich sei, daß es nunmebr den Besuch von
170 Michael Lyser.
Padua, Basel und Paris behufs anatomischer Studien unnötig mache,
führt den Titel „Culter anatomicus" und erschien zuerst 1653 1). Das
Werk ist das erste seiner Art, denn die „Administrationes" Galens,
die „Dissection du corps humain" des Charles Etienne, das
„Encheiridium anatomicum" betreffen nur die Behandlung der Muskel
und die Skelettopoe, enthalten aber nichts auf unser Fach Bezügliches.
Wohl finden sich einzelne die Sektionstechnik betreffende Details bei
Nicol. Massa (siehe S. 76) und Eustachio (siehe S. 97). Die
Sektionsmethode Lysers jedoch, obwohl nach unseren heutigen Begriffen
äußerst primitiv, umfaßt das ganze Gehörorgan. Wir geben im folgen-
den das Wichtigste aus dem „Culter anatomicus".
Bemerkenswert ist vor allem die Präparationsmethode des Trom-
melfells und der Gehörknöchelchen. Beim Mazerieren und Aus-
einandernehmen der Schädelknochen empfiehlt er weitgehende Vorsicht,
um zu verhüten, daß das innere Ohr eine Verletzung erleide, das
Trommelfell zerreiße oder die Gehörknöchelchen aus ihrer natürlichen
Lage gebracht werden. Er weist mit besonderem Nachdrucke darauf
hin, daß man vom Gehörgange aus das Trommelfell und wie er hinzu-
setzt, wenn man über scharfe Augen verfüge, auch den durch das
Trommelfell durchscheinenden Hammer sehen könne. Um die Topo-
graphie der Gehörknöchelchen und des Hammermuskels zu
studieren, zerbreche man vorsichtig mit der eisernen Zange (Knochen-
zange) den der Stirne zugewendeten Teil des Schläfebeins unter Schonung
der Pyramide. Nach dieser nicht ganz klaren Angabe ist es wahr-
scheinlich, daß er bei der Präparation der Trommelhöhle die vordere
Wand des knöchernen Gehörgangs und die laterale Wand des knöchernen
Teils der Tub. Eust. bis zum Annulus tymp. entfernt, diesen aber
stehen läßt 2).
Vestibulum und Schnecke werden durch Entfernung der inneren
Trommelhöhlenwand mittels einer feinen Säge und unter vorsichtiger
Anwendung der Feile freigelegt 3).
Bei der Präparation der Bogengänge wird von der Eminentia
arcuata J) aus die zwischen den drei Gängen liegende Knochensubstanz
entfernt und zwar die äußere härtere, kompakte durch Zerstoßen mit
dem Hammer, die übrige spongiöse mit dem Skalpell. Hierauf eröffnet
er die Bogengänge , wenn der Knochen noch frisch ist, durch Schaben
mit dem Meißel, wenn er bereits trocken ist, mit der Feile. Auf diese
Weise könne man die Gänge bis zu ihrem Zusammentreffen freilegen.
Sollte dies nicht erwünscht sein, so genüge es auch, eine Schweinsborste
durch die einzelnen Bogengänge durchzuführen 5).
Zum Schlüsse bemerkt Lyser, daß man beim Schläfenbein des
Neugeborenen einen solchen Apparataufwand nicht nötig habe und, da
J. H. Glaser. 171
der Knochen dünner und weicher sei, ohne Verwendung einer Säge mit
dem Meißel auskomme.
Ueberdies schrieb Lyser eine „Dissertatio de auditu" (Lipsiae
1653), in welcher er Schläfenbeine verschiedener Altersstufen, die Emi-
nentia pyramidalis, das Rostrum Cochleae schilderte, ohne neue
Details vorzubringen.
\) Michaelis Lyseri Culter anatomicus , hoc est: Methodus brevis, facilis ac
perspicuus artificiose et compendiose huinana incidendi cadavera. (Edit. Hafn. 1653,
1665, Francof. 1679. Lugd. Batav. 1731). Von mir benützte Ausgabe: Utrecht 1706.
Lib. III, Cap. 9. „De auriuni consectione."
2) Dum vero Cranii ossa disjungis, cave nimia vehementia utaris, quae Aurem
interiorem laedat, et vel tympanum rumpat, vel Ossicula auditus loco moveat. Quo
facto, Auribus a sordibus emundatis, Tympanum inspicias: si acie Oculorum vales,
Malle um etiam per membranam transparentem contueri poteris. Deinde forcipe
ferrea partem ossis , quae fronti obvertitur , circumspecte confringas , ita ut meatus
auditorii ad os petrosum ingressus manifestus fiat, ac dimidia pars ejus ablata sit,
quo ossiculorum in concha positorum situm contempleris : ne tarnen os lithodes vel
minimum vieles vitabis , in quo Labyrinthus et Cochlea reconduntur. Occurret hie
tibi musculusaurisinternae, qui malleo movendo dicatus. 1. c. Lib. III, Cap. 9.
De Auriuni consectione. p. 97 — 98.
3) Jam serra tibi in promptu sit, subtilis admodum, qua laminam osseam, quae
tertium latus incrustat rescindas; prineipio apparebit Cochleatus duetus, cujus
locus est oppositus foramini, pro auditorio nervo firmato: non tarnen directe oppo-
nitur; sed Cochlea temporum ossi vicinior est. Si majorem Cochleae partem serra
reseeveris, videbis quoque Labyrinthi meatus binos, qui supra Cochleam in idem
foramen coeunt. Si integer Cochleae duetus serra non apertus fecit, lima radendo eum
amplius aperies; non enim in omnibus locis eminet aequaliter. 1. c. p. 98 — 99.
4) In latere seeundo levis quaedam observatur protuberantia, non ita longe ab
osse temporum: sub hac latitat unus ex duetibus, qui pro basi trianguli haberi debet.
1. c. p. 99.
3) Hos circulos deinde aperies: si recens et nondum exsiccatum fuerit Os
scalpro radendo id perfici potest: sin aridum, lima hinc negotio erit aptissima; foramina,
quae limato osse apparent, prolongabis nonnihil, et si libet, utriusque ad communem
coneursum persequeris: quod si hoc non placuerit, setam suillam per singulos gyros
trajicias. ut omnium extrema per fenestram ovalem exeant. 1. c. p. 99 u. 100.
J. Heinrich Glaser. Der Baseler Anatom Johann Heinrich
Glaser (1629—1675) gilt als der Entdecker der nach ihm benannten
Glas er sehen Spalte (Fissura petrotympanica s. Glaseri). In seiner
Hauptarbeit ..De Cerebro"*), die von dem Arzte Johann Jakob Stae-
helin nach seinem Tode herausgegeben wurde, konnte ich jedoch eine
darauf bezügliche Stelle nicht finden. Immerhin ist es möglich, daß
Glaser von seiner Entdeckung in einer seiner Dissertationsschriften, die
mir nicht vorliegen, Mitteilung gemacht hat.
*) Tractatus posthumus de cerebro , in quo hujus non fabrica tantum . sed
actiones omnes prineipes, sensus ac motus ex veterum et recentiorum placitis et obser-
vationibus perspicue ac methodice explicantur. Basileae 1680.
1 7 2 J- H. Glaser.
Lincke*), der sonst stets, wenn auch nicht immer richtig, die
Quellen zitiert, unterläßt dies bei Beschreibung der Glas ersehen Spalte.
Auch bei Sprengel und Portal konnte ich keinen näheren Aufschluß
finden, wo Glaser diese seine Entdeckung publiziert habe.
Was den Inhalt seines dem Willis nachgeahmten Werkes „De
Cerebro", anbelangt, so sieht Glaser das Ohrenschmalz als ein Exkre-
ment der Gehirnrinde an, welches von der Gehirnbasis dem Hörnerven
entlang in den äußeren Gehörgang zwischen Knorpel und Haut ge-
langt, wo es sich in die dort befindlichen Drüsen einsaugt, von denen es
dann in den Gehörgang ausgeworfen wird x). Am Gehörorgane des Kalbes
will Glaser nun folgende Beobachtung gemacht haben, durch die er den
Weg, den das Cerumen nimmt, zu erklären versucht. Der Trommel-
fellring habe in der Gegend des Hammerkopfes ein kleines Loch, das
von der Trommelhöhle in den äußeren Gehörgang führe. Das den Ge-
hörgang auskleidende „pericranium" bilde auch die Auskleidung jenes
kleinen Loches und formiere das Trommelfell. Es fließe also Flüssig-
keit durch diesen von Glaser entdeckten Kanal in den äußeren Gehör-
gang oberhalb des Pericraniums und gelange so zu den Drüsen 2).
Glaser bemerkt ferner, daß das Trommelfell in der Nähe jenes Kanals
bei genauer Untersuchung dichter erscheine, daß Flüssigkeit durch diesen
Kanal von innen nach außen gelangen könne, aber nicht umgekehrt. Beim
Menschen, wo er diese Spalte nicht auffinden konnte, sah er im sogen,
äußeren Hammermuskel, der seiner Ansicht nach am oberen Teil des
Gehörganges entspringt und seine Sehne zum Hammer schickt, auch
einen Weg, der von innen nach außen führe 3) und auf dem eben das
Exkrement zu den Drüsen komme. So mißglückt nach dieser Dar-
stellung der Versuch Glasers war, die alte Hypothese von der Sekretion
des Cerumens durch das Gehirn mit der neuen Kenntnis der Drüsen
des äußeren Gehörganges in Einklang zu bringen, so ergibt sich doch
aus seinen Angaben keineswegs mit Bestimmtheit, daß er eine Lücke
zwischen Ring und Trommelfell nachwies, wie Lincke**) irrtümlich
behauptet.
Auf gleich spekulativer und hypothetischer Grundlage basiert die
Hör theo rie Glasers. Zur Verrichtung eines äußeren Sinnes (sensatio)
sind notwendig: „facultas, instrumentum , objeetum, medium". Die
Hörfähigkeit führt er auf den Lebensgeist zurück, als Organ des
Hörens bezeichnet er ausdrücklich nicht den „aer internus", sondern die
feine, in den Höhlungen des inneren Ohres ausgebreitete, vom Hörnerv
stammende „membrana", weil dorthin der Lebensgeist reichlich fließen
*) 1. c. I, p. 48.
**) 1. c. p. 99.
Joh. Bohn. 173
und sich mit dem eingeborenen vereinigen könne , als Objekt den Ton,
als Medium endlich die atmosphärische Luft, den Aer internus und auch
das Wasser. Die durch den Ton erschütterte Luft bewegt das Trommel-
fell, dieses die innere Luft und diese wieder die Fasern der ausge-
spannten Membran, welche ihren Impuls dem „spiritui acoustico" mit-
teile, wodurch der Ton wahrgenommen werde4).
An einer anderen Stelle hält er den Hörnerv wie alle anderen
Sinnesnerven auch für ein Organ des Tastgefühls 5).
*) Hoc amaruni excrementum ex corticali substantia descendit ad basin cerebri
et secundum duetum nervi auditorii fluit in glandulosam carnem in nieatu aurium
externo, inter cartilaginem et cutem sitam, quae illud inibibit et in nieatum audi-
torium eructat.
2) Quia in vitulo observare est. circulum illum osseum, qui tympanum continet,
prope mallei caput findi, fissura haec exiguum foramen eflbrmat ex pelvi in meatum
auditoriurn; meatus auditorius pericranio succingitur, hoc pericranium continuatur per
fissuram eamque succingit; cum fissuram transiit, expanditur et facit tympanum.
Ergo humor ex pelvi per hunc canalem in meatum auditorium fluit super pericranio.
3) In foetu humano hanc rimulam non reperio forte nee in adulto. Externus
musculus malleolum movens, externe in superiore meatus auditorii parte ortus ten-
dinem suum intromittit ad malleum; videntur ergo viae esse, ab internis ad externa;
hoc probabile tantum.
4) Hie motus tympanum pellit; tympanum pulsum aerem internum movet; in-
ternus motus pellit fibras membranae expansae, fibrae hae impulsae impulsum spiritui
acoustico communicant , per quem impulsum sentit sonum ; Spiritus insitus influenti
animali hunc impulsum communicat; influens animalis fibris cerebri; fibrae cerebri
spiritui cerebri, anima in eo residens cognoscit sonum et eum a colore distinguit.
5) Ergo nervus opticus, auditorius, olfactorius, gustatorius, quoque instrumentum
tactus est tactusque, consequenter per omnia sensoria se diffundit.
Zu den Physikern dieser Periode , die wesentlich Neues über den Schall
vorbrachten und auch die Physiologie des Gehörorgans in den Bereich ihrer Er-
örterungen zogen, zählt Athanasius Kircher (1601—1680), ein deutscher Ge-
lehrter, der in seiner „Phonurgia nova sive conjugium mechanica-physicum Artes et
naturae". Romae 1673 (welche Schelhammer benützte) die Aufnahme und Fort-
pflanzung des Schalles durch das äußere Ohr nach akustischen Gesetzen zu erklären
suchte. Nach Kircher wird durch die Ohrmuschel die Schallintensität nach Art
eines Echos verstärkt. Seine Ansicht, daß starker Schall sich schneller fortpflanze
als schwacher, wurde durch spätere Forscher als irrtümlich erwiesen.
Johannes Bohnius. Einer der genialsten, hervorragendsten Aerzte
seiner Zeit war der Leipziger Professor Johann Bohn (1(340 — 1718),
dem wir die Begründung der Experimentalphysiologie und der gericht-
lichen Medizin verdanken. Wiewohl die Physiologie des Gehörorgans
in seinen Werken etwas stiefmütterlich behandelt wird, läßt doch das
Wenige, das er uns mitteilt, mit voller Berechtigung auf den klaren
Blick und das unbeirrte Urteil eines ernsten Forschers schließen.
In seinem berühmtesten Werke, dem „Circulus anatomico-physio-
174 J°h- Bohn.
logicus seu Oeconomia corporis animalis etc." *), welches er dem Malpighi
widmete, wird bloß der Gehörsinn behandelt.
Bohn bestreitet hier die von vielen Anatomen aufgestellte Be-
hauptung, daß das Trommelfell bei hohen Tönen von seinen Muskeln
gespannt werde, bei tiefen Tönen aber erschlaffe. Die Funktion der Ge-
hörknöchelchen erklärt er im Großen und Ganzen als dunkel, schließt
sich jedoch am ehesten noch der Meinung an, wonach sie als Schall-
leiter fungieren. Eine eingeborene Luft, den Aer implantatus, in der
Trommelhöhle stellt er entschieden in Abrede , denn es könne ja
jederzeit atmosphärische Luft durch die Tube, die er wie so viele seiner
Zeitgenossen Aquaeductus Fallopii nennt, in die Trommelhöhle eintreten
und auf diese Weise die dort enthaltene Luft erneuern. Von hervor-
ragend historischem Interesse ist die scharfe Kritik Bohns, durch die er
dem Glauben vom „aer ingenitus" im Labyrinthe einen gewaltigen
Stoß versetzte. Nicht auf Grund anatomischer Anschauung, sondern
durch scharfsinnige, folgerichtige Ueberlegung zu seiner Ansicht gelangt,
muß Bohn als ein Vorläufer Cotunnis angesehen werden. Obwohl er
aber mit Entschiedenheit den ,,aer implantatus" bekämpfte, kam er doch
nicht zum Schlüsse, daß die Labyrinthhöhle Flüssigkeit enthalte. Er polemi-
siert insbesondere gegen Duverney**) der noch ganz im Banne der alten
Aristotelischen Hypothese steht. In einem so engen Räume, wie es das
Labyrinth sei, meint Bohn, könne die eingeschlossene Luft durch so
viele Jahre hindurch eine dauernde und gleichförmige Elastizität, wie
sie ihr zugeschrieben werde, kaum bewahren. So wie man alles Orga-
nische als perspirabel annehmen müsse, so werde auch jener Hohlraum
unmöglich von Flüssigkeitsströmungen verschont bleiben, zumal die
Labyrinthhöhle von Arterien und Venen durchzogen sei. Es ergibt sich
hieraus, daß Bohn durch seine theoretischen Erwägungen der von Co-
tunni später anatomisch festgestellten Tatsache, daß das Labyrinth mit
Flüssigkeit gefüllt sei, sehr nahe gekommen war.
*) Lipsiae 1680, 1686, 1697, 1710. (Von mir wurde die Ausgabe vom Jahre
1686 benützt.) Progymnasma XXVI: De Auditu p. 393—411.
**) Quando vero Idem Clarissimus Vir (sc. du Verney) aerem Labyrintho in-
clusum implantatum censet. ideo. quod ejus fenestrae seu foramina bina adeo exacte
clausa sint, ut nee cum aere tympani, nee cum ambiente hinc aliquod intercedere
videatur commercium : cum venia ipsius mihi ambigere liceat de modo, quo ejusmodi
aer, aretiori ejusmodi spatiolo inclusus, adeo perpetuam et uniformem elasticitatem
per tot annorum seriem colat, ut praestando sine interruptione auditui semper praesto
sit. Sicut enim totum corpus cum Hippocrate persjjirabile coneipere debemus, sie
nee ab emanationibus humorumeavitashaeceritimmunis, potissimuni
cum insignis satis arteria ac vena eam permeat; per consequens brevi obtundent
hac spiram illam aeri huic implantato connatam ac usui ejus congruam reddent.
1. c. p. 407.
Theophile Bonet, 175
Auch die physiologische Bedeutung der Schnecke hat Bohn bereits
geahnt. Wenn er auch diese nicht als einziges Apperzeptionsorgan für
das Hören bezeichnet, so glaubt er doch, daß sie sich infolge ihres
Baues besser als Vorhof und Bogengänge für das Hören eignen
müsse. Sie sei gewissermaßen das Ende des ganzen Gehörorgans und
scheine am meisten Sensibilität (Nervenfasern) vom Hörnerv zu er-
halten*). Zum Schlüsse bestreitet er die auf sophistische Klügelei auf-
gebaute Annahme des Fabricius ab Aquapendente, daß ein Ton nur von
etwas Gleichartigem, nämlich nur von Luft aufgenommen werden könne,
eine vielgebrauchte Hypothese, um die vom „Aer innatus", zu stützen.
Wäre die Prämisse des Fabrizio richtig, so müßte, wie Bohn be-
merkt, auch das Tastorgan, wenn es etwas Weiches empfindet, weich,
wenn es etwas Hartes wahrnimmt, hart sein. Ebenso müßte man an-
nehmen, daß das Geschmacksorgan schmackhaft sei. Endlich tritt Bohn
dem weitverbreiteten Glauben entgegen, daß das häufige Vorkommen
von gleichzeitiger Taubheit und Stummheit (Taubstummheit) auf die
anastomotischen Beziehungen zwischen Hörnerv und Nerv des Kehl-
kopfes zurückzuführen sei.
Aus dieser kurzen Skizze ergibt sich die Bedeutung Bonns für
die Physiologie des Gehörorgans. Seinem scharfen Verstände verdankt
die Otologie, daß die auf naturphilosophischer Grundlage aufgebauten
Hypothesen über die Funktion des Gehörorgans erschüttert und der
künftige Fortschritt in der Entwicklung der Gehörphysiologie angebahnt
wurden.
Theophile Bonet. Der Genfer Anatom Theophile Bonet (1620
bis 1689) wird mit Recht als Vorläufer Morgagnis auf dem Gebiete
der topischen pathologisch-anatomischen Forschung bezeichnet. In seinem
großen Werke „Sepulchretum sive anatomia practica ex cadaveribus
morbo denatis, proponens historias et observationes omnium humani
corporis affectuum ipsorumque causas reconditas relevans. Genevae 1700",
das außer eigenen auch eine große Anzahl von pathologischen Befunden
fremder Autoren enthält, findet sich nur Weniges über pathologische
Veränderungen am Gehörorgane1). W. Kram er, der bekanntlich den
Wert der pathologischen Anatomie des Ohres unterschätzte, rügt, daß
Bonet seinen Leicheneröffnungen nach tödlich abgelaufenen Ohren-
krankheiten die • Krankheitsgeschichten nicht nur nicht beigefügt, son-
dern auch nicht einmal das krankhaft ergriffene Gehörorgan genau
*) Quia nihilominus ultimus quasi totius organi auditorii seu auris internae
terminus Cochleae est, haec que plus sensibilitatis a nervo majore videtur habere,
accuratius forsan et ultiroate magis hie specierum impressionem fieri, verosimile est,
imprimis cum lamina hujus spiralis seu testudo facile contremiscere sonosque egregie
multiplicare et refractos nervorum fibrillis potenter magis imprimere queat.
17ti Theophile Bonet.
untersucht hat, so daß man Bonets Leistungen nur als Beispiel be-
trachten muß, wie solche Leicheneröffhungen nicht gemacht werden
dürfen, wenn sie der Wissenschaft irgend einen Nutzen bringen sollen.
Trotz dieser nicht ganz unberechtigten Kritik der otologischen
Befunde Bonets beanspruchen diese, mit Rücksicht auf den damaligen
Tiefstand der Medizin, dennoch einiges Interesse.
Unter den von Bonet erwähnten pathologisch-anatomischen Be-
funden sind hervorzuheben: ein Fall von Taubstummheit mit beider-
seitigem Mangel des Steigbügels. Ein ganz analoger von Petrus
Mersennus beobachteter Befund bei einem Taubstummen wird von Bonet
zitiert. Bonet fand ferner als anatomische Grundlage der Taub-
stummheit besondere Kleinheit der Gehörknöchelchen und
Defekt des Ambosses (Obs. IV.: Surdus quidam a nativitate ob de-
fectum ossiculi Incudis dicti).
Von anderen Beobachtungen Bonets seien erwähnt die Obs. IL,
die einen Fall von Taubheit infolge eines Hirntumors behandelt
(Surditas a tumore Steatomatico inter cerebrum et cerebellum), die
Obs. V., in der er einen versteinerten Ceruminalpfropf beschreibt
(Auditus laesio a Sordibus aurium lapi descentibus), ferner die Obs. VI.,
in der er den Sektionsbefund einer Frau schildert, die an heftigen
Kopf- und Ohrenschmerzen litt und bei der nach Eröffnung des Schä-
dels große Flüssigkeitsmengen (Hydrocephalus) vorgefunden wurden
(Aurium dolor a cerebro humidiore).
Aus den beigefügten Additamenta, in denen sieben Beobach-
tungen mitgeteilt werden, sei angeführt ein Fall von Taubheit infolge
Schleimansammlung in der Trommelhöhle (Obs. IL: Surditas
orta a muco multo internam tympani cavitatem obsidente), ferner Fälle,
in denen die Schwerhörigkeit auf eine übermäßige Spannung des
Trommelfells und auf Anhäufung krustöser Exkremente im Ge-
hörgange zurückgeführt wird (Obs. III. und IV.: Surditas nativa ob
membranam tympano supertensam, Auditus laesio ob condensata excre-
menta crustulae forma obducentia membranam tympani).
Endlich sucht er in der Obs. VI. zu beweisen, weshalb angeborene
Taubheit weitaus häufiger ist als die angeborene Schädigung irgend
eines anderen Sinnesorganes (Cur a nativitate plures sensu Auditus pri-
ventur quam ullo alio, ex nervorum origine detecta).
') 1. c. Tom. prim. Lib. I, Sectio XIX, p. 435.
Von Spezialschriften dieser Epoche wäre besonders das Werk des Witten-
berger Professors Konrad Viktor Schneider (1614—1680) „De osse teinporum"
(\ iteberg 1653) zu erwähnen, in welchem er manches Detail des Schläfenbeins besser
beschreibt als die Vorgänger und Zeitgenossen. In seinem Werke „De Catarrhis"
(1660—1664), welches im pathologisch-therapeutischen Abschnitt dieses Jahrhunderts
Kerckring. Sulzberger. Jessen. 177
ausführlicher besprochen werden soll, ist als wichtig hervorzuheben, daß er den seit
Jahrtausenden eingewurzelten Irrtum von der Entstehung der Katarrhe durch den
vom Gehirn herabfließenden Schleim für immer beseitigte. Daß er die Tuba Eustachii
als Aquaeductus Fallopii bezeichnete, war ein Irrtum, den unglaublicherweise viele
sonst hochstehende Anatomen, wie Rio lan, die beiden Bartholin, Tulpiusu. a.,
teilten 1).
Theodor Kerckring aus Hamburg, ein Schüler des Sylvius de leBoe,
der lange Zeit in Amsterdam als Arzt tätig war, gibt in seinem von Monat zu Monat
erscheinenden „Spicilegium anatomicum" 2) die Entwicklung des Gehörorgans be-
treffende belanglose Angaben 3).
Von den physiologischen Schriften verdienen namentlich Erwähnung: Johann
Rupr, Sulzberger: „Diss. de sensibus externis" (Lipsiae 1619); Tob. Burckard
„Diss. de quinque sensibus externis" (Lipsiae 1625).
Außerdem wären noch eine Anzahl anatomisch-physiologischer Autoren von
minderer Bedeutung anzuführen:
Joh. Jessen aus Breslau (1566 — 1621), der Prager Rektor, der nach der
Schlacht am Weißen Berge enthauptet wurde; Martin Jacob gab in seinen „Exer-
citationes rcspl rrjs -loy-q-" eine Abhandlung über das Hören4); Agerius Nicolaus
(„De sensibus externis", Agentor. 1623; „De auditu sono", ibid. 1626); Franciscus
Hildanus, einer der besten Chirurgen seiner Zeit, berührt auch einiges Ana-
tomische in seinen „Observat. Chirurg, centuriae" (1606 — 1641); Candisius Gottfried
(„De auditu", Viteberg 1628); Laurenberg Petrus aus Rostock5), Daniel
Müller0), N Osler Georg7), Joh. Hombug8), Ch. Fasel tus9), Mengolus10),
Samuel Skunk n), Merhof12), Professor der Rhetorik zu Rostock, Georg Frank
von Fr ankenau I3), J. Ott14). Die hier genannten sind Verfasser von meist
physiologischen Abhandlungen über den Gehörsinn auf spekulativer Grundlage, wäh-
rend Christian Tintorius aus Danzig 15), Brehm16), Salzmann"), ein
Schüler des Casserius und Bauhin, Eichhorn18), Fridericius 19) und der Jenenser
Anatom Werner Rolf ink (1599— 1677) 20), der auch einen mangelhaften Abriß der
Geschichte der otologischen Entdeckungen lieferte, vorwiegend die Anatomie des Ohres
auf Grund fremder Forschungen darstellten.
1) „De catarrhis", L. III, S. I, Cap. 10.
2) „Spicilegium anatomicum, continens observationum anatomicarum rariarum
centuriam unam; nee non osteogeniam foetuum, in qua quid cuique ossiculo singulis
accedat mensibus, quidque decedat et in eo per varia immutetur tempora, aecura-
tissime oculis subjicitur" (Amstelodami 1670, 1673; Lugd. Batav. 1717 — 1729).
3) Vergl. ferner vom selben Autor: „Anthropogeniae iconographiae, sive, con-
firmatio foetus ab ovo usque ad ossificationis prineipia in supplementum osteogeniae
foetuum" (Amstelodami 1671; Parisiis 1672).
4) „Theorematum anthropologicorum s. exercitationes rcepl xyj? ^tr/Yji;" XI. : De
auditu. Viteberg 1606.
5) „Disputationes de visu, auditu, odoratu, gustu et tactu." Hamburg 1616.
„Anat., corp. hum." Francof. 1665. Exercit. XI: De capite in genere, pericranio,
meningibus. cerebro, sensoriis.
G) „@eu>pta duorum exteriorum sensuum, visus et auditus specialis." Lips. 1638.
') „De sensibus." Altdorf 1640.
*) Exercitatio VI. De auditu. Helmstadt 1655.
9) „De auditu." Witteberg 1668. „De natura soni." ibid. 1668.
i0) „Musica speculativa." Colon. 1670. Mit einer, nach Hallers Urteil, lächer-
lichen Beschreibung des Gehörorgans.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 12
j-j-g Nico!. Tulpius.
n) „De sensibus." Halle 1G72.
12) „Epistola de scypho vitreo per certum humanae vocis sonum rupto." Kiel
1672. Handelt über Natur und Ursachen des Schalls, und über das Zerspringenlassen
von Gläsern durch die Stimme.
13) „De auribus mobilibus." Heidelberg 1676. Ferner „Satyrae medicae." Lipsiae
1722. 20. Satyr, 11. de Auribus humanis.
'*) „Epistola de sono vocis humanae." 1679.
15) „Disput, anat. de fabrica et usu auris humanae." Gedani 1639.
16) „Diss. de auditu in genere et tinnitu in specie." Ingolstadiae 1651.
1:) „Observata anatomica hactenus inedita." Amstelod. 1669 (berichtet über ein
Gehörknöchelchen der Vögel).
16) „Dissert. anat. de aure." Jenae 1670.
,9) „De aure." Jenae 1670.
-°) „Dissertationes- anatomicae synthetica methoda exaratae." Jenae 1656.
Niederlande.
Die nach schweren Kämpfen errungene Unabhängigkeit der Nieder-
lande hatte nicht nur einen raschen Aufschwung aller Kulturzweige,
sondern auch eine rege Forschungstätigkeit an den medizinischen Schulen
zur Folge. Unter den auf anatomischem sowie auf physiologischem
Gebiete zu hohem Ruhme gelangten Aerzten dieser Epoche sind in erster
Reihe Nie. Tulpius und De le Boe Sylvius zu nennen. Ihre
Leistungen in der Otologie sind indes sehr geringfügig. Nur der histori-
schen Vollständigkeit halber beschränken wir uns auf eine kurze Skizze
derselben.
Nicolaas Pieters Tulpius, 1593 zu Amsterdam geboren, fungierte
von 1628 — 1653 als Leiter der Anatomie und wurde 1654 zum Bürger-
meister von Amsterdam gewählt. Ein berühmtes Gemälde Rembrandts
stellt Tulpius mit mehreren seiner Schüler bei einer „anatomischen
Vorlesung" dar. Er starb 1674 im Haag.
In seinen „Observationum medicarum libri tres cum figuris aeneis*
Amstelod. 1641 berührt er auch die Ohranatomie und Gehörsphysiologie.
Seine Beschreibung der Lage der Tuba Eustachii ist nichts weniger
als zutreffend, indem er ihren Verlauf als vom Rachen beiderseits gegen
die Seitenteile des Kiefers zwischen Warzen- und Griffelfortsatz auf-
steigend schildert J).
Seine Angabe, die Ohrtrompete sei bisweilen auch dadurch von
Nutzen, daß bei Erstickungsgefahr die Atmung durch den Tubenkanal
gehen könne, zeigt, welch vage Vorstellung Tulpius vom Baue des
Mittelohres hatte. Er erwägt die Möglichkeit des Durchdringen der
Luft bei durchlöchertem Trommelfell und glaubt, daß manche Individuen
schwer atmen, weil die Luft, die zur Respiration nötig wäre, statt in
die Lungen zu gelangen, durch das durchlöcherte Trommelfell entweiche 2).
Interessant ist eine von Tulpius vorgebrachte Krankengeschichte"),
De le Boe Sylvius. Adr. Spieghel. 179
weil aus ihr hervorgeht, daß ihm die Bedeutung des Tubenverschlusses
für das Gehör nicht unbekannt war.
') „Ex ore ascendere utrimque, ad latera maxillae versus aures inter processum
rnastoideum ac stiliformein." Obs. Med. Lib. I, Cap. 35, nach Morgagni Ep. VII,
Cap. 10, p. 187.
2) Scilicet Tubas „concedere interdum exiturn per aures" spiritui, „ob gutturis
angustiam alias" aegrum eerto suffbcaturo, adeo non dubitabat Tulpius, ut affirmaret,
ab ejusmodi periculo se „vidisse duos aegros liberatos effuso spiritu per vias jam
commemoratas". 1. c.
3) Obs. Med. Amstelod. 1674, Lib. I. Cap. 35 § 4.
Sylvius deleBoe (1614 — 1672), der sich als Anatom und Physiolog,
insbesondere aber als Begründer der Chemiatrie eines europäischen Rufes
erfreute, wurde 1614 zu Hanau geboren. Er entstammte einer edlen
französischen Familie (Dubois), welche in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts wegen Verfolgung der Hugenotten nach den Nieder-
landen ausgewandert war.
Sylvius, der mehrere holländische und deutsche Universitäten
besuchte und zu Basel die Doktorwürde erwarb, ließ sich zuerst in Hanau
nieder, begab sich dann nach zweijährigem Aufenthalt in Paris nach
Leiden, wo er im Jahre 1658 die Professur der praktischen Medizin
mit fast gleichem Erfolge wie später Boerhaave bekleidete; er starb
am 14. Nov. 1672.
So wertvoll auch die sonstigen anatomischen Arbeiten Sylvius'
sein mögen, so beschränkt sich das Resultat seiner Untersuchung am
Gehörorgane auf das nach ihm benannte Os lenticulare, sowie ein
bei Tieren vorkommendes Sesamknöchelchen an der Sehne des Steig-
bügels. Die Priorität dieser Entdeckung blieb jedoch vielleicht mit Recht
nicht unbestritten, Drelincourt hat sie dem Realdo Colombo,
Morgagni dem Anatomen Aranzi, andere haben sie dem Caecilius
Folius zugeschrieben. Diese große Meinungsverschiedenheit über den
Entdecker des Linsenknöchelchens erklärt sich daraus, daß viele Ana-
tomen am Ende des langen Amboßscherikels ein kleines Knötchen (tuber-
culum) geschildert haben.
Die Pathologie und Therapie des Ohres von De le Boe wird im
nächsten Abschnitte besprochen werden.
') Sylv. opera, Utrajecti 1695, p. 185, cf. Vesling, Syntag. anat. Cap. 16, \>. 215.
Adriaan van den Spieghel, zu Brüssel 1578 geboren, studierte
in Löwen, Avar ein Schüler des Fabrizio und der Nachfolger Casserios
auf dem Lehrstuhle zu Padua, den er zwei Jahrzehnte mit ausgezeichnetem
Erfolge bis zu seinem Tode (1625) bekleidete; er wird wegen seiner
langjährigen Tätigkeit in Italien von den Medikohistorikern den italieni-
schen Anatomen zugezählt.
180 ^ils. Van Linden.
Seine Anatomie des Gehörorgans hält sich streng an die seiner
Lehrer Fabrizio und Casserio: selbst deren Irrtümer werden ohne
Kritik und Nachprüfung wiederholt. Die Gehörknöchelchen erklärt er
für periostfrei J), erwähnt den von Fabrizio fälschlich angenommenen
äußeren Trommelfellmuskel und spricht dem inneren Hammermuskel,
dessen Ursprung er falsch beschreibt, zwei Sehnen zu 2). Seine Schilderung
des Labyrinths entspricht in keiner Weise dem zu seiner Zeit bereits
vorgeschrittenen Stande der Ohranatomie. Nach ihm ist das Labyrinth
eine runde Höhle , die in zahlreiche gewundene , gegen den Warzen-
fortsatz sich erstreckende Gänge übergeht. Gesondert vom Labyrinthe
beschreibt er in ganz mangelhafter Weise die Schnecke 3). Endlich sei
noch erwähnt, daß er, wie Vesal ein Jahrhundert früher, den Hörnerven
in der Trommelhöhle enden läßt1).
Seine Physiologie des Ohres, die nur wenige Zeilen umfaßt, ent-
hält nichts Bemerkenswertes.
') Adriani Spigelii, De humani corporis fabrica libri decem. Opus post-
humum. Venetiis 1627. Lib. II, Cap. 9, p. 40.
2) 1. c. Lib. IV, Cap. 5, p. 103.
3) Secunda (sc. caverna), Labyrinthus dicitur, et in ossis petrosi radice insculpta,
rotunda est, in innumeros et anfractuosos meatus, magna ex parte posterius ad mam-
millaris processus interiora tendentes, desinit. Tertia, quam Cochleam appellant,
omnium minima est, cochlearumque gyros affabre exprimit, in anteriore sede pro-
cessus petrosi sub primae cavitatis tuberculo sita. 1. c. Lib. X, Cap. 10, p. 328.
4) Caeterum mollis illa portio, cum dura portione fertur: at ubi ad primam
auris illam cavitatem pervenit, membranae in modum per ipsam expanditur, sicque
merito Nervus auditorius dici meretur, cum Spiritus omnes ad auditum ipse suggerat.
1. c. Lib. VII, Cap. 2, p. 207.
Von geringerer Bedeutung für die Ohranatomie in dieser Epoche sind:
Ludovicus Bils (Jonker Longs de Bils, 1624 — 1670) in Rotterdam, ein reicher
Dilettant auf anatomischem Gebiete, der sich durch ein Verfahren zur Konservierung
anatomischer Präparate bekannt machte und sein Präpariertalent an der Zergliede-
rung des Gehörorgans betätigte. Seine kleine Schrift „Anatomisch Vertoon van het
Gehoor", ßrüghe 1655, die auch ins Lateinische übersetzt wurde, ist mit mittelmäßigen
Abbildungen ausgestattet. Neu ist seine Angabe, daß das Gehörorgan (Schläfebein)
in vier durch Nähte abgegrenzte Partien geteilt sei1).
Joh. Ant. van der Linden (1609—1664), der in seiner „Medicina Physio-
logica", Amsterdam 1653, das Gehörorgan des Kindes und Erwachsenen einer ver-
gleichenden Betrachtung unterzieht, ohne dem Bekannten Neues hinzuzufügen.
Ferner : P 1 e m p i u s 2) , D r e 1 i n c o u r t 3) und Dieme rbroeck4), von dem
eine gute, jedoch nichts Neues bietende Beschreibung des Ohres vorliegt, in der er
die Annahme eines Aer ingenitus in der Trommelhöhle scharf bekämpft, endlich
Gerard Blaes5) und der Gröninger Deusing6), der in seiner „Oeconomia cor-
poris humaniu die Hörfunktion in keineswegs klarer Weise bespricht.
Die größte Bedeutung unter den holländischen Anatomen erreichte
Ruysch, dessen Wirken indes schon zum großen Teile in die folgende
Periode fällt.
Thom. Bartholinus. Nik. Steno. 181
1) Opera Bilsii cum titulo inventorurn anatomicoruui antiqui-novoruin cum
Cl. virorum epistulia et testimoniis conjuncta. Anist. 1682.
2) Vopiseus Fortunatus Plempius (1601—1671). Fundamenta medicinae
libri sex. Lovanii 1638.
3) Charles Drelincourt (163S— 1697), Praeludia anatomica. Amsterd. 1672.
4) Isbrand van Diemerbroeck (1609 — 1674), Anatome corporis humani.
Utraject. 1672.
5) Gerard Blaes (Blasius), Commentarium in syntagma anatomicum Joh. Ves-
lingii etc. Amsterdam 1659.
6) Anton Deusing (1612 — 1666), Oeconomia corporis humani in quinque
partes distributa. P. V. de sensuum functionibus , sensuum functione in genere et
appetito sensitive Gröning. 1661.
Dänemark.
Fast alle bedeutenden dänischen Anatomen des 17. Jahrhunderts
wandten ihr Interesse der Ohranatomie zu, und es finden sich manche
treffliche Beobachtungen und Bemerkungen in anatomischer, pathologischer
oder therapeutischer Richtung in den „Acta medica et philosophica
Hafniensia", einer der ersten medizinischen Zeitungen, sowie in den
Sammelschriften: ..Cista medicinalium centuriae IV." niedergelegt. Ge-
nannt zu werden verdienen Thomas Bartholin und Steno.
Thomas Bartholinus (1616 — 1680), Professor der Anatomie zu
Kopenhagen, einer der berühmtesten Anatomen seiner Zeit, arbeitete die
„Institutiones anatomicae" seines Vaters um und versah sie mit nur
zum Teile guten Abbildungen. In seiner „Anatomia nova ex Caspari
Bartholini parentis institutionibus etc. locupleta" *), Lugd. Batav. I. ed.
1641 (1645, 1651, 1673) und in anderen Ausgaben ist die Ohranatomie
sehr flüchtig und in manchen Daten fehlerhaft behandelt. So nennt er
von den inneren Ohrmuskeln bloß den Trommelfellspanner und den
von Casserius irrtümlich als Muskel beschriebenen „Musculus externus
auris internae", während er den Steigbügel muskel gar nicht er-
wähnt. Der Tube, die er als „Aquaeductus Fallopii" bezeichnet, schreibt
er, da er den ..Aer ingenitus" noch immer in die Trommelhöhle verlegt,
eine Klappe zu, welche das Ausströmen von ..Exkrementen" wohl ge-
statte, jedoch keine atmosphärische Luft eintreten lasse.
Nikolaus Steno (Stenon, Stenson, Stenonius 1638 — 1682)
förderte nur wenige, aber bemerkenswerte Details in der Ohranatomie
zu Tage. Geboren zu Kopenhagen , studierte er zuerst daselbst , später
in Leiden und Paris. Nach einem längeren Aufenthalte in Padua
*) leb benützte die 3. Ausgabe vom Jahre 1651, Lib. III, p. 352 — 356; Lib. IV,
p. 492 — 494. Siehe ferner vom selben Autor: De Luce hominum etc. Hafniae 1669.
Lib. III, Cap. 11 und Histor. Anatom, centur. IV. Amstelodami 1654. Histor. 80-
Auris perforatio.
132 Kaspar Bartholinus.
wurde er Professor zu Kopenhagen. In dieser Stellung verblieb er nur
kurze Zeit, da er von Innozenz XL zum Bischof von Titiopel i. p.
und zum apostolischen Vikar für Niedersachsen ernannt wurde. Als
solcher lebte er am Hofe zu Hannover und in Hamburg. Steno, einer
der größten Anatomen seiner Zeit, förderte seine Wissenschaft fast in
allen ihren Zweigen. Für die Otologie ist seine 1661 erschienene In-
auguraldissertation: „De glandulis oris et nuper observatis inde pro-
dentibus vasis", welche die erste Beschreibung des nach ihm benannten
Ausführungsganges der Parotis enthält, insofern von Bedeutung, als in
ihr zum ersten Male der Ohrenschmalzdrüsen Erwähnung geschieht.
Auf diese kommt er auch in seiner größeren anatomischen Schrift zurück,
die sich „Observationes anatomicae, quibus varia oris, oculorum et narium
vasa describuntur novique salivae, lacrymarum et muci fontes deteguntur",
Leiden 1662, betitelt. Hier spricht er sich dahin aus, daß die Existenz
der Ceruminaldrüsen nicht so leicht demonstriert werden könne und teilt
bloß mit, daß sie sich zwischen Haut und Knorpel des äußeren Gehör-
ganges befinden, ohne auf ihre Beschreibung näher einzugehen ]).
Steno hat auch eingehende Untersuchungen über das Gehörorgan
von Fischen angestellt und kann in dieser Hinsicht als ein Vorläufer
Breschets angesehen werden.
!) De glandulosa carne, quae in raeatu aurium externo cartilaginem inter et
cutim se offert, res non ita manifesta, cum ceruminum color aliam videatur originem
agnoscere etc. 1. c. p. 87.
Kaspar Bartholinus (1655 — 1738), Sohn des Thomas Bartho-
linus, der sich um die Kenntnis des weiblichen Genitale verdient machte,
beschrieb in seinem „Specinien historiae anatomicae" l) zwei Hammer-
fortsätze, von denen einer dem Hammermuskel zum Ansätze diene, ferner
das Linsenknöchelchen, das er zwischen langem Amboßschenkel und Steig-
bügel richtig annimmt 2), den Steigbügelmuskel 3), und leugnet das Vor-
handensein einer Klappe der Tube1).
Der Zergliederung von Tieren, mit Rücksicht auf das Gehörorgan
Avidmeten sich Olaus Worin (1588—1654), der das Skelett, darunter
auch die Gehörknöchelchen von Mus maculatus in einer Abhandlung
beschrieb5), und Öliger Jacobäus, ein Freund Stenos, der das
Trommelfell und zwei Ossicula bei Fröschen auffand'1).
') Caspari Barth olini Thom. fil. specimen historiae anatomicae partium corporis
humani ad recentiorum mentem accommodatae novisque observationibus illustratae.
Amstelodami 1701.
2) ... atque duae apophyses vel crura, quorum quod longius est, cum stapede
jungitur per intermedium quartum ossiculum. 1. c. p. 153.
3) Tertius musculus stapedis capiti inseritur. 1. c. p. 153.
*) Inferiorem (sc. meatum), <iui longior est et ad palatum tendit, aquae ductum
Tafel IX
THOMAS WILLIS
Tb. Willis. 183
cornmuniter dicunt, quod per hunc canalem humores, in cavitate tympani collecti,
excerni possint nulla illum transitum impediente valvula, uti opinantur non-
nulli, sed ita dispositus est hie canalis, ut aer, qui per nares in os intrat, hie detentus
ad interiora canalis aliqua ex parte transrnitti possit. 1. c. Cap. 6, p. 151'.
5) Historia animalis quod in Norwegia quandoque e nubibus deeidit et sata et
gramina celerrime depascetur. Haf. 1653.
6) De ranis observationes. Paris 1676.
England.
Im 17. Jahrhundert wendete sich die Aufmerksamkeit der Anatomen
und Physiologen vornehmlich der von Harvey inaugurierten Lehre vom
Blutkreislauf und den damit im Zusammenhange stehenden Organen zu,
während die Anatomie der Sinnesorgane geringe Beachtung fand. Die
englische otologische Literatur ist in dieser Periode im Vergleiche zu
der anderer Nationen sehr dürftig.
Thomas Willis (geb. 1622), eine der hervorragendsten Gestalten
in der Geschichte der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, entstammte
einer wohlhabenden Familie zu Great-Bedwin in Wiltshire. Anfänglich
für die Theologie bestimmt, wandte er sich später dem Studium der
Medizin zu und wurde Professor in Oxford. Nach seinem Rücktritt
von diesem Posten war er in London als praktischer Arzt mit dem
glänzendsten Erfolge tätig. Er starb 1675. Willis verfaßte bahn-
brechende Schriften über Anatomie und Physiologie des Nervensystems.
Ein besonderes Verdienst erwarb er sich durch die anatomische Fest-
stellung des Ursprungs des Nerv, facialis, acusticus und accessorius.
Er fand unabhängig von Mery die Kommunikationsöffnung beider
Schneckentreppen.
Von den Werken des Th. Willis kommen für die Otologie zwei
in Betracht:
„Cerebri anatome" (Lond. 1664— 65)1) und „De anima bru-
torum" (Londini 1672, Amstelod. 1672 2) bis 1674, Genev. 1674). In dem
letzteren s) behauptet er, das äußere Ohr sei bestimmt, die Schallteilchen zu
sammeln und dem Sensorium zuzuführen. Die Erhabenheiten, Windungen
und Nischen der Ohrmuschel wirken nach denselben akustischen Gesetzen
wie die Flüstergalerien. Der Schall gelangt zum Trommelfell, welches
den Zweck hat, ihn für die Aufnahme durch das eigentliche Gehörorgan
zu modifizieren, vorzubereiten. Doch ist es zum Hören nicht absolut
nötig, sondern nur vorteilhaft, indem der Schall infolge der abwech-
selnden Spannungen und Erschlaffungen des Trommelfells durch die
Funktion der inneren Ohrmuskeln und Gehörknöchelchen geordnet und
gesammelt werde. Willis suchte dies auch durch das Tierexperi-
ment zu beweisen1). Mittels der Gehörknöchelchen werde der Schall
sodann ausschließlich durch das Vorhoffenster in das Labyrinth geleitet.
184 Th. Willis.
wo er nach Reflexion und Verstärkung in den Bogengängen zur Schnecke
gelange, um daselbst vom Acusticus aufgenommen zu werden. Willis
ist der erste, der erkennt, daß der eigentliche Sitz des Gehörs,
das unmittelbare Sinnesorgan für das Gehör die Schnecke ist5).
Wird der Schall in beiden Ohren nicht ganz gleichzeitig zur Schnecke
fortgepflanzt, so entsteht Doppelhören.
Aus den Schriften Willis' ersehen wir, daß in den Hörtheorien
seiner Zeit sich bereits die Entbehrlichkeit der Annahme eines Aer in-
genitus bemerklich macht. Während in den älteren Hypothesen die ein-
geborene Luft das eigentliche Perzeptionsorgan bildet, nimmt in den
jüngeren die Lebensluft, der Nervengeist, eine gleichwertige Stellung
ein, bis endlich dem Endorgane des Höruerven die eigentliche Rolle der
Hörperzeption zugewiesen wird.
Erwähnung verdient noch das von Willis zuerst beobachtete Phä-
nomen, das nach ihm den Namen „Paracusis Willisii" erhielt. Es ist
dies das Besserhören mancher Schwerhöriger im Geräusche, so zum Bei-
spiel im Fahren oder bei starker Musik. Die betreffende Stelle findet
sich in seinem Werke: „De Anima Brutorum, Libr. I, cap. 14°). Er
berichtet dort von einer tauben Frau, die beim Trommelwirbel deutlich
hörte, weshalb ihr Gatte ihr durch einen Diener stets eine Trommel
nachführen ließ, um sich mit seiner Frau verständigen zu können. In
einem anderen Falle erzählt Willis von einem schwerhörigen Menschen,
der beim Glockengeläute besser hörte*). Willis erklärte diese auf den
ersten Blick paradoxe Erscheinung durch die Annahme eines erschlafften
Trommelfells, das durch den Anprall des heftigen Geräusches zu seiner
normalen Spannung gebracht und dadurch in gewisser Beziehung wieder
leistungsfähig werde. Unsere heutige Anschauung von der Paracusis
Willisii geht dahin, daß dieses Besserhören bedingt sei durch die Er-
schütterung der infolge otosklerotischer Prozesse in ihren Gelenken starr
gewordenen Gehörknöchelchen, indem die durch die Erschütterung aus-
::) Zwei ähnliche Fälle finden sich in den Transact. Philosoph. Angloruin Ann.
1668, Nr. 35, p. 554. Ein angeblich von Geburt tauber lOjähriger Knabe hörte bei
Trommelwirbel sogar leise Stimmen. Ein anderer schwerhöriger Mensch hörte nur,
wenn ein rasselnder Wagen über die Straße fuhr. Später wurden ähnliche Fälle von
Holder, Bach mann, Fielitz beobachtet. Siehe Muncke in Gehlers pbysik.
Wörterbuch 4, 2, p. 1220. Vergl. ferner Borichius in Act, Hafniens. V, 5, Obs. 77.
Sauvage 8' Nosologia methodica. Amstelodami 1768, I. T.. p. 757 (im ersten Falle
wurde das Gehör durch den heftig wehenden Wind, im zweiten durch das Gerassel
eines Wagens gebessert). Ferner in der Anat. Wratisl. a. 1718, p. 541 ein Fall, bei
dem durch einen sehr heftigen Donnerschlag das Gehör wieder hergestellt worden
sein soll. Endlich wollte J. Riolan (Op. cum physicatum medica, Francof. 1611,
p. 298) Taubheit durch laute Geräusche (wie Trompetenschmettern etc.) heilen (neque
dubium tubarum sono curari surditatem).
Baco von Verulam. 185
der Gleichgewichtslage gebrachten Knöchelchen geeigneter für die Fort-
leitimg des Schalles werden.
J) Die Beschreibung des Hörnerven, den er als VII., und des Facialis, den er
als VIII. bezeichnet, findet sich auf p. 295—298.
8) Diese Ausgabe wurde als Quelle benutzt.
3) Cap. 14, p. 127—137. De Sensu Auditus.
4) Si haec pars destruatur, sensio adhuc aliquamdiu , rudi licet modo, peragi
possit: quippe experimento olim in cane facto constabat, quod pex'forato
utriusque auris tympano, auditio adhuc ad tempus perstaret, quae tarnen post tres
circiter menses penitus cessabat, scilicet postquam sensorii ad externas injurias pates-
centis crasis everteretur. 1. c. Cap. 14, p. 133.
5) Porro subest alius isque non minus insignis Cochleae usus, nempe ut species-
audibiles non äö-pocu? sed paulatim ac velut in justa proportione et dimenso ner-
vorum sensibilium, hie loci insertorum. fibris ac finibus inprimantur. 1. c. p. 135.
und . . . unde sequitur, quod circa utriusque Cochleae proprium auditus sensorium
collocari debeat. 1. c. p. 136.
6) Enimvero surditatis species quaedam oecurrit, in qua, licet affecti auditus
sensu penitus carere videantur, quamdiu tarnen ingens fragor, uti bombardarum.
campanarum , aut tympani bellici , prope aures circumstrepit , adstantium colloquia
distineta capiunt, et interrogatis apte respondent, cessante vero immani isto strepitu,
denuo statim obsurdeseunt. 1. c. p. 134.
Einer der vielseitigsten, geistvollsten und schöpferischsten Männerr
deren Namen die Geschichte der Wissenschaften verzeichnet, ist der Be-
gründer der induktiven Naturforschung Franc. Bacon von Verulam
(1560 — 1626). In dem „Sylva Sylvaruni" betitelten Teile seiner „Opera
omnia" x) widmet er der Musik und dem Schalle eine ausführliche,
auf experimenteller Grundlage fußende Besprechung. Allein so wertvoll
seine Versuche und die aus ihnen resultierenden Schlüsse für die Lehre
der Akustik immerhin waren, berührten sie das Gebiet der Physiologie
des Ohres doch nur an der einen oder anderen Stelle in kursorischer
Weise. Wahrscheinlich hat Bacon die genauere Bearbeitung dieses
Gegenstandes einer späteren Zeit vorbehalten, wie ein von ihm be-
gonnenes Essay über Ton und Gehör mit Recht vermuten läßt. Leider
ist der erwähnte Aufsatz, der sich in seinen posthumen, von Wilhelm
Rawley herausgegebenen Schriften2) findet, ein Torso geblieben, indem
die letzten drei Kapitel, darunter das für uns wahrscheinlich inter-
essanteste „De organo auditus, ejuseme dispositione et indispositione,
auxiliis et impedimentis", vollkommen fehlen3).
Nichtsdestoweniger können wir es uns hier nicht versagen, ein
kritisches Streiflicht auf die Stellung des berühmten Philosophen zu
gehörsphysiologischen Fragen zu werfen, zumal Bacon in den physio-
logischen Werken recht stiefmütterlich behandelt und seinen gehörsphysio-
logischen Anschauungen überhaupt nicht die gebührende Beachtung ge-
schenkt wird.
186 Baco von Verulam.
Bekannt ist ihm die Trommelfellruptur durch heftige Geräusche,
wobei die Leute im selben Momente im Ohre das Zerreißen einer Membran
verspüren 4). Er selbst will einmal durch einen hohen heftigen Lauten-
ton eine „Ruptura" oder „Dislocatio" in den Ohren gemerkt haben, die
ihm ein viertelstündiges Ohrenklingen verursachte. Seine Erklärung dieser
Erscheinung fußt auf der Ansicht, daß allzu heftige Sinneseindrücke dem
Sinne schaden, wenn sie auch sonst keine Läsion verursachen.
Zu welch verkehrten Hypothesen selbst ein so hervorragender Forscher
durch die Unkenntnis der Anatomie verleitet wurde, beweisen seine Vor-
stellungen von der Gehörsherabsetzung durch das Gähnen. Ein durch
die Mundaufsperrung stärker gespanntes Trommelfell soll den Ton mehr
reflektieren, als ins Ohr einlassen5). Ferner soll die Ausatmung (beim
Gähnen) als Bewegung nach außen die Stimme zurückdrängen 6). Stechen
beim Gähnen führt er auf Spannung des Trommelfells durch kräftige
Inspiration zurück 7). Ein von ihm zur Hörverbesserung empfohlener
Hörtrichter weist keinen originellen Typus auf8).
') Francisco Baconi Baronis de Venilamio opera quae extant omnia, in unum
corpus collecta, et sex voluminibus comprehensa. Amstelod. 1685, Vol. IV. Sylva
Sylvarum sive hist. naturalis et nova Atlantis. Cent. II und III, p. 74 — 166.
2) 1. c. Vol. VI. Opuscula varia posthuina, philosophica, civilia et theologica
Franc. Baconi, nunc primum edita. Cura et Fide Guilielmi Rawley.
3) 1. c. p. 131—168.
4) Ingens sonus, e proximo delatus multos reddidit surdos, qui eo ipso momento
disruptam quasi in auribus membranam sentiebant. Mihi quoque, dum adstarem cui-
dam alte et acute lyra canenti, subito noxa illata est tanquam in auribus ruptura
quadam aut dislocatione facta; et paulo post, tinnitus exstitit sonorus ita ut surdi-
tatem metuerem , sed post quadrantem horae evanuit. Hoc effectum verissime ad
sonum referri potest. 1. c. Vol. IV, Cent. II, p. 92.
5) Oscitatio aurium sensum impedit, propter membranae in aure extensionem,
quae repellit potius quam'admittit sonum. 1. c. Cent. III, p. 155.
6) Ratio est quod omnis exspiratio sit motus ad extra repellens potius quam
attrabens vocem. 1. c. p. 156.
7) Non praeteriit antiquorum diligentiam, cum periculo scilicet pungi oscitanti
aures. Causa est, quia oscitatio interiorem auris membranulam tendit, attracto spiritu
■et anima. Tsta enim, ut et suspiratio, s]>iritum primo valide attrahit, deinde expellit.
1. c. Cent. VII, p. 356.
8) 1. c. Cent, III, p. 156.
Erwähnt seien noch zum Schlüsse zwei das Gehörorgan von Tieren berück-
sichtigende Werke, das „Onomasticum zoicum", Lond. 1668, des Walther Charleton
(Gualterius Charletonius) , in dem das Gehörorgan von Fischen zuerst genauer be-
schrieben wird, und eine Abhandlung des irischen Arztes Allen Müllen (Moulin)
„De organ. audit. avium" (The philosophical transactions and collections abridged.
Vol. II. Lond. 1749).
Frankreich.
In Frankreich haben die Anatomen in der Uebergangsperiode vom
16. zum 17. Jahrhundert im allgemeinen nur geringe Leistungen auf-
Tafel X
Cum me Pt>oet?us amet, P/tce&oJ^aJemjper apiul me
Miateraßnt Offa, etjiauc rulens fyacinthus.
JOANNES RIOLANUS
Jean Riolan. 187
zuweisen, da die Aerzte jener Zeit es mit ihrer Würde unvereinbar
hielten, Kenntnisse zu erwerben, die für das verachtete chirurgische
Handwerk der Barbiere unumgänglich nötig waren. Erst in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts kommt die Anatomie des Gehörorgans durch
Duverney zu Ehren. Seine Vorläufer sind Jean Riolan der Jüngere,
Claude Perrault und Jean Mery.
Jean Riolan der Jüngere (1580 — 1657), der erbittertste Gegner
der Kreislauflehre Harveys, galt zu seiner Zeit als Autorität auf ana-
tomischem Gebiete. Unter seinen zahlreichen Schriften enthalten nament-
lich die Hauptwerke, das „Encheiridium anatomicum et pathologicum" *),
die „Anthropographia"**), ferner die „Animadversiones1', die „Commen-
tarii in Galeni librum de ossibus" etc., eine Anzahl die Otologie betreffende
Bemerkungen. Abgesehen davon, daß seine meist polemischen Erörte-
rungen jeder Originalität entbehren, zeigen sie auch zahlreiche grobe
Fehler, die Morgagni in seinen „Epistolae anatomicae", bei aller Aner-
kennung der Bedeutung Riolans, einer scharfen Kritik unterzieht. Die
Prüfung der beiden erstzitierten Werke auf ihren gehöranatomischen
Inhalt ergibt folgendes.
Den äußeren Gehörgang findet Riolan bis zum siebenten
Lebensmonate knorpelig und bis zum dritten Lebensjahre und noch
länger basal mit einem Fenster versehen r). Hier handelt es sich offen-
bar um die beim Kinde konstant in der vorderen Gehörgangswand vor-
kommende Ossifikationslücke. Die Ansicht Riolans, „daß der äußere
Gehörgang nach vollendeter Ossifikation untrennbar mit dem Trommel-
fellring verschmilzt" 2), ist insofern irrig, als der Gehörgang eigentlich
aus dem Ringe hervorgeht. Das Linsenknöchelchen , das er außer-
halb des Amboß-Steigbügelgelenkes liegend abbildet, hält er für unnütz
und vergleicht es mit einem Knochenschüppchen, wie es in der Hals-
schlagader neben dem Keilbeine vorkomme ;i). Die Muskeln des
inneren Ohres, von denen er bloß einen äußeren und inneren Hammer-
muskel erwähnt, kennt er bloß aus der Lektüre der „Recentiores Ana-
tomici" und beschreibt sie fehlerhaft4). Zur Freilegung der Gehör-
knöchelchen empfiehlt er die Abtragung der oberen Trommelhöhlen wand 5).
Unklar ist seine Beschreibung zweier Ligamente, von denen das eine die
„Cauda" des Hammers fixieren, das andere dem oberen Winkel des
Stapes angeheftet sein soll 6).
Erstaunlich selbst für die damalige Zeit ist seine Behauptung, daß
die „Cavitates internae" des Ohres periostlos und deshalb unempfindlich
seien7). Den gröbsten Irrtum aber, der seine Kenntnis in der Anatomie
*) Paris 1648. Ich benützte die Ausgabe vom Jahre 1649 (Lugcl. Bat.).
**) ibid. 1618.
jss Claude Perrault.
des Ohres in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt, finden wir in der
Angabe, daß der Hörnerv nach dem Durchtritt durch die Schnecke von
der Trommelhöhle aus durch den Tubenkanal zum Gaumen herabsteige
und den Kehlkopf innerviere 8). Den M. levator palati mollis (von ihm
Peristaphylinus internus genannt) läßt er an einem beweglichen Knorpel
entspringen, weiß jedoch nicht, daß dieser der Ohrtrompete angehört9).
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, daß seine Ausführungen wegen des
Gebrauches der Ausdrücke „rechts" und „links" vielfach unverständlich
werden und auch die beigegebenen aus anderen Werken entlehnten Ab-
bildungen an Deutlichkeit manches zu wünschen übrig lassen.
Noch fragmentarischer und dürftiger sind seine Angaben über das
Ohr in der früher erschienenen „Anthropographia" 10) , wo zum Teile
Stellen aus dem „Encheiridium" sich Avortwörtlich wiederfinden.
Die Beobachtungen Riolans über Pathologie und Therapie der
Ohrerkrankungen werden wir im folgenden Abschnitte besprechen.
') In hac Epipliysi Auriculari multa veniunt observanda. Meatus auditorius
totus est cartilaginosus, circa quintum aut sextum rnensem, Osseam naturam acquirit
quarnvis ad septimum usque mensem separari queat, sed in basi biulcum, ac veluti
fenestratum usque ad tertium annum et arnplius perstat. p. 45.
2) Sed ubi rneatus Auditorius obduruit, -tarn arcte Osseus circulus agglutinatur,
ut postea sit inseparabilis. p. 45.
3) Quartum alii adiiciunt, quod est squamula Ossis, qualis in carotide arteria
deprehenditur juxta Os spbenoides. Sed illud inane est ac inutile. p. 287.
4) Recentiores Anatomici Auris internae duos rnusculos constituunt, unum ex-
ternum in poro auditorio, qui membranarn retrahit : Alterum intra Concham malleolo
affixum. p. 337.
5) 1. c. Lib. VI, Cap. 12, p. 441.
6) Sed Tendones vel potius ligamenta reperiuntur duo, unum, quod malleoli
caudam sistit. alterum quod stapedis angulo superiori alligatur. p. 442.
'•) 1. c. Lib. IV, Cap. 4, p. 289.
8) Nervus auditorius consideratione dignus, qui in Auris cavitatem inseritur
et per Canaliculum in Palatum delabitur, atque Laryngi interno distribuitur: Hinc
ille consensus Aurium cum Dentibus, Larynge, et Pulmonibus. 249. Nervus auditorius
traductus per cochleam, ubi pervenit ad concbam per foramen sive Canaliculum
ad dextrum latus Conchae adapertum, delabitur in palatum juxta apopbysim ptery-
goideam. p. 288.
9) 1. c. Lib. V, Cap. 19, p. 342.
,0) 1. c. Lib. III, Cap. 5, p. 449; Lib. V, Cap. 13, p. 509 und Lib. VI, Cap. 48,
p. 626 sq.
Wertvolle Beiträge zur Anatomie des Gehörorgans lieferte Per-
rault. An ihn reiht sich J. Mery, ein Zeitgenosse Duverneys,
dessen Arbeiten trotz zahlreicher Irrtümer einen Fortschritt gegenüber
Perrault bedeuten.
Claude Perrault (1613—1688), einer der vielseitigsten Männer
seiner Zeit, wurde 1613 zu Paris geboren und erlangte ebenso wie seine
Tafel XI
CLAUDE PERRAULT
Claude Perrault. 189
drei Brüder einen ruhmvollen Namen in der Zeitgeschichte Frankreichs.
Anfangs studierte er Medizin, wurde aber durch die ihm von dem Minister
Colbert übertragene französische Uebersetzung des Vitruvius der Bau-
kunst zugeführt. Zu welcher Meisterschaft er es in dieser brachte, dafür
liefert der Bau des Louvre sprechendes Zeugnis.
Perrault war auch einer der vorzüglichsten Physiker seiner
Zeit. Er beschäftigte sich eingehend mit zoologischen, anatomischen
und physiologischen Studien. Als Anatom und Arzt gehörte er der
1665 von Colbert gestifteten „Academie Royale des Sciences" an,
welche ihren Mitgliedern die Pflege der Naturwissenschaften zur Haupt-
aufgabe machte. Perrault benützte die durch königliche Freigebigkeit
aus der Menagerie des königlichen Gartens zur Verfügung gestellten
seltensten Tiere zum Studium der vergleichenden Anatomie. Zahlreiche
Abhandlungen Perrault s finden sich in den „Memoires de l'Academie".
Er starb 75 Jahre alt an den Folgen einer Verletzung bei der Sektion
eines Kamels.
In der Geschichte der Ohranatomie nimmt er deshalb eine ehren-
volle Stelle ein, weil er noch sorgfältiger als Casserius die vergleichende
Anatomie heranzog, um über Norm und Abweichung, Zweck und Nutzen
der Teile des menschlichen Gehörorgans ins klare zu kommen.
Die das Gehörorgan betreffenden Untersuchungen beziehen sich
auf die Anatomie, Physiologie und Akustik und zum Teile auch auf
Pathologie und sind in seinen „Oeuvres diverses" (Leiden 1721) ent-
halten. Ihre erste Publikation findet sich in seinen „Observations sur
Forgane de FOuie. Me'moires de l'Ac. de Paris. Vol. I, p. 243. Essais
de Physique ou Recueil de plusieurs traitez touchant les choses naturelles".
T. I, II, III. 1680. T. IV. 1688. Edit. J. B. Caignard. Paris.
Seine Schilderung des Gehörorgans zählt zu den besten dieser Zeit.
Stets wird zur Illustration die vergleichende Anatomie herangezogen,
wobei er vorzüglich das Gehörorgan von Vögeln benützt. Doch haften
trotz vieler Vorzüge seiner Ohranatomie manche Mängel und Irr-
tümer an.
Im IL Bande seiner „Essais de Physique", betitelt „Du Bruit",
behandelt Perrault ausführlich die damals geltenden Theorien über
den Schall, die Anatomie und Physiologie des Gehörorganes, wobei er
stets zur Erklärung der Funktion eine Parallele mit der Physiologie des
Gesichtssinnes zieht. Die 336 Seiten umfassende Abhandlung gibt Zeugnis
von der hohen Begabung, dem umfangreichen Wissen und der Viel-
seitigkeit des Verfassers. Dem Texte sind mehrere Tafeln mit einer
größeren Anzahl von Abbildungen beigegeben, von denen die Mehrzahl
jedoch bei roher Ausführung primitiv und selbst schematisch unrichtig
erscheint. Als Beispiel hierfür diene die beistehende Abbildung des
190
Claude Perrault.
Schneckendurchschnittes (Fig. 8) mit der Spirallamelle und dem in den
Modiolus (Noyau du limacon) eintretenden Hörneryen.
Die bisweilen vorkommende Beweglichkeit der Ohrmuschel
spricht Perrault fälschlich der Funktion des Hautmuskels und nicht
den Ohrmuskeln zu. Er beschreibt und bildet den Annulus tympanicus
beim Neugeborenen ab, glaubt aber irrtümlich, daß dieser beim Erwach-
senen ohne Spuren seines früheren Zustandes mit dem Schläfebein ver-
wachse1). Auch leugnet er, daß bei Kindern das Trommelfell dem
Annulus tymp. anhafte; denn die Membran sei Aveiter vorn und nicht
vertikal inseriert. Zutreffend hingegen ist seine Bemerkung, daß das
Trommelfell in allen Lebensaltern durch den Zug des Hammergriffs
gegen die Trommelhöhle geneigt erscheine. Bei Schildkröten fand er
das Trommelfell knorpelig. Das Cavum tympani sei sowohl beim
Menschen als auch bei den Säugetieren von
einer zarten Membran ausgekleidet, welche
sich stellenweise leicht vom Knochen ab-
heben lasse; nur am Trommelfellring hafte
sie fester und besitze auch Blutgefäße. Die
Fortsätze des Hammers werden nicht er-
wähnt. Das von Sylvius beschriebene Os
lenticulare findet man nach Perrault
selten. Er hält es für das abgebrochene
Ende des langen Amboßschenkels2). Die
Sehne des Stapedius beschreibt er als
Ligament3). Von den inneren Ohr-
muskeln erwähnt er nur den Trommel-
fellspanner. Dieser ist nach ihm ein
Antagonist des Bandapparates der Gehörknöchelchen, die nach dem Auf-
hören der Aktion des Muskels die Membran entspannen4). Er beschreibt
zum ersten Male den aufgeworfenen Rand der Fenestra rotunda (Cochleae),
Avelche bei allen Säugetieren durch eine sehr zarte, nach innen gewölbte
Membran verschlossen sei (Schneckenfenstermembran). Die Schilderung
des Labyrinthes erklärt er für sehr schwierig. Das Vestibulum
und die Bogengänge, von denen mehrere mangelhaft abgebildet sind,
werden ohne nähere Beschreibung erwähnt. Die Lamina spiralis
ossea, die vom Modiolus in den Schneckenkanal hineinragt, sei sehr
zart und flexibel, weshalb er sie als „Membrane spirale" bezeichnet. Diese
Spirallamelle sei nur am Modiolus, nicht aber an der entgegen-
gesetzten Wand des Schneckenkanals befestigt. Sie teile zwar
den Schneckenkanal, jedoch unvollständig, in zwei Teile, so daß die
beiden Abteilungen überall miteinander kommunizieren. Perrault hat
somit die eigentliche Spiralmembran nicht gekannt5).
Fig. 8. Reprod. des Schnecken-
durchschnittes aus den „Essais
de Physique etc." Tora. III des
Claude Perrault. 1680, p. 57.
Claude Perrault. 191
Im physiologischen Teile seiner Arbeit bespricht Perrault zunächst
die "Wirkung der äußeren Ohrmuskeln und hierauf die des Tensor
tympani, welcher dem Trommelfell eine mittlere Spannung verleiht, die
es befähigen, starke und schwache Geräusche, hohe und tiefe Töne in ge-
ringerer oder größerer Distanz aufzunehmen und fortzuleiten ü). Das
Sekret der Ceruminaldrüsen soll zur Abschwächung des Schalles dienen.
Was die Funktion der Schnecke anlangt, so spricht sich Perrault dahin
aus, daß die in die Spirallamelle eintretenden Fasern sich mit der Knochen-
substanz der Spirallamelle mengen und eine Art Membran bilden, die
er für das eigentliche Organ des Hörens hält 7). Trotz dieser Annahme
zweifelt Perrault nicht im mindesten an der Existenz des Aer implan-
tatus, dessen Sitz im Labyrinthe und nicht in der Paukenhöhle sei.
Nach seiner Erklärung werden die Erschütterungen des Trommelfells
auf die Luft der Trommelhöhle und von dieser auf die Membran des
runden Fensters übertragen. Von dort geht die Erschütterung auf
die im Labyrinthe eingeschlossene Luft über, deren Vibrationen, durch
die membranösen Gebilde im Labyrinthe gemildert, auf die Spiral-
membran fortgepflanzt, das eigentliche Organ des Hörens in Bewegung
setzen s).
Eigentümliche Ansichten entwickelt Perrault über die Aetiologie
einzelner Formen von Schwerhörigkeit. So glaubt er, daß Schwerhörig-
keit durch starke Schalleinwirkung deshalb entstehe, weil durch die
Erschütterung die Spirallamelle gebrochen werde, wie etwa ein Glas
durch heftige Erschütterung. Ferner meint er, daß die Südwinde die
Schwerhörigkeit steigern, indem sie durch ihre Feuchtigkeit die un-
umgänglich nötige Trockenheit der Spiralmembran vermindern. Da
diese Trockenheit eine mittlere sein müsse, so sei es ferner erklärlich,
daß im Alter, wo die Knochen trockener werden, durch allzu große
Trockenheit der Spiralmembran sich häufig Schwerhörigkeit entwickle 9).
*) S. 192 f.: „Dans les enfans nouveaux nez, ce rebord est un os separe du
crane, faisant comme un anneau qui n'est pas entier, parce que son cercle est inter-
rompu ä l'endroit oü ce rebord manque dans les adultes, ausquels cet anneau se
trouve reellement colle et reuni ä Tos des temples qu'il n'y reste aucune marque qui
puisse faire croire qu'il ait autrefois este separe."
2) S. 203: „Mais on le trouve rarement, et il y a Heu de croire quand on le
rencontre que c'est le petit noeud du bout de Ja jambe par laquelle l'enclume est
attachee ä lYtrier qui a este rompu."
3) S. 203: „La teste est attachäe pur un ligament large ä l'os des temples."
'') S. 236 f. : „II taut supposer que la membrane du Tambour est ordinairement
entretenue par le rnuscle, dans une tension mediocre, <|ui Ja rend capable d'estre
einüe mediocrement; c'est ä dire ny trop fortement par les violentes agitations des
bruits procbes et des tons aigus, ny trop foiblement par les bruits des corps eloignez
et des tous graves; et que les tensions ou les relächemens extremes sont reservez
pour les bruits extremes, savoir pour les bruits forts et aigus, et les grandes tensions
192 Jean Mery.
pour les bruita foibles et pour les tons graves, quand on veut avoir une grande
attention ä Tun ou ä l'autre de ces bruits."
5) S. 211: „De ce noyau il sort une lame osseuse et fort mince qui tournant
en ligne spirale comrae le conduit, le partage tout du long en deux, en Sorte que
n'estant attachee qu'au noyau et non ä la partie opposite du conduit , eile ne fait
point que le conduit soit double, et que la partie qui est au dessus n'ait communi-
cation avec celle qui est dessous."
6) S. 238: „Et cela se fait fort commodenient par un seul muscle auquel les
ligamens des osselets, et la membrane merae du Tambour, servent d'Antagonistes."
7) S. 246 f. : „11 y a sujet de croire que ces fibres recoivent quelque chose de
la substance osseuse qu'elles penetrent, en sorte que cette substance osseuse se mes-
lant avec la substance nerveuse des fibres du nerf, il s'en compose une espece de
membrane que j'appelle la membrane Spirale, et que j'estime estre l'organe immediat
de l'ouie". und S. 249: „Pour ce qui est de la Situation de cette membrane osseuse,
j'ai deja remarque qu'elle n'est point attachee ny couchee sur le conduit, mais qu'elle
tient seulement au noyeau duquel eile naist, et au tour duquel eile se soütient comme
une fraise ou comme une rotonde , qui n'appuye point sur les epaules , et qui est
seulement attachee au col. Et en effet, cette Situation semble fort favorable ä la
disposition que cet organe doit avoir, qui est d'estre facilement ebranle par les
emotions de Fair qui causent le bruit."
s) S. 259: „Enfin cette derniere emotion, adoucie comme eile est par l'inter-
position des membranes , et rendue vive et piquante autant qu'il est necessaire par
leur tension, erneut la membrane spirale qui est l'organe immediat de l'ou'ie, dont
la delicatesse est suffisament conservee et deffendue des injures de l'air, quoy qu'elle
soit touchee immediatement par l'air: mais l'air qui la touche immediatement est
exeinpt des qualites nuisibles qui se pourroient rencontrer dans l'air de dehors, estant
enferme fort exactement, et fomente par la chaleur de l'aleine des poumons."
9) S. 250 f.: „On peut encore par cette disposition de la membrane spirale
donner la raison de plusieurs Phenomenes, touchant la perte ou la diminution de
l'ouie; car il y a quelque apparence que la perte de l'ou'ie qui arrive par un grand
bruit, procede de ce que cette membrane estant mince comme eile est, et d'une
substance tres-cassante dans quelques animaux, eile peut estre ebranlee avec assez
de violence par un grand bruit, pour en pouvoir estre cassee; de mesme que l'on
scait qu'un grand bruit peut casser un verre. Ainsi les vents du Midy diminuent
l'ouie , parce que leur humidite diminue la secheresse qui doit estre dans cette
membrane. Kt comme cette secheresse doit estre mediocre, il arrive souvent que
1'oui'e devient dure lorsque dans la vieillesse les os sont beaucoup dessechez."
Jean Mery (1645—1722), Anatom und gleichzeitig Chirurg am
Hötel-Dieu, weicht in vielen Beziehungen von Perrault ab. Ein eifer-
süchtiger Rivale Duverneys, veröffentlichte Mery zugleich mit Lamys
„Explication mechanique de fonctions de lVune sensitive" sein Buch
„Description exacte de l'oreille de l'homme avec explication mechanique
et physique des fonctions de Tarne sensitive" (Paris 1677, 1681, 1687)*)
im Jahre 1677, um Duverney, von dem er wußte, daß er an einem
ähnlichen Werke arbeite, zuvorzukommen. Wenn dieses Werk auch nicht
*) Als Quelle wurde benützt: Oeuvres completes de Jean Mery, par le
Dr. L. H. Petit. Paris 1888.
Jean Mery. 193
im entferntesten an die epochemachende Schrift Duverneys hinan-
reicht, so ist es doch nicht ohne Bedeutung, ja es enthält sogar neben
vielen Irrtümern manche ausgezeichnete Beobachtung; doch darf bei der
Beurteilung des Autors der Umstand nicht außer acht gelassen werden,
daß Mery oft Gelegenheit hatte, Duverneys Vorträge zu hören, von
denen er manches anatomische Detail entlehnen konnte.
Ein Hauptverdienst Merys besteht darin, daß er die schon von
Casserio angedeuteten In zisuren des äußeren Gehörgangs genauer
beschreibt. Er vergleicht den äußeren Ohrkanal wegen dieser Einschnitte
und seiner Struktur mit der Trachea x). Der knorpelige Teil des Kanals
ist nach ihm nicht unmittelbar mit dem Knochen, sondern durch eine
Membran verbunden.
Eine anatomische Entdeckung Merys ist der Dorn der Ohrleiste
(Spina s. processus acutus helicis) sowie das zuweilen gabelförmig
gespaltene Ende der Ohrleiste, der „Processus helicis", welcher von dem
übrigen Ohrknorpel etwas absteht.
Was die Ohrmuschel anbelangt, so leugnet Mery, der selbst die
Ohrmuscheln bewegen konnte, daß diese Beweglichkeit durch eigene Ohr-
muskeln bedingt sei. Was man als solche beschrieben hatte, seien
Aponeurosen und Teile des Hautmuskels, des Frontalis und Occipitalis.
Die Trommelhöhle teilt er in zwei Teile, in „die untere, vordere,
runde" und „obere, hintere, längliche".
Mery fand die Furche des Annulus tymp. bei Kindern, glaubte
aber irrtümlich, daß sie bei Erwachsenen verschwinde. Die Gehör-
knöchelchen seien gelenkig verbunden, teils durch Ginglymus, teils durch
Arthrodie; auch erwähnt er zum ersten Male die Synovialkapseln der
Gehörknöchelchen. Er kennt zwei Hammerfortsätze, meint, daß das Os
lenticulare selbständig sei und daß der Stapes das Foramen ovale nicht
exakt verschließen könne, weil sonst die Luft in den Vorhof nicht
einzudringen vermöge2). Hinsichtlich der inneren Ohrmuskeln, deren
er vier annimmt, teilt er dem inneren Hammermuskel, wie manche
seiner Vorgänger, zwei Sehnen zu. Die Natur der Chorda tympani, die
er für eine muskulöse Sehne hält, verkennt Mery gänzlich.
Das innere Ohr beschreibt er verhältnismäßig gut. Nach Folius
ist er der erste, der die Bogengänge aus dem Knochen herausprä-
pariert darstellt. Auch weiß er, daß zwei Bogengänge mit einer gemein-
schaftlichen Oeffnung in den Vorhof einmünden I.
Die Zahl der Schneckenwindungen wird ganz richtig mit zwei
und einer halben angegeben. Im Gegensatze zu Perrault, der nur die
knöcherne Spirallamelle kennt, beschreibt Mery exakt die schon von
Eustachio entdeckte membranöse Spiralplatte, durch die der
Schneckenkanal in zwei Treppen geteilt wird'). Beide Treppen kom-
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 13
194 Jean Mery.
munizieren durch ein kleines Loch an der Spitze der Schnecke 5). Er
ist in dem Irrtum befangen, daß der Acusticus der Schneckenbasis bloß
anliege, ohne mit seinen Fasern in den Kern der Schnecke (Modiolus)
einzudringen6). Dies ist umso befremdlicher, als Perrault vor ihm
den Nerveneintritt in die Spindel beschreibt und abbildet (S. 190).
Die Schilderung des Nervenverlaufes im Vorhof und in den Bogengängen
ist durchaus falsch. Nach ihm dringt ein kleiner Ast des Nerven durch
eine größere Oeffnung in den Vorhof, wo er sich in fünf kleine Aeste teilt,
die in die fünf Oeffnungen der Bogengänge eintreten und diese in ihrer
ganzen Länge durchlaufen 7).
Hinsichtlich der Funktion der Schnecke glaubt Mery, daß
die Spiralmembran der Schnecke nur die Eigentümlichkeit ihrer spiralen
Anordnung besitze, daß sie aber keineswegs als wichtiges Organ für das
Hören angesehen Averden kann 8). Wie seine Vorgänger hält er am
„Aer ingenitus" fest, der durch die mit dem Vorhof und der Schnecke
kommunizierenden Bogengänge ungehindert im ganzen Labyrinthe leicht
zirkulieren könne 9).
1) Car il n'est que cartilagineux en dessous et membraneux en dessus et devise
par plusieurs intersections, dont la premiere est tournee en forme de vis de devant
en arriere. . . . Les autres intersections sont ä-peu-pres de la meme figure que celles
de la trachee artere. 1. c. p. 2.
2) C'est par cette Ouvertüre que l'air du tambour a communication avec celui
qui est contenu dans tout le labyrinthe; ce qui ne pourrait arriver si le trou ovalaire
etait bouche par une membrane conune l'on pretend; de plus, si ce trou etait toujours
ferme, l'air du labyrinthe ne pourrait que tres faiblement etre agite, et ainsi il ne
rendrait qu'un son fort sourd, de ruenie que ferait un tambour, s'il n'avait point de
trou. 1. c. p. 7.
3) „Places Tun au-dessus de l'autre s'unissent ensemble par deux de leurs ex-
tremites, ä la partie posterieure moyenne de la röche, et ne fönt, etant unis, qu'un
trou ouvert dans la partie posterieure de la conque etc. 1. c. p. 11.
4) „II semble ä la considerer par le dehors, qu'elle ne soit coorposee que d'un
seul canal de deux tours et demi, separes les uns des autres par une lame d'os qui
d'un cöte est unie au moyau de la coquille et de l'autre aux parois de cette meme
cavite; mais par dedans, la coquille est formee de deux canaux, Tun est anterieur
et l'autre posterieur qui sont separes les uns de l'autre, en partie par une autre petite
lame d'os extremement mince, qui sort de noyau pyramidal qui est au milieu de la
coquille et en partie, par une membrane qui etant d'un cöte attache a cette petite
lame osseuse s'attache de l'autre aux parois de la coquille. " 1. c. p. 9.
5) II a trouve aussi que les deux rampes du limacon qui fait partie de l'oreille
interne, avaient communication entre elles ä leur extremite la plus etroite par un
petit trou rond, au travers duquel l'air agite, passant et repassant, frotte le bout de
la membrane qui separe ces deux rampes. 1. c. \>. 13.
6) Le noyau de la coquille n'est point peree, quoique la partie rnolle du nerf
s'applique ä sa base, et qu'elle ne penetre point la coquille. 1. c. p. 10.
7) Ce rameau se divise dans cette cavite en cinq petites brancbes, qui entrent
par les cinq ouvertures dans les trois canaux circulaires qu'elles parcourent entiere-
ment. 1. c. p. 12.
G. Lamy. 105
8) La raembrane qui est dans la coquille n'est point Ja partie principale de
Torgane de Fouie, puisqu'elle n'a rien de particulier que sa figure spirale. 1. c. p. 10.
9) Ces trois canaux etant ouverts dans la conque. avec le canal anterieur de
la coquille, l'air roule facilement dans toutes les cavites du labyrinthe. I.e. p. 12.
Gr. Lamy. Gleichzeitig mit dem anatomischen Werke Merys
erschien die physiologische Arbeit seines Zeitgenossen und Freundes
G. Lamy, betitelt „Explication mechanique des funetions de 1'äme sensi-
sive ou Ton traite de l'organe de Sens, des passions et du mouvemens
volontaire", Paris 1677. In dieser, die Sinnesphysiologie behandelnden
Schrift, die sich gegen Perrault wendet, stützt sich Lamy vorzugsweise
auf die nicht immer richtigen Angaben Merys. Nach Lamy besteht
im Ohre eine Art Strömung (Zirkulation» der Luft, die durch den Gehör-
gang eintretend, auf dem Wege der Fenestra ovalis in den Vorhof,
von da in die Bogengänge und Schnecke gelange, von wo sie durch das
runde Fenster (Fen. Cochleae) in die Trommelhöhle zurückkehre und
durch die Tuba Eustachii entweiche.
Außer den Genannten wären noch einige französische Autoren von geringerer
Bedeutung anzuführen: Nicolaus Habicöt (f 1624), Anatom und Chirurg am
Hötel-Dieu, ein heftiger Gegner Rio] ans, hält sich im ganzen an Falloppio und
bringt nichts wesentlich Neues. In seiner „Semaine ou pratique anatomique" ') liefert
er eine eingehende, aber unklare Abhandlung über das Gehörorgan. In dieser werden
außer Blutgefäßen am Trommelfelle vier Gehörknöchelchen und vier Bänder derselben
erwähnt, von denen zwei dem Hammer und Steigbügel, zwei dem Amboß zugehören
sollen, die aber unseren heutigen anatomischen Kenntnissen nicht entsprechen.
Mehr leistete Theophile Gelee aus Dieppe, der die Synovialkapsel der
Gehörknöchelchen genauer beschrieb'-'). In seiner Anatomie :i) gibt er eine gute Be-
schreibung der Gehörknöchelchen und ihrer gelenkigen Verbindungen. Nach ihm
sind die Gehörknöchelchen beim Neugeborenen ebenso groß wie beim Erwachsenen,
in ihrer Mitte jedoch mehr weich und fast knorpelig4).
Von den teils anatomischen5), teils physiologischen 6) Abhandlungen des Jean
Baptiste Hamel ist nur die eine Tatsache erwähnenswert, daß er die Schnecke
für das eigentliche Apperzeptionsorgan hält
Noch wären aus dieser Periode anzuführen Gebert Puylon, der das Trommel-
fell für die trockenste Membran erklärte (Paris 1641), und Nicolas Papin, Onkel
des berühmten Isaac Papin, der über das Ohrenschmalz schrieb, die Ohrenschmalz-
drüsen jedoch nur oberflächlich kannte7).
1) Semaine ou pratique anatomique par laquelle est enseigne par lecons le
moyen de les assembler les parties du corps humain. Paris 1610, 1630, 1660.
2) S. Lieutand, Zergliederungskunst Bd. I, p. 73.
3) L'Anatomie Francaise en forme d'Abrege, recueillie des meilleurs Auteurs
qui ont ecrit sur cette science. Lyon 1635, Paris 1656.
4) Ils sont quelque peu plus mols et comme cartilagineux en leur miteau, qui
est cause, que les enfants n'oient pas si bien. p. 36.
5) De cor]3orum affectionibus . . . libri duo. Paris 1670.
6) De corpore animato 1. IV. Paris 1673.
7) Prolusio de aurium ceruminis usu invento (Saumur 1648).
196 Gassendus. Mersenne.
Die Physiologie des Gehörsinnes fand in diesem Zeiträume im Gegen-
satze zu der weiter vorgeschrittenen physiologischen Optik nur geringe Förderung,
weil die damals neu gefundenen akustischen Gesetze nur in geringem Maße auf das
Gehörorgan angewendet wurden.
Von den in dieser Zeitperiode die Akustik fördernden Physikern seien erwähnt:
Petrus Gassendus (1592 — 1655), der die Schnelligkeit der Fortpflanzung des
Schalles zu bestimmen suchte und sie auf 1473 Fuß in der Sekunde festsetzte.
Mersenne (1588 — 1648), der in seiner „Harmonie" (Paris 1644) Theorien über
den Schall, Schnelligkeit der Fortpflanzung, Zahl der Schwingungen, Ursachen der
Verschiedenheit der Töne u.a. mitteilte. Mersenne, ein Schüler Galileis, wußte,
daß die Tonhöhe durch die Schwingungszahl bedingt sei und kannte bereits die
Obertöne (1618). Er war einer der ersten, der die therapeutische Anwendung von
Tönen empfahl.
Damit schließt die sterile Zeitperiode der Ohranatomie. Bald
genug jedoch tritt ein hervorragender französischer Forscher auf den
Plan, mit dem eine neue glänzende Aera der otologischen Wissenschaft
beginnt:
Duverney.
Guichard Joseph Duverney (1648 — 1730)1), dessen Name einen
Markstein in der Geschichte unseres Fachs bedeutet, wurde als Sohn eines
Arztes am 5. August 1648 zu Feurs en Forez, einer alten kleinen Stadt
am rechten Ufer der Loire, geboren. Er entstammte einer uralten adeligen
Familie, die am Ende des 13. Jahrhunderts das Schloß du Verney zu
Saint-Galmier besaß. Schon mit 19 Jahren erwarb Duverney nach
fünfjährigem Studium zu Avignon den Doktortitel, worauf er sich
nach Paris begab. Dort fiel er bald durch seine glänzenden Talente auf
und erhielt die Stelle eines Demonstrators am Jardin du roi, avo er zugleich
mit seinem Schüler Pierre Dionis, dem Arzte Ludwigs XIV., wirkte
und vor einem vornehmen Publikum außer den Entdeckungen fremd-
ländischer Anatomen auch die Resultate seiner eigenen anatomischen
Arbeiten demonstrierte. Durch seine außerordentliche Gelehrsamkeit, die
geistreiche Behandlungsweise des sonst trockenen Stoffes, durch sein
hervorragendes Rednertalent, das noch eine Stütze im Zauber seiner
Persönlichkeit fand, erwarb er nicht nur eine weitreichende Berühmt-
heit, sondern erregte in hohem Grade das Interesse für die anatomi-
sche Wissenschaft in Kreisen, die diesem Fache bisher geringschätzend
gegenüberstanden2). In den höchsten Ständen wurde es Mode, seine
Vorlesungen zu besuchen, ja Bossuet bestimmte, daß Duverney auch
den Dauphin in der Anatomie unterrichte 3) und kreierte somit die
Stellung eines Hofanatomen , die bis zur Revolutionszeit bestand und
zuletzt mit dem trefflichen Historiographen Portal besetzt war.
Das Interesse, welches Duverney in den höchsten Kreisen erwarb,
kam der anatomischen Forschung an der Pariser Schule zu gute. Ge-
Duverney. 197
fördert durch königliche Freigebigkeit, hatte Duverney wie schon vor
ihm Perrault Gelegenheit, die seltensten Tiere, die für den könig-
lichen Garten angeschafft wurden, zu zergliedern und die vergleichende
Anatomie durch neue Entdeckungen zu bereichern.
Im Jahre 1674 wurde er zum Mitglied der 1665 von Colbert
gegründeten Academie royale des sciences ernannt, die vorwiegend die
Naturwissenschaften pflegte. Von 1679 an hielt er im Jardin royal als
Professor der Anatomie Vorlesungen. Wie trefflich er dieses Amt versah,
beweist die stattliche Schar berühmter Schüler in beredter Weise.
Duverney kann mit Recht als der Begründer der französischen
anatomischen Schule des 18. Jahrhunderts angesehen werden, aus der
Männer wie Dionis, Winslow, Senac, Petit u. a. hervorgingen.
Außer der Lehrtätigkeit galt sein erstaunlicher Fleiß denJArbeiten für die
Akademie, die sich auf die mannigfaltigsten anatomischen und physio-
logischen Themen bezogen und insbesondere die vergleichende Anatomie
förderten. Dem letztgenannten Zwecke diente auch seine von der
Akademie verfügte Entsendung nach der Bretagne und nach Bayonne,
wo er viele ergebnisreiche Zergliederungen von Fischen vornahm. Erst
im beginnenden Alter zog er sich, erschöpft durch die rastlose Arbeit,
für mehrere Jahre von der Akademie zurück, erschien aber 1728,
80 Jahre alt, neuerdings, um wieder an vergleichenden anatomischen
Arbeiten teilzunehmen. Zwei Jahre später (10. September 1730) starb
er, betrauert von den Fachgenossen aller Länder, mit deren bedeutendsten
Vertretern, wie Malpighi, Ruysch, Bidloo, Boerhaave, er in
wissenschaftlichem Verkehre stand.
Die Arbeiten Duverneys zeichnen sich durch Kürze, Reichtum
des Inhalts, musterhafte Genauigkeit und Schärfe des Urteils aus. Mit
besonderer Vorliebe widmete er sich der Erforschung des Gehör-
organs. Selbst auf seinen wissenschaftlichen Reisen stellte er genaue
Untersuchungen über das Gehör der Fische an und noch kurz vor seinem
Tode bereitete er mit Winslow eine neue Ausgabe seines Hauptwerkes
über das Gehörorgan vor. „Traite de Torgane de Tome" betitelt, er-
schien es im Jahre 1683 und übertraf alle Erwartungen. Es erlangte
eine große Verbreitung und wurde auch ins Deutsche (Berlin 1732),
Englische und Lateinische (Norimberg 1684, Lugd. Batav. 1732) übersetzt.
Wie der Titel4) besagt, behandelt das im Vergleich zu anderen und im
Verhältnisse zu seinem Inhalt erstaunlich kurz gefaßte Werk die Ana-
tomie, Physiologie, Pathologie und Therapie des Gehörorgans.
Seiner Bedeutung entsprechend wollen wir in folgendem eine kurze
Analyse desselben geben.
[98 Duverney.
a) Die Anatomie Duverneys.
Der erste Teil des in drei Abschnitte zerfallenden Werkes be-
handelt die Anatomie des Ohres und enthält 16 Tafeln teils guter,
teils mißlungener Abbildungen. Hier ist die Ohranatomie in einer so
klaren, übersichtlichen, geordneten Weise beschrieben, daß das Werk
noch heute für das anatomische Studiuni mit Nutzen verwendet werden
kann. In Bezug auf die Darstellung ist es nur mit dem seinerzeit
epochalen Meisterwerke F a 1 1 o p p i o s zu vergleichen, das allerdings eine
größere Fülle neuer Tatsachen umfaßte.
D uverneys Anatomie, obwohl nicht reich an eigenen, neuen Ent-
deckungen, ist ein Werk in modernem Geiste; es faßt zum ersten Male
die Forschungsergebnisse abgerundet und wohlgesichtet zusammen, es
verbreitet ein ganz neues Licht über das schon früher Bekannte und
verrät in jeder Zeile die Exaktheit der Forschung, indem es nur sichere
Tatsachen mitteilt, alles Unklare aber der Zukunft überläßt.
Duverney teilt das Gehörorgan in ein äußeres, welches die
Ohrmuschel, den Gehörgang und das Trommelfell in sich begreift, und ein
inneres, zu dem er die Trommelhöhle, den Warzenteil, die Eustachische
^^^ Röhre und das Labyrinth rechnet. Die Ohr-
fV^s^S. muschel wird ausführlich beschrieben, ohne
)j daß der Leser mit den zahlreichen Benennungen
,1 j V^V\ ermüdet würde , welche die meisten Autoren
V"-^^1 vor ihm aufzählen. Die Muskeln des Tragus
^^Vv und Antitragus werden nicht erwähnt. Hin-
^^ gegen ist hier zum ersten Male das Ligament.
Fig. 9. Pars tympanica des auric. posterior beschrieben und die Gefäße,
knöchernen Gehorganges Arterien und Venen, sowie Nervenverzweigungen
beim Erwachsenen. 1 hotogr. , ° ,
Reproduktion ausDuver- der Ohrmuschel abgebildet5). Ebenso klar schil-
™V .?TBrai# /?/°i.gan„e dert er den Gehörgang, „le trou de l'oreille",
de louie . Taf. IV, Fig. 2. ... . .
hinsichtlich seiner Länge, Richtung und Struk-
tur''), wobei namentlich hervorzuheben ist, daß Duverney die Ceru-
mi naldrüsen 7) als kleine in die Cutis eingesenkte, gelbe Drüschen
beschreibt, ohne jedoch in Ermanglung mikroskopischer Untersuchung
auf ihre feinere Struktur näher einzugehen. Ob er die in seinem Werke
abgebildeten Inzisuren des äußeren Gehörgangs8) vor Mery (s. S. 193)
gekannt hat, läßt sich nicht entscheiden. Bei der Beschreibung des
Trommelfells weist er darauf hin, daß die Furche des Annulus tym-
panicus am vorderen, oberen Pole der Zirkumferenz des Knochenrahmens
fehlt9). Duverney ist der erste, der den vom Annulus tympanicus
hervorgegangenen Teil des knöchernen Gehörganges (pars tym-
panica) beschreibt und gesondert abbildet (Fig. 9). Die Kommunikation
Duverney. 199
der Trommelhöhle mit den Zellen des Warzenfortsatzes wird durch
Beschreibung und Abbildung zum ersten Male sichergestellt. Auch der
Recessus epitympanicus ist .ihm nicht entgangen; er schildert
ihn als eine Einsenkung (enfoncement) im oberen Trommelhöhlenraum,
in welchem die Köpfe der Gehörknöchelchen liegen (logez). Die Be-
schreibung der Ohrtrompete, die auch er noch als Aquädukt be-
zeichnet10), entspricht der des Eustachio, doch ist sie hier zum ersten
Male im Zusammenhange mit der Ansicht der inneren Trommelhöhlen-
wand gut abgebildet. (Taf. 8 Fig. 2.) Er weiß, daß die Schleimhaut des
knorpeligen Teiles, welche die Fortsetzung der Nasenschleimhaut darstellt,
zahlreiche Drüsen enthält * x), daß der Tubenwulst an der Rachenmündung
der Ohrtrompete von einer halbmondförmigen Verdickung der Knorpel-
platte gebildet wird und daß die Außenfläche der Tube von einem
Muskel bedeckt wird, der den Rachen erweitert.
Am Ende des Ganges (der Nische) des ovalen Fensters be-
schreibt er einen blättrigen Rand (feuillure), an dem sich die Basis des
Steigbügels ansetzt. Die Membran des runden Fensters sei in eine
ähnliche Furche eingefalzt12) wie das Trommelfell. An der lateralen
Gelenkfläche des Hammers, die erst später durch Helmholt z physio-
logisch gewürdigt wurde, beobachtete er zwei Erhabenheiten und eine
Höhlung zur Artikulation für den Amboß. Viel genauer als bei den
früheren Autoren ist die Lagerung des kurzen Amboßfortsatzes13)
am Eingange des Antrum mastoideum und seine Befestigung mittels eines
Bandes dargestellt. Nach Duverney besitzen die Gehörknöchelchen kein
Periost, noch deren Gelenksflächen einen Knorpelüberzug14). Hammer
und Amboß werden durch mehrere von außen in ihr Inneres eintretende
Gefäße versorgt. Von den inneren Ohrmuskeln sind Form und Lage
des Hammer- und Steigbügelmuskels richtig wiedergegeben. Hingegen
beschreibt er gleich mehreren seiner Vorgänger als Antagonisten des
Trommelfellspanners einen „äußeren Hammermuskel ", der nach unseren
heutigen Kenntnissen mit dem vorderen Hammerbande identisch ist. Die
Chorda wird als Ast der Portio dura (facialis) des fünften Nervenpaares
bezeichnet. Die Lageverhältnisse der einzelnen Teile in der Trommel-
höhle sind richtig wiedergegeben.
Ein großes Verdienst erwarb sich Duverney durch die sorgfältige
Beschreibung des knöchernen Labyrinths und man darf ihm mit
vollem Rechte nachsagen, daß er hier alles leistete, was mit den da-
maligen Präpariermethoden überhaupt zu erzielen war. Auch die dem
Werke beigefügten Abbildungen des Labyrinths sind bis auf einige Details
ziemlich gelungen. Der Vorhof ir') und seine Verbindungen mit den drei
halbzirkelförmigen Kanülen li;), die in einen oberen (Je supeneur"),
mittleren („le mitoyen") und unteren ( ..l'inferieur) geschieden werden,
200 Duverney.
die Schnecke17) mit ihren zweieinhalb Windungen, der Spindel18) und
der knöchernen und membranösen Spirallamelle10) sind in einer so aus-
gezeichneten Weise dargestellt, daß -die spätere Zeit kaum etwas hinzu-
fügen konnte. Von Einzelheiten verdient folgendes mitgeteilt zu werden.
Die fünf Mündungen der Bogengänge im Vestibulum werden zum ersten
Male in einwandfreier Weise bildlich dargestellt. Duverney weiß, daß
die knöcherne Spirallamelle schon im Vestibulum beginnt und die mem-
branöse dünner ist und in einer tieferen Ebene verläuft, daß die untere
Treppe in die Trommelhöhle, die obere ins Vestibulum führt. Irrtüm-
lich hingegen ist seine Behauptung, daß die von Mery nachgewiesene
Kommunikation der beiden Schneckentreppen an der Spitze der Schnecke
nicht besteht. Spindel und Schneckenspirale werden gesondert
abgebildet, an der ersteren sind die Durchtrittstellen der Nervenbündel
von der Spindel in die Spirallamelle durch kleine zahlreiche Löchel-
chen markiert (Taf. 10 Fig. 5). Besonders hervorzuheben ist, daß auch
die makroskopisch nachweisbaren Gefäß- und Nerven Verzwei-
gungen20) im Labyrinthe, ebenso der Verlauf der Schneckenarterie und
der Vorhofsgefäße, meist richtig wiedergegeben sind. Doch scheint es
kaum glaublich, daß Duverney die Gefäße an der Auskleidung der
Bogengänge in so subtiler Weise präpariert hat, wie es die Abbildungen
zeigen (Taf. 10 Fig. 8). Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß er die aus
dem knöchernen Labyrinthe mit ihren Gefäßen im Zusammenhange heraus-
gezogenen membranösen Bogengänge für die gefäßhaltige Auskleidung
des Labyrinthes ansah. Vom Hörnerv21) kannte er nicht bloß den
Ursprung im Gehirne, den Verlauf im inneren Gehörgange, die Teilung
in Vorhof- und Schneckennerv, sondern er verfolgte auch diesen bis
zur Lamina spiralis und jenen zu seinen Zweigen für die Ampullen der
Bogengänge22). Die Schnecke, sowie Vorhof und Bogengänge glaubte er
von einer Membran ausgekleidet, die mit den Nervenendigungen in Kon-
takt steht. Von den membranösen Gebilden des Vorhofs (Utriculus,
Sacculus) und der Bogengänge, die erst von Scarpa und Breschet
beschrieben wurden, hatte Duverney nicht die geringste Kenntnis.
Der innere Gehörgang, in den der Hörnerv eintritt, verläuft im
Felsenbeine von vorn nach hinten und bildet einen Blindsack, dessen
Ende zum Teile an die Schneckenbasis, zum Teile an die innere Vesti-
bularwand grenzt. Eine Querleiste am Grunde des Ganges trennt die
Schneckenbasis von der Oeffnung, in welche die „portion dure" (facialis)
eintritt. Wir haben hier eine Schilderung, der wir heute nichts hinzu-
zufügen vermögen.
Ein Anhang zum anatomischen Traktat enthält die Aufzählung
der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des fötalen Ohres von dem
des Erwachsenen. Irrtümlich läßt er den späteren knöchernen Gehör-
Duverney. 201
gang aus einem membranösen Kanal hervorgehen. Von diesem getrennt
sei der Trommelfellring. Die Tuba Eustachis sei beinahe ganz mem-
branös; ihren knorpeligen Anteil hat Duverney beim fötalen Ohre
übersehen. Der obere Bogengang und ein Teil des unteren ragen so
weit an der Oberfläche der Pyramide hervor, daß sie ohne jede Prä-
paration wahrgenommen werden könnten. Das Trommelfell sei von einer
schleimigen Masse bedeckt, welche sich in eine Membran eindichte, die
mit der Zeit verschwinde24). Auf der oberen Fläche der Pyramide sei
ferner im Verlaufe des Canalis facialis ein Loch (Hiatus canalis facialis ?),
das am fötalen Knochen sehr weit, aber auch beim Erwachsenen sicht-
bar sei. Die Schuppe könne von der Pyramide leicht getrennt werden;
der Warzenfortsatz endlich erscheine ganz klein.
Rattel hebt in seiner Biographie hervor, daß Duverney25)
nahe der Entdeckung des Labyrinthwassers gewesen, da er oft das Vesti-
bulum, Bogengänge und Schnecke mit zäher Flüssigkeit erfüllt gefunden
habe und verschiedener Flüssigkeiten und Feuchtigkeiten gedenkt, die
in den inneren Höhlen vorhanden waren und Ursache der Taubheit ge-
wesen wären. Wir können uns der Meinung Ratteis nicht anschließen,
da Duverney diese Labyrinthflüssigkeit für pathologisch ansah und
müssen, da auch seine Beschreibung nicht unzweideutig ist, Cotugno
allein den Ruhm zuerkennen, umsomehr, als Duvernev noch an dem
„aer ingenitus" (l'air implante) festhält.
Diese kurze Skizze des ersten Abschnittes von Duverney s Werk'
dürfte genügen, den hohen Wert seines anatomischen Teiles zu charakteri-
sieren. Die otologischen Arbeiten des folgenden Jahrhunderts liefern den
Beweis, welch wichtige und einflußreiche Stelle diesem Buche in dem
Entwicklungsgänge der Otologie zukommt.
b) Die Hörphysiologie Duverneys.
Auch die gehörphysiologischen Anschauungen Duverneys sind,
ebenso wie seine anatomischen Leistungen, von einer überraschenden Klar-
heit der Auffassung und der Darstellung. Wir werden sehen, daß die
von Helmholtz entwickelte Hörtheorie sich in großen Zügen bereits
bei Duverney angedeutet findet. Hierzu wurde er durch seine Ver-
bindung mit dem berühmten Physiker Mariotte befähigt, da er zur
Einsicht kam, daß die Beherrschung der Anatomie allein zur Entwicklung
einer Hörtheorie nicht ausreiche20).
In den ersten Kapiteln des zweiten Teiles seines Traktats handelt
er über den Nutzen der Ohrmuschel, des Gehör ganges und der
äußeren Ohrmuskel. Der Gehörgang sei schief, nicht bloß um das
Trommelfell vor den schädlichen Einflüssen der atmosphärischen Luft zu
Duverney.
schützen, sondern weil hierdurch auch eine größere Oberfläche erzielt
würde und mehr Reflexionen der Schallstrahlen erfolgen könnten. Er
glaubt, daß die äußeren Ohrmuskeln im stände seien, je nach der Heftig-
keit des einwirkenden Schalles die Concha auriculae zu verengern oder
zu erweitern.
Von größerem Interesse ist, was er über die Funktion des Trommel-
fells, der Gehörknöchelchen und des Labyrinths sagt. Vorerst be-
merkt er, daß das Trommelfell zum Hören nicht absolut notwendig
sei, doch werde, wie Tierversuche beweisen, das Hören bei seiner Zer-
störung oder Durchbohrung allmählich schwächer, und verliere sich endlich
ganz. Der Grund liege darin, daß das Trommelfell die anderen Teile
des Organes vor äußeren Schädlichkeiten schütze.
Duverneys Ansichten über die Art der Gehörswahrnehmung be-
ruhen auf dem physikalischen Gesetze des Mittön ens.
Von diesem Grundprinzip leitet er alles ab und verweist auf folgendes treffendes
Beispiel : On sait que quand on met deux luths sur une table et que l'on pince une
corde de Tun de ces luths, si Ton veut qu'une corde de l'autre luth se mette en
mouvement, il faut, de necessite, qu'elle seit montee ä l'unisson avec celle que Ton
pince , ou ä l'octave , ou ä quelques autres accords , cornme la double octave, ou la
quinte , ou Ja quarte, autrement eile fait bien ä la verite quelques trernblements,
mais il sont tres faibles et jamais ils ne sont sensibles (1. c. II Part, p. 65).
Das Trommelfell kann durch Wirkung der Hammermuskeln in ver-
schiedene Spannungszustände gebracht werden, welche den eben ein-
wirkenden Tönen entsprechen. Wäre dies nicht der Fall, so wäre es
nicht geeignet (nach Analogie des obigen Beispiels) die verschiedenen
Schwingungsarten der Luft auch entsprechend zu übertragen, d. h. die
Spannung der Membran des Trommelfells muß sich sozusagen den Schallen
resp. Tönen akkommodieren, ebenso wie eine Saite des einen Instruments
in dem Ton der Saite eines anderen am besten mitklingt, wenn sie die-
selbe Spannung hat. Man dürfe also schließen, daß die Membrana tym-
pani sich in ihren verschiedenen Spann ungszuständen gewissermaßen nach
den verschiedenen Zuständen der schallenden Körper richte, daß sie z. B.
für hohe Töne mehr gespannt, für tiefe dagegen mehr erschlafft werde,
weil sie in diesem Zustand für die entsprechenden Schwingungen geeig-
neter sei. Duverney spricht also von einer Akkommodation des Trommel-
fells, womit schon gesagt ist, daß er nicht an eine willkürlich regelbare
Aktion des Hammermuskels glaubt. Diese leugnet er entschieden und
meint vielmehr, daß der Muskelapparat, wie wir jetzt sagen würden, reflek-
torisch wie die Irismuskulatur in Aktion gesetzt werde. Diese Theorie,
so scharfsinnig sie auch erscheinen mag, gilt heute als überwunden,
da wir wissen, daß das Trommelfell Schwingungen der verschiedensten
Tonhöhe nicht nur nacheinander, sondern gleichzeitig aufnimmt und
Duverney. 203
ohne Aktion der Binnenmuskel des Ohres auf die Gehörknöchelchen
überträgt.
Die Fortpflanzung der Trommelfellschwiugungen zum Labyrinthe
geschehe vorzugsweise durch Hammer, Amboß und Steigbügel, in ge-
ringerem Maße durch die Luft der Trommelhöhle zum runden Fenster und
zur Spiralmembran der Schnecke. Diese Theorie gilt auch jetzt als die
allein richtige gegenüber der von Pascal und einigen modernen Oto-
logen, die nur die Schallfortpflanzung durch die Luft der Trommelhöhle
gelten lassen wollen. Dem Steigbügelmuskel Avird von Duverney
irrtümlich eine ähnliche Wirkung wie dem Tensor tympani zugeschrieben,
da nach ihm die Membran der Fenestra ovalis (vestibuli) in ebensolche
Spannungszustände wie das Trommelfell gebracht werde. Heute wissen
wir, daß der M. stapedius ein Antagonist des Tensor tympani ist. Der
Verbindungskanal zwischen Trommelhöhle und Warzenfortsatz diene dazu,
der Luft einen Weg zum Ausweichen zu bieten, wenn sie durch Span-
nung des Trommelfells komprimiert würde,, während die Tuba Eustachii
neue Luft der Trommelhöhle zuführe, damit sie ihre Elastizität nicht ein-
büße. Von den Gehörknöchelchen aus wird der Schall vermittels des
ovalen Fensters zum Vorhof und der darin eingeschlossenen („ein-
geborenen") Luft und endlich zur Schnecke, sowie zu den halbzirkel-
förmigen Kanälen geleitet.
Die Annahme, daß manche Taube, deren Trommelfell nicht funktio-
niert, ein Saiteninstrument durch die Ohrtrompete zu hören vermögen,
erklärt er für unrichtig, und führt vielmehr diese Tatsache auf die Kopf-
knochenleitung zurück. Jene Menschen hören nach Duverney den
Ton nicht, oder nur sehr schwach, wenn sie das Instrument vor dem ge-
öffneten Munde halten, hingegen sehr stark, wenn sie es mit den Zähnen
fassen. Die Schwingungen würden eben durch die Zähne auf die Mandi-
bula, von dieser auf das Schläfebein, die Gehörknöchelchen und auf das
Labyrinth übertragen. Ein Normalhörender vernehme in diesem Falle
den Ton besser, wenn er sich das Ohr zuhalte. Auch gebe es gewisse
Schwerhörige, die besser hören, wenn man über ihrem Kopfe spreche,
woraus deutlich hervorgehe, daß der ganze Schädel, das Schläfebein und
alles andere nach und nach in Schwingungen versetzt werde.
Der wertvollste Teil der Duverney-Mariotteschen Hörtheorie
liegt in der Bedeutung, die dem Labyrinth für die distinkte Schallwahr-
nehmuno- resj). Tonperzeption zugewiesen wird. Auch heute noch dürfte
dieser Abschnitt von jedem mit Genuß und Interesse gelesen werden;
denn selten wohl wurde eine schwerwiegende Hypothese mit solcher
Klarheit und Einfachheit vorgetragen. Zudem beruhen alle Folgerungen
fast auf denselben Grundsätzen wie die Helmholtzsche Theorie.
Als unmittelbares Perzeptionsorgan gelten ihm die Schnecke und die
■_>n | Duverney.
Bogengänge, resp. in der Schnecke die Lamina spiralis. Diese faßt er
gleichsam als ein musikalisches Instrument auf, das dazu diene, die
Töne abzumessen und ihre Unterschiede bemerkbar zu machen. Sie sei
nicht bloß geeignet, die Schwingungen der Luft aufzunehmen, sondern
ihre Struktur lasse schließen, daß sie auch mit den verschiedenen
Schwingungsarten korrespondieren könne. Denn im Beginne der ersten
Windung verhältnismäßig breit, verschmälern sie sich gegen das Ende
zu immer mehr und mehr, und man könne annehmen, daß die breitesten
Teile, welche, gesondert von den anderen, allein erschüttert werden, lang-
samer schwingen und somit den tiefen Tönen entsprechen, während die
schmäleren Partien, wenn sie erschüttert werden, schneller schwingen
und somit den hohen Tönen entsprechen, d. h. diese leiten und perzi-
pieren28). Man sieht also auch hier wieder das Grundgesetz vom Mit-
tönen angewendet. Bekanntlich hat auch Helmholtz die Struktur der
Basalmembran in ganz ähnlicher Weise für seine Hörtheorie benützt.
Der große Unterschied besteht nur, abgesehen von der histologischen
Begründung, darin, daß gegenwärtig die Perzeption der hohen Töne in
die Basalwindung, die der tiefen Töne in die oberen Windungen verlegt
wird und daß Duverney nicht die Lamina spiralis resp. die Schnecke
allein zum unmittelbaren Gehörorgan macht, sondern die Bogengänge als
gleichberechtigt partizipieren läßt.
Die Gründe für die letztere Annahme sind folgende. Erstens hätten
Vögel und Fische keine Schnecke, sondern bloß drei Bogengänge und
einen geraden Gang, der an einem Ende geschlossen sei, am anderen mit
dem Vestibulum kommuniziere (wobei Duverney nicht beachtete, daß
eben dieser Gang [lagena] der Schnecke entspricht) ; zweitens gingen zwei
Zweige des Acusticus zu den halbzirkelförmigen Kanälen und drittens
sei auch ihr Bau ein solcher, daß man annehmen könne, es werde der
Schall durch sie entsprechend aufgenommen und differenziert.
Auch von den Bogengängen gelte dasselbe wie von der Lamina
spiralis bezüglich der Perzeptionsfähigkeit 29). Die von Stelle zu Stelle
verschieden weiten Bogengänge, da ja die Mündungen weit seien (Am-
pullen), die Mitte aber eng, bedinge, daß die breiten Partien der Bogen-
gänge durch die tiefen, die schmäleren durch die hohen Töne in Schwingung
gebracht würden30). Durch die Nervenendigungen werde die Perzeption
in der Schnecke und in den Kanälen dem Gehirn zugeleitet.
Wenn wir erwägen, daß Duverney noch ganz der mikroskopischen
Erforschung des Gehörorgans ermangelte, ja noch in vielen Vorurteilen
seiner Zeit, wie es das Festhalten am aer ingenitus beweist, befangen
war, so müssen wir zu dem Schlüsse kommen, daß seine Hörtheorie, ab-
gesehen von seiner irrtümlichen Auffassung über die Funktion des Bogen-
gangsapparates, sicherlich die genialste war, die zu seiner Zeit aufgestellt
Duverney. 205
werden konnte. Vom historischen Standpunkte bleibt es immerhin be-
achtenswert, daß Duverney gleich Helmholtz der Spiralmembran
der Schnecke die Hauptrolle in der Differenzierung tiefer und hoher
Töne zuschrieb.
Die Leistungen Duverneys, dem unter den Anatomen des 17. Jahr-
hunderts unstreitig der erste Rang zukommt, bewirkten einen neuen Auf-
schwung der Otologie in allen Ländern, der sich nicht nur in der ana-
tomisch-physiologischen Richtung, sondern auch in der Pathologie des
Gehörorgans bemerkbar machte.
c) Die Pathologie des Gehörorgans.
Im dritten Abschnitte seiner Abhandlung versucht Duverney die
Pathologie des Gehörorgans auf anatomischer Grundlage zu entwickeln.
Dieser Versuch ist insofern mißlungen, als Duverney nur über geringe
Kenntnisse der pathologischen Anatomie des Ohres verfügte und in der
Therapie noch zu sehr von den zu seiner Zeit herrschenden medizinischen
Doktrinen beeinflußt war. Immerhin finden wir in diesem Abschnitte
manche wertvolle Anregungen für eine anatomische Systematik der Ohr-
erkrankungen.
In der Einleitung teilt er die Krankheiten des Ohres in die der
Ohrmuschel, des äußeren Gehörganges, des Trommelfells, der Trommel-
höhle, des Labyrinths und des Hörnerven ein; daran schließt sich die
Besprechung der subjektiven Geräusche, die ein gemeinschaftliches
Symptom aller Ohraffektionen bilden.
Als erstes Symptom wird der Ohrenschmerz ausführlich bespro-
chen. Er begleitet alle Formen der Entzündung der Ohrmuschel und
des äußeren Gehörgangs, sowie die Verletzungen des Ohres. Als weitere
Ursachen des Schmerzes erscheinen: abnorme Ceruminalabsonderung, die
Ausscheidung seröser, scharfer und salziger Sekrete aus den Drüsen
des Gehörgangs, welche zur Geschwürsbildung führen. Der heftige
Schmerz wird durch den Nervenreichtum der Cutis und deren innigen
Zusammenhang mit dem Periost des Gehörgangs erklärt. Fieber, Schlaf-
losigkeit und Delirien komplizieren öfter diese Entzündungsform.
Die Behandlung des Ohrenschmerz. ss richtet sich nach der ihn be-
dingenden Ursache. Wind und Kälte sind zu meiden. Als lokale Mittel
werden empfohlen : das Auflegen von gewärmten, in Alkohol getauchten
Brots auf das Ohr, Injektionen von Dekokten von Melisse, Hyssop,
Kalomel, Origanum etc., gemischt mit Oel von bitteren Mandeln, Kamo-
mille, Anis etc. Auch Injektionen von Milch (am besten Frauenmilch),
gemischt mit Hühnereiweiß, und der Zusatz narkotischer Substanzen zu
Umschlägen erweisen sich als sehr nützlich. Ist der Schmerz durch eine
Duverney.
hitzige Ursache („d'une cause chaude") entstanden, so ist Aderlaß ab-
solut nötig.
Seine Besprechung der Geschwüre („ulceres") im Gehörgange zeugt
von geringer Erfahrung, hingegen spricht er sich bei den Würmern im
Ohre gegen die von Forest, Schenck und anderen vertretene Ansicht,
diese entstünden durch Zersetzung der Säfte im Ohre, dahin aus, daß
die Würmer aus den Eiern von Insekten sich entwickeln"'1).
Die Geschwüre im Ohre entstehen nach Duverney durch den Aus-
fluß von scharf und salzig gewordener Lymphe aus den Drüsen , wo-
durch die Wiedervereinigung der Teile gehindert wird. Den Ohrenfluß
führt Duverney nicht wie viele seiner Vorgänger auf einen eitrigen
Ausfluß aus dem Gehirn zurück , sondern auf lokale Affektionen , z. B.
Erschlaffung der Schmalzdrüsen, dünnes Blut etc. Der Ansicht, daß die
Ohrenflüsse Gehirnprozessen entstammen, widerspreche die Tatsache, daß
das Foramen audit. intern, durch den Gehörnerven verstopft ist, daß die
ausfließende Masse erst durch das Labyrinth, die Schnecke, die Fenestrae
und das Trommelfell ihren Weg nehmen müßte und eher durch die Tuba
Eustachii als durch die Membrana tympani abfließen würde.
Zum Beweise teilt er eine Krankengeschichte mit Sektionsbericht
mit, wo sich trotz beträchtlichem eitrigen Ohrenflusse nichts Abnormales
im Gehirne und an der Schädelbasis vorfand. Ferner sagt Duverney
von einigen bei Kindern beobachteten Fällen: „J'ay ouvert l'oreille de
plusieurs enfants dont la quaisse estoit pleine de boue, cependant je n'y
ay jamais trouve n'y dans le cerveau, n'y dans l'os pierreux aucune mau-
vaise disposition."
Die Therapie der Geschwüre im Gehörgang ist die gleiche
wie bei allen Entzündungen der inneren Teile des Ohres. Auch hier
empfiehlt Duverney Einträufelungen von Säften und Dekokten ver-
schiedener Pflanzen und Oele, Einspritzungen von Dekokten der Aristo-
lochia, von Galläpfeln, Wein von Granada (De Vigo) u. a. Gegen Wür-
mer bewähren sich Einträufelungen von Oel oder Weingeist am besten.
Zu den Verstopfungen des Ohres rechnet Duverney 1. Fremd-
körper, 2. Ceruminalpfröpfe, 3. neugebildete Membranen im Gehörgange
(Schilderung eines Sektionsbefundes), 4. fungöse Exkreszenzen im äußeren
Gehörgange, 5. Anschwellung der Drüsen des Gehörganges. Die Be-
handlung der Gehörgangsobstruktion lehnt sich an die der Vorgänger
(Fabricius Hildanus) an.
Die Krankheiten des Trommelfells werden eingeteilt in Er-
schlaffung, vermehrte Spannung und Verdickung, über deren Ursachen
er nur unhaltbare Hypothesen aufstellt. Interessant hingegen ist, was
Duverney über die Ruptur des Trommelfells sagt. Er erwähnt nämlich
einen Fall, bei dem durch heftiges Schneuzen eine Ruptur des
Duverney. 207
Trommelfells entstand und beruft sich auf eine analoge, von Tulpius
mitgeteilte Beobachtung (Obs. 15). Duverney glaubt aber irrtümlich,
daß die Ruptur durch Ablösung des Trommelfellrandes am oberen Pole
der Membran hervorgebracht wurde.
Die Erkrankungen der Trommelhöhle und des Labyrinths
können nach Duverney nur als Karies des Knochens und als Entzün-
dungen der Membranen aufgefaßt werden32). Die durch Abszeß bedingte
Entzündung des Gehörgangs (irrtümlich anstatt der Trommelhöhle) führt
zur Fistelbildung hinter dem Ohre und ist von überreichem Ausfluß
begleitet. Duverney fand bei Eiterungen im Ohre die Trommelhöhle,
das Vestibulum und die Bogengänge von Eiter erfüllt. Er zweifelt
nicht, daß der Eiter sowie andere Sekrete in der Trommelhöhle Schwer-
hörigkeit bewirken, umsomehr, als die Ausscheidungen nicht leicht aus
der Trommelhöhle abfließen können, weil die Tubenmündung höher liegt
als der Boden der Trommelhöhle. Aus der Darstellung Duverneys
ergibt sich , daß ihm die klinische Differenzierung der eitrigen Entzün-
dungen des äußeren Gehörgangs , des Mittelohrs und des Labyrinthes
nicht möglich war.
Die Behandlung der Schläfebeinkaries ist eine medikamentöse (Ein-
lagen von Scharpiewieken mit Kampfer, Euphorbiumpulver, Myrrha, Wein-
geist etc.). Gegen Entzündungen der Trommelhöhle und des Labyrinths
sind nach Duverney topische Mittel nutzlos und bloß die interne Medi-
kation anzuwenden.
Die Krankheiten des Hörnerven sind Verstopfung (Obstruktion) und
Kompression. Ursachen dieser Erkrankungen sind Apoplexie, seröse An-
sammlungen im Gehirne und Hirntumoren.
Sehr weitläufig behandelt Duverney am Schlüsse die subjek-
tiven Geräusche im Ohre. Er nennt sie ein Verderbnis (Depravation).
Duverney schildert das Ohrentönen nicht wie seine Vorgänger als
Krankheit, sondern als Symptom und führt es auf eine ähnliche Ueiz-
wirkung zurück, Avie die Entstehung des subjektiven Funkensehens. Das
Ohrentönen begleitet die Erkrankungen des Gehörgangs, der Trommelhöhle
und des Labyrinths. Die Entzündungen verursachen eine Erschütterung
(„ebranlement") der Spiralmembran und der Bogengänge, teils durch
Spannung („tension"), teils durch Dämpfe, die sie ausscheiden und die
sich mit der Luft der Trommelhöhle mengen. Auch Erschütterungen des
Schädels können Ohrgeräusche bedingen. Als Beispiel objektiver Ohr-
geräusche erzählt er von einer Dame, die bei der geringsten An-
strengung ein so heftiges, pulsierendes Geräusch im Ohre empfand, daß
sie die Empfindung hatte, als sei ihr eine Uhr am Kopfe angeheftet. Das
Geräusch konnte von jeder in ihrer Nähe befindlichen Person gehört werden.
Duverney führt es auf die Erweiterung einer Arterie im Kopfe zurück.
Duverney.
Daß subjektive Geräusche nicht ausschließlich durch Erkrankungen
des Gehörorgans hervorgerufen werden , beweisen die Hirnaffektionen,
Delirien, Schwindel, Epilepsie, Ohnmacht, bei denen gleichzeitig oder als
Vorläufer Ohrgeräusche auftreten. Es ist nach Duverney gleichgültig
für das Zustandekommen subjektiver Geräusche, ob der Hörnerv im Ohre
oder im Gehirne gereizt („ebranlee") werde. Seine Erklärung der ana-
tomischen Ursachen tiefer und hoher subjektiver Geräusche ist durchwegs
hypothetisch.
Die Behandlung der subjektiven Geräusche fällt mit der sie be-
dingenden Erkrankung zusammen.
*) Vergl. Postal, Histoire de l'anatomie et de la Chirurgie. 1770. T. III.
p. 464.
2) Fontenelle sagt in dem Nachrufe auf Duverney : Eloges des academiciens
de l'Academie royale des sciences, morts depuis 1722, Paris 1793, tome II: Cette
eloquence n'etait pas seulement de la clarte, de la justesse, de l'ordre, toutes les
perfections froides que demandent les sujets dogmatiques, c'etait un feu dans les
expressions, dans les tours et presque dans la prononciation, qui aurait presque suffit
ä un orateur. II n'eüt pas pu annoncer indifferemment la decouverte d'un vaisseau,
ou un nouvel usage d'une partie, ses yeux en brillaient de joie, et toute sa personne
s'anhnait. Cette chaleur ou se coinmunique aux auditeurs ou du moins les preserve
d'une langueur involontaire , qui aurait pu les gagner. On peut ajouter qu'il etait
jeune et d'une figure assez agreable. Ces circonstances n'auront Heu, si Ton veut,
qu'a l'egard d'un certain nomhre de dames, qui furent elles meines curieuses de
l'entendre.
3) Rattel, 1. c. T. 9. Les demonstrations d'anatomie reussirent si bien aupres
du jeune prince, qu'il offrit quelquefois de ne point aller ä la chasse, si on les
lui pouvait continuer apres son diner.
4) Traite de l'organe de l'ouie, contenant la structure, les usages et les ma-
ladies de toutes les parties de l'oreille. Wir zitieren im folgenden nach der Aus-
gabe Leyden, Joh. Langerak, 1731.
5) 1. c. p. 1—5 ; Fig. 1 u. 2. Tab. I.
6) 1. c. p. 7.
7) 1. c. p. 6. Cette peau qui est une continuation de celle qui est endevant
de la conque. est parsemee d'une infinite de petites glandes d'une couleur jaunätre . . .
T;,l,. III. Fig. 2 u. 3.
s) Le cartilage, qui la forme est continu en luy meme, mais il est interrompu
et separe en plusieurs endroits comme par des coupures . . . 1. c. p. 5, Tab. III, Fig. 1.
9) 1. c. p. 9.
10) 1. c. p. 11.
") 1. c. p. 13.
12) 1. c. p. 16.
1 ;) La plus courte des deux branches est posee ä l'entree du conduit, qui va
dans Tapophyse mastoide et son extremite est cachee et attachee par un ligament
dans une petite cavite qui est ä l'entree de ce conduit.
14 1 1. c. p. 21. Ces osselets sont degarnis de ces membranes qu'on nomme
le perioste.
15) 1. c. p. 26.
,6) 1. c. p. 27—30, Tab. X, Fig. 1 u. 9.
Duverney. 209
17) 1. c. p. 30-34. Tab. X, Fig. 1—6.
18) 1. c. p. 32.
19j La lanie spirale separe en deux ce canal (Schnecke), estant attachee au
noyau par sa base et par son autre extremite ä la surface du canal opposee au
noyau, par le moyen d'une membrane fort deliee, beaucoup plus raince que la lame,
laquelle ne continue pas le meme plan que la lame, mais se rabat un peu en dessous.
1. c. p. 31.
20) 1. c. p. 33 u. 34.
21) 1. c. p. 35—40. Tab. XI, Fig. 1—3.
22) La portion molle se partage en trois branches ; la plus considerable
estant arrivee ä la base du noyau, semble se terminer et se perdre en cet endroit,
cependant il est vray qu'en entrant dans le noyau par tous les petits trous obliques
dont nous avons parles, eile se partage en plusieurs filets, qui se distribuent ä tous
les pas de la lame spirale. . . . Les deux autres branches de la portion molle sont
destinees pour le vestibule; la plus considerable de ces deux dernieres s'engage äl'entree
du tuyau de la portion dure et entre enfin obliquement dans un trou particulier
qui s'ouvre dans la voüte du vestibule. Cette brauche estant entree, forme comme une
houpe dont une partie s'avance dans la porte (Ampulle!) du canal demi circulaire
superieur, et dans celle de i'anterieur. qui est tout joignant, et les bouche en partie;
ensuite eile fournit un petit filet nerveux ä chacun de ces canaux qui se Joint ä
l'artere qui y est distribuee et l'accompagne par tout : l'autre partie de la houpe
s'allonge vers le fond du vestibule, et produit im petit filet qui entre dans la porte
commune. La deuxieme brauche se divise en deux filets, dont Tun entre dans la
porte du canal inferieur et l'autre remonte vers la porte commune. 1. c. p. 37.
23) Sappey, Traite d'anatomie, tome III.
24) 1. c. p. 45-50.
25) 1. c.
26) Comme la matiere est importante et qu'elle m'a paru tres delicate, je n'ay
pas voulu me fier tout ä fait ä mes propres lumieres. et j'advoue que je dois ä
M. Mariotte une bonne partie de ce qu'on trouvera icy de plus curieux; cependant
je n'ose esperer que ce que je vais proposer soit bien recu de tout le monde: mes
conjectures me paroissent assez vraisemblables. mais d'autres seront peut-estre d'un
autre goust. Quoy qu'il en soit, je croiray avoir bien reüssi, si je puis les obliger
par cet essay ä nous donner quelque chose de meilleur. De l'organe de l'ouie II, p. 56.
27) Cette lame n'est pas seulement capable de recevoir les tremblements de
l'air, mais sa structure doit faire penser qu'elle peut repondre ä tous leurs caracterea
differens. 1. c. p. 79.
2S) 1. c. p. 79 u. 80.
29) J'ai dit que la lame spirale ne recoit pas simplement les vibrations de l'air
et que toutes ses parties ne sont pas capables indifferemment de repondre aux uiemes
tons. J'en dis autant de ces canaux demi circulaires. ... De tout ce que je viens de
dire, on peut conclure que le limacon et les canaux demi-circulaires sont les organes
communs et immediata qui recoivent non seulement les tremblements de l'air en
general, mais encore qui recoivent la vraie idee. et les differens caracterea des tons,
selon les divers endroits de ces parties qui sont ebranlez. 1. c. p. 83 u. 85.
30) Chacun de ces canaux a la figure de deux trompettes qui seroient em-
bouchees l'une dans l'autre par leurs extremitäz les plua etroitea . . . or il est demonstre
par experience que les plus grands cercles des pavillons des trompettes peuvent estre
ebranl6z, saus que les plus petits le soient sensiblement . . . on peut avancer la meme
chose ä l'egard des canaux demi-circulaires. leurs parties les plus larges peuvent
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde I 14
210 Schelhammer.
etre ebranlees sans que les autres le soient: alors les vibrations de ces meines parties
seront lentes d'oü il s'ensuivra necessairement l'apparence d'un ton grave ; au contraire
«piand les parties les plus etroites de ces canaux seront ebianlees sans que les autres
le soient, il s'ensuivra l'apparence d'un ton aigu. 1. c. p. 83 ff.
31) Ou si la chaleur de ces ulceres fait seulement eclorre les petits oeufs que
mille insectes qui voltigent dans l'air y peuvent laisser. 1. c. p. 117.
3-') Pour ce qui est de la quaisse et du labyrinthe, comme ce sont des parties
osseuses revetues simplement d'une membrane, je ne comprens pas qu'elles puissent
avoir d'autres maladies que la Carie d'os et l'inflammation des membranes. 1. c. p. 150.
Günther Christoph Schelhammer
(1649—1712).
ein Zeitgenosse Duverneys, wurde am 13. März 1649 zu Jena geboren,
lehrte als Professor nacheinander zu Jena, Helmstädt, Kiel und gehörte
zu den eifrigsten Vertretern der Chemiatrie in Deutschland. Als sein
Todesjahr wird 1712 angegeben.
Sein Werk, betitelt: „De auditu über unus. Quo plerorumque om-
nium doctorum sententiae examinantur, et auditus ratio nova methodo,
ex ipsius naturae legibus, explicatur" (Lugd. Bat. 1684), erschien ein Jahr
nach dem Duvemey sehen Traktat 1).
Dem Werke sind fünf schematische Tafeln beigegeben mit ungenauen
anatomischen Abbildungen und Zeichnungen , welche auf seine Schall-
theorie Bezug nehmen. Es steht, sowohl was Anatomie und Physiologie
betrifft, weit hinter dem Traktate Du verneys zurück, weist aber neben
zahlreichen Irrtümern viel Wertvolles auf.
Wie der Titel sagt, enthält es auch einen historischen Ueberblick
und Rezensionen der Meinungen älterer Autoren. Schelhammer teilt
sein Werk in drei Abschnitte, einen anatomischen, einen physikalischen
(über den Schall) und einen physiologischen2).
Der schwächste Teil des Werkes ist der anatomische. Er ent-
hält wenig Neues, dagegen zahlreiche Fehler, sogar in Dingen, die von
anderen längst richtiger beschrieben wurden.
Schelhammer stellt die Existenz äußerer Ohrmuskeln und damit
die Bewegungsfähigkeit der Ohrmuschel gänzlich in Abrede3). Die Pars
tympanica wird eingehend beschrieben und ihre Beteiligung an der
Bildung des knöcheren Gehörganges hervorgehoben, ohne daß darauf hin-
gewiesen wird, daß sie aus dem Annulus tympanicus hervorgeht4). Ful-
das Trommelfell schlägt er statt der Bezeichnung „Tympanum" das passen-
dere „Hymen" oder „Meninx" vor, da die Membran im Ruhezustande
schlaff und eingezogen, mit der gespannten Haut einer Kriegstrommel
wenig Aehnlichkeit hat5). Die Chorda fcympani konnte er — an-
geblich wegen schlechten Leichenmaterials — nicht auffinden °). Der Ham-
mer erscheine stets in einer anderen Gestalt und bleibe sich nur darin
Schelhammer. 211
gleich, daß er einen Kopf und einige Fortsätze besitze7). Ganz ver-
worren sind seine Angaben über die Binnenmuskeln des Ohres. Den
„äußeren" Muskel erklärt er für ein kräftiges, wenn auch schlaffes
Ligament8) (L ig. mall ei anterius) ; ein Muskel verbinde sich „cum mallei
spinoso processu et longissimo" 9). In der Sehne des inneren Hammer-
muskels fand er beim Schwein bisweilen ein Sesamknöchelchen 10). Im
Gegensatze zum Hammer variiert die Form des Amboßes nicht11). Das
Linsenknöchelchen nennt er schuppenförmig (squamosum), zuweilen
kugelig (globosum) 12). Den Stapesmuskel hält er für ein Ligament
und sagt, daß für ihn das gelte, was er von der Chorda mit-
geteilt habe.
Was die Schnecke anbelangt, so kannte er ihre Scheidung in
zwei Treppen , leugnete jedoch ihre Kommunikation an der Schnecken-
kuppel13). Die Bogengänge sah er mit vier bis sechs Ostien im Vesti-
bulum münden14). Der Gesichtsnerv liege in einer Rinne des
Hörnervs, doch bestehe zwischen beiden keinerlei Verbindung 1V). Ferner
kennt er die Teilung in Schnecken- und Vorhofsnerv und glaubt, daß
die membranöse Auskleidung der Labvrinthräume aus Fasern des Hör-
nervs bestehe 16).
Der zweite Teil handelt über den Schall und bringt in über-
sichtlicher Weise eine Reihe von akustischen Gesetzen. Aehnlich wie
Duverney verließ sich auch Schelhammer nicht auf eigene Speku-
lationen wie die meisten Vorgänger, sondern stützte sich auf Kirchers
„Phonurgia", korrespondierte, wie er berichtet, mit Leibniz17) und
stellte mit seinem Kollegen, dem Mathematiker Paul Heigel, inter-
essante Versuche über die Schnelligkeit der Fortpflanzimg des Schalles
an18), die er ausführlich und anschaulich schildert.
Bevor Schelhammer die zu seiner Zeit bekannten akustischen
Gesetze bespricht, wendet er sich gegen die Theorie von der „ein-
gepflanzten Luft", deren Bedeutung für den Hörakt er mit triftigen
Gründen bekämpft.
Wohl selten hat sich eine Theorie wie die vom „aer ingenitus", die nur auf
rein hypothetischer Voraussetzung konstruiert wurde . durch viele Jahrhunderte er-
halten. Ihre wechselnden Phasen in Bezug auf Lokalität und Funktion dieses »aer*
konnten wir von den Anfängen dieser Theorie bei den Griechen bis jetzt verfolgen.
Während ursprünglich die Luft im Hinterkopfe eingepflanzt gedacht wurde (Aristo-
teles), ist sie im Mittelalter in eine der Höhlen des inneren Ohres (concavitates ossis
petrosi), von Carpi und auch noch von späteren Anatomen in die Trommelhöhle
und erst nach der Begründung der Ohranatomie in Italien von den meisten Ana-
tomen in das Labyrinth verlegt worden.
Ebenso verschieden gestalteten sich die Ansichten über die physiologische
Funktion der „eingeborenen Luft". Während sie von den Griechen als das eigent-
liche Sinnesorgan angesehen wurde, hat sich in der Folgezeit ein immer stärker
hervortretender Gegensatz gegen diese Anschauung entwickelt, indem man wohl das
212 Schelhammer.
Vorhandensein der eingeborenen Luft im Labyrinthe unbestritten fortbestehen ließ,
die Hauptrolle der Hörperzeption jedoch dem Hörnerv zuteilte.
Mit der Entwicklung der Ohranatomie wurde die Theorie von der „einge-
pflanzten Luft" immer komplizierter. Vesal, Falloppio, Colombo und die
meisten Schüler Vesals verhielten sich in diesem Punkte so zurückhaltend, daß man
über ihre Ansichten im Unklaren bleibt. Piccoluomini vertrat die Hypothese,
daß wie im Auge die Kristallinse, die man als Sehorgan damals betrachtete, so im
Ohre, dem Organe der Luft, eine Art mit Luft gefüllter Blase vorhanden und am
Steigbügel befestigt sei. in deren Hülle die Verzweigungen des Acusticus endigen.
Durch Erschütterung dieser Blase vermittels der Gehörknöchelchen würde der Schall
dem Hörnerv zugeleitet.
Die Ansicht Galens, der den Hörnerv als eigentliches Sinnesorgan ansah,
fiel der Vergessenheit anheim und kam erst wieder zur Geltung, als man seinen
Verlauf im Labyrinthe näher kennen lernte. Casserius war der erste, der ihn
als „instrumentum auditus" erklärte, den „aer ingenitus" aber wie alle späteren
Forscher bis Cotugno bestehen ließ. Sehen wir doch mit einiger Verwunderung,
daß auch der gründliche und vorgeschrittene Duverney die nur durch Autoritäts
glauben geschützte Hypothese ohne Widerspruch akzeptierte, obwohl schon Senner t,
Du Laurent und Bau hin die Existenz des „aer ingenitus" bezweifelt hatten.
Entschieden und unzweideutig jedoch tritt erst Schelhammer gegen die
physiologische Bedeutung des „aer ingenitus" auf. Nach ihm könne dieser nicht
das eigentliche „instrumentum auditus" sein, weil der Schall die Luft durchlaufe
und das Medium niemals das Sinnesorgan selbst bilde, wie ja auch im
Auge nicht die Linse oder der Glaskörper das Aufnahmsorgan sei. ferner weil diese
Luft keinen Teil des organischen Körpers darstelle, was schon Du Laurent bewiesen
hatte (s. S. 132). Die innere Luft ist nur das Medium, nicht Aufnahmsorgan. Das
Aristotelische Dogma müsse daher fallen gelassen werden. Während aber Schel-
hammer den „aer ingenitus" verwirft, erklärt er wohl den Hörnerv als wesentlich
notwendig zum Hören, verquickt aber mit dieser Ansicht die zu jener Zeit herr-
schende Theorie von den „Spiritus animales", ohne die eine Schallperzeption ausge-
schlossen sei 19).
Der dritte Abschnitt des Scheib amme r sehen Werkes behandelt
seine Hörphysiologie. Das Trommelfell hat nach ihm bloß den Zweck,
die Schädlichkeiten von außen abzuhalten, übt dagegen auf die Schall-
fortpflanzung keinen Einfluß. Um durch die Luft in Schwingungen versetzt
zu werden, sei es zu wenig gespannt. Bloß heftige Schalleinwirkungen
könnten vielleicht geringe Schwingungen der Membran hervorrufen.
Uebrigens seien diese für das Hören gar nicht nötig, wie Fälle von
Trommelfellruptur ohne jede Schädigung des Gehörs beweisen. Die
Versuche Willis an Hunden, wobei er nach Perforation des Trommelfells
erst nach drei Monaten einen Gehörsverlust erzielen konnte, seien nicht
beweisend, weil bei diesen Experimenten leicht ein anderer Teil des
Gehörorganes mitverletzt worden sein dürfte. Wäre die Trommelfell-
verletzung allein die Ursache der Taubheit gewesen, so hätte das Tier
sofort taub werden müssen. Ebensowenig wie das Trommelfell kämen
auch die Gehörknöchelchen für die Schalleitung in Betracht; die
Luftschwingungen seien nicht so stark, daß sie den Hammer und mit
Schelhammer. 213
diesem die anderen Knöchelchen in Schwingung versetzen könnten ; auch
bilden diese keine ununterbrochene (quod non sint continua haec ossa),
sondern eine bloß lose aneinandergereihte (contigua) Kette. Aber auch
die Annahme des Casserio, daß die Gehörknöchelchen zur Fixation
und Stütze des Trommelfells dienten, sei unrichtig; die Trommelhöhlen-
luft erziele diesen Zweck viel besser. Ferner hätten die Gehörknöchel-
chen Bänder und Muskeln zur Veränderung ihrer Lage, seien also un-
geeignet, eine Stütze abzugeben. Endlich hätte der Hammer allein, der
ja durch ein festes Ligament an die Pyramide fixiert sei, zur Er-
füllung dieser Aufgabe genügen können. Schelhammer ist der
Ansicht, daß der Hammer mit den inneren Ohrmuskeln dazu dient, das
infolge Einströmens von Luft in die Tube nach außen gedrängte Trommel-
fell in seine ursprüngliche Lage zurückzubringen*). Das beim Schlucken,
Gähnen etc. im Ohr wahrnehmbare Geräusch, das Fabrizio zum ersten
Male beobachtet hat, erklärt er aus der Bewegung des Trommelfells nach
außen infolge der durch die Tube einströmenden Luft. Nur im Gehör-
organe selbst vermöge auch die kleinste Bewegung ..ob vim sentiendi
maximam" einen Ton hervorzurufen 20).
Die Aktion der beiden Hammermuskel hielt er für teils willkürlich,
teils unwillkürlich, ähnlich wie die der Atemmuskeln. Der Steigbügel
dient nach seiner Ansicht bloß zum Verschluß des ovalen Fensters, der
Amboß lediglich zur Verbindung des Steigbügels mit dem Hammer. Zu
erklären, weshalb der Hammer vermittels des Amboßes mit dem Steig-
bügel in Verbindung stehen müsse, hält er für sehr schwer. Es sei
ferner nicht ausgeschlossen, daß die in die Trommelhöhle durch die Tube
einströmende Luft, die den Hammer nach außen drängt, bei heftigem
Impulse die Stapesplatte aus dem ovalen Fenster herausziehe, so daß
Luft ins Labyrinth eintreten könne.
Ueber die physiologische Bedeutung der Chorda tympanica
weiß der Autor nichts anzugeben. Bezüglich der Tube hält er das
Eindringen von Luft, das beim Gähnen, Schneuzen, Schlucken erfolge,
für die wichtigste Funktion. Beim Schlucken steige der Kehlkopf mit
der Epiglottis, die sich schließe, aufwärts; dadurch werde der Rachen-
raum verkleinert und die Luft in die Tube gestoßen. Schelhammer
widerspricht der Ansicht, daß die Tube zum Schutze des Trommelfells
gegen eine Ruptur diene; er leugnet sogar, daß das Trommelfell durch
eine heftige Schalleinwirkung rupturiert werden könnte.
Am Schlüsse seiner physiologischen Betrachtungen verweist Schel-
hammer auf das bekannte Experiment, bei welchem ein tönendes In-
strument, mit den Zähnen gefaßt, von manchen Schwerhörigen deutlicher
*) 1. c. P. III, Cap. 6 u. 13, p. 269.
214 Schelhammer.
gehört wird und führt dies auf die Kopfknochenleitung und nicht auf
das Eindringen von Schallwellen in die Tube zurück. Eine schwingende
Gabel werde, wenn man sie bloß in den Mund steckt, nicht vernommen,
hingegen sehr deutlich, wenn man die Zähne mit ihr berührt.
Hört ein Tauber gut sobald er ein tönendes Instrument mit einem
zwischen den Zähnen gehaltenen Stocke berührt, so lasse sich daraus
schließen, daß der Fehler nicht im Nerv, sondern einzig und allein im
Trommelfell (?) liege, ein Versuch, der dem von Capivacci (S. 143)
ausgeführten analog ist21).
') Schelhammer spricht von dem Werke Duverneys. ohne daraus irgend-
welche Daten zu entnehmen.
2) Praefatio, p. 6.
3) Musculos nonnulli his partibus esse commemorant. Sed miror equidem,
gravissimos auctores auri humanae eos adscripsisse, cum nihil sit manifestius, quam
eam neque mobilem esse, ex instituto naturae. neque ad audiendum motu ullo in-
digere. 1. c. P. I, Cap. 1, p. 14.
4) Nobis etiam non in ossibus capitis insculptus est (nämlich der äußere Gehör-
gang), sed tota inferior ejus pars ex osse singulari, superiori parti adnato et veluti
adsuto constituitur, quod in quovis sceleto recte composito patet. Hoc ad os Mastoi-
deum in postica parte adhaeret, ä quo sutura manifesta sejungitur, inde subtus
recurrens ulterius extenditur et styloidem jn'ocessum etiam comprehendit. 1. c. P. I,
Cap. 2, p. 23.
5) 1. c. P. 1, Cap. •_'. p. 25.
6) Nos quoque ingenue fatemur, vix unquam licuisse nobis esse tarn felicibus.
ut qualis describitur, talem cerneremus, atque de eo saltem sumus securi, in plerisque
animalium hanc chordam non reperiri. In nomine an ideo id nobis obtigerit, quod
non statim post mortem dissecuerimus aurem, nescio : vix enim priusquam post octi-
duum, aut ultra licuit, quoties fecimus, haec ossa ett'ringere. 1. c. P. I. Cap. 2, p. 30-
7) 1. c P. I, Cap 2 n. 4. p. 39.
8) 1. c. P. I. Cap. 2 n. 4, p. 41.
9) 1. c. P. I. Cap. 2 n. 4, p. 43.
"') 1. c. P. I. Cap. 2 n. 4, p. 45.
") 1. c. P. I, Cap. 2 n. 5, p. 45.
12) 1. c, P. I. Ca].. 2 n. 7, p. 47.
ri) 1. c. P. 1, Cap. 4 n. 4. p. 62.
'") 1. c. P. I. Ca]). 4 n. 5, p. 67.
I5j 1. c. P. I, Ca]>. 4 n. 9, p. 72.
,G) Membranulam, qua istae cavernulae conteguntur, constare ex fibris nervi
auditorii. 1. c. P. III, Cap. 5 n. 1»:. p. 245.
,7) 1. c. P. II, Cap. 2. De sono, p. 125.
,8) 1. c. ibid., p. 127.
19) Neque enim nervus ex se quicquam ad sonum percipiendum confert, et
prorsus posset abesse, nisi Spiritus ille animalis ita vocatus, ad cognoscendas species
auditus expeteretur. 1. c. P. II, Cap. 1 n. 7, p. 90.
20) Est enim strepitus hie nihil aliud, quam auditio menyngis hujus, qui nun-
quam -pereiperetur . nisi in ipsa aure esset collocata, in qua minimus etiam motus
ob vim stmtiendi maximam edit sonum. 1. c. p. 269.
-1) Ut autem hoc obiter moneam, egregium in hoc latet arcanum. cognoscendae
Riolan. 215
surditatis causae. Si quis enim surdus baculum dentibus admovens sonuni percipiat.
inde colligere licet, vitium in nervis non esse, sed fortassis unice in menynge tneatus
auditorii. 1. c. P. III. Cap. 6, n. 7, p. 261.
b) Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen im
17. Jahrhundert bis Duverney.
Trotz der großen Errungenschaften auf allen Gebieten der Natur-
wissenschaften kann in der Pathologie und Therapie des Ohres im 17. Jahr-
hundert kein auffälliger Fortschritt verzeichnet werden. Das im vorher-
gehenden Jahrhundert sich so lebhaft äußernde Interesse für die ana-
tomische und die pathologisch-anatomische Forschung tritt in den Hinter-
grund und statt dessen entwickeln sich auf Grundlage physikalischer
und chemischer Errungenschaften dieser Periode eine Reihe rein spekula-
tiver Systeme in der Medizin, die sich trotz vielfachen Widerspruchs
bis in das 18. Jahrhundert hinein behaupten. Wir brauchen nur auf
die von De le Boe Sylvius inaugurierte Chemiatrie und auf jene
Systeme hinzuweisen , welche sich auf Prinzipien der Mathematik und
Mechanik aufbauten (Iatrophysik) und auch die Therapie der Ohr-
erkrankungen beeinflußten.
Es würde uns zu weit führen, auf die in diesem Jahrhundert in
großer Anzahl erschienenen medizinischen Schriften, in denen auch die
Krankheiten des Gehörorgans kursorisch behandelt werden, näher ein-
zugehen, umsomehr, als es sich meist um Wiederholungen älterer oder
zeitgenössischer Schriftsteller handelt. Wir beschränken uns daher im
folgenden nur auf eine kurze Besprechung der wenig Neues bietenden
otiatrischen Mitteilungen jener Werke, deren Verfasser im 17. Jährhundert
als medizinische Autoritäten galten.
Riolan der Jüngere, dessen wir bereits früher gedacht haben
(siehe S. 187), bespricht in seinem „Encheiridium anatomicum et patho-
logicum" x) in knapper Form die Ohrerkrankungen. Dieser Teil seiner
Arbeit beansprucht jedoch kaum mehr Interesse als seine dürftige Ohr-
anatomie. Von „morbi auriculae" nennt er ohne nähere Beschreibung-
Pusteln, Quetschung, Schwellung, Geschwürsbildung und Brand infolge
Erfrieren, von Erkrankungen des äußeren Gehör ganges Verstopfung
durch einen Tumor, Polypen, ausfließenden Eiter, Sordes oder Fremd-
körper, Entzündung, Abszeßbildung und Exulzeration. Die Krankheiten
der „Cavitates internae", welche er für periostlos hält, sind nach ihm
schmerzlos, außer wenn der Hörnerv oder dessen Abkömmling, das
Trommelfell, affiziert ist. Die Folgen der Entzündung sind Abszeßbildung
und Geschwür des Trommelfells, welche zu seiner Perforation führen.
Diese kann auch durch Fall oder heftigen Schall verursacht sein. Endlich
216 Riolan.
führt er noch als Erkrankung der Membrana tymp. Schlaffheit und ver-
mehrte Feuchtigkeit an. Alle von ihm aufgezählten Affektionen können
die Ursache von Schwerhörigkeit und Taubheit abgeben.
Subjektive Geräusche erklärt er unter anderem aus dem un-
unterbrochenen Zuflüsse von „spiritus" zu den Ohren, ferner aus dem
heftigen Schlagen von inneren oder äußeren Arterien des Ohres , was
starkes Tönen bedinge, besonders wenn man auf dem Ohr liege.
Weshalb Riolan hier besonders genannt zu werden verdient, ist
nicht seine zum großen Teile dem Fernelius entlehnte Beschreibung der
Pathologie des Ohres , sondern die historisch interessante Tatsache, daß
sich in seinem Werke die erste Andeutung zu zwei wichtigen otochirurgi-
schen Eingriffen findet. Es sind dies die Trommelfellperforation
und die Aufmeißelung des Warzenfortsatzes. Wenn Riolan sich
fragt, ob man nicht das Trommelfell bei angeborener Taubheit infolge
eines Bildungsfehlers durchreißen soll, indem er auf einen Fall hinweist,
wo sich einer mit einem Ohrlöffel unversehens sehr tief ins Ohr stieß,
das Trommelfell zerriß, die Gehörknöchelchen zerbrach und hierdurch
sein Gehör verbesserte2), so war damit gewiß die erste Idee zur
künstlichen Perforation des Trommelfells gegeben. Bei den
geringen Kenntnissen der pathologisch-anatomischen Veränderungen im
Gehörorgane darf es nicht befremden, daß Riolan nicht in der
Lage war, eine Erklärung für die Hörverbesserung in dem zitierten
Falle zu finden. Jetzt wissen wir, daß ein solcher Eingriff bei Taub-
heit infolge von Ankylosierung des Hammer-Ambosses das Gehör ver-
bessern kann.
In einem anderen Falle stellt sich Riolan die Frage, ob man nicht
bei subjektiven Geräuschen den Warzenfortsatz aufmeißeln solle,
um „den lärmenden Gasen einen Ausweg zu verschaffen" 3). Dieser
Indikation, die er in der naiven Anschauung seiner Zeit von dem Wesen
der Ohrgerüu-che gestellt hat, verdankt er, daß ihm ■ — wohl nicht
mit vollem Recht — geschichtlich die Priorität der operativen Eröffnung
des Warzenfortsatzes zugeschrieben wird. Es sollte aber noch geraume
Zeit vergehen, bis die Indikationen dieser wichtigen Operation auf patho-
logisch-anatomischer Grundlage sichergestellt wurden. Der Vorschlag
Riolans, den Hinterkopf bei Eiteransammlung anzubohren, ein Eingriff,
aus dem keine größere Gefahr erwachse, dürfte mit der Operation am
W'aizenfortsatze in keinem Zusammenhange stehen, da er anstatt des
von ihm öfters gebrauchten „mastoidis apophysis" hier ausdrücklich die
Operationsstelle als „posticam capitis partem" bezeichnet'1).
') 1. c. Lib. IV, Cap. 4. Consideratio medica. p. 288^291.
2) In naturali surditate a conformationis vitio non ab his causis commeraoratis
contracta: An tentandura istud experimentum quod inopinato et feliciter successit
Riviere. 217
cuidam. qui intruso auriscalpio in Aurem profundissime. disrupit tympanum fregitque
Ossicula, et postea audivit. 1. c. p. 290.
3) An in tinnitu perforanda mastoidis Apopbysis, ut detur exitus spiritibus
tumultuantibus ? ibidem.
*) Si dolor intolerabilis inflammatorius et pulsatorius partes posticaa occupet,
fluxerit materia, et postea substiterit remanente dolore, tutum erit aperire terebra
posticam capitis partem in occipitio, ut detur exitus puri, cum nulluni ex ea opera-
tione periculum majus impendeat. 1. c. p. 290 u. 291.
Lazare Riviere (Riverius), 1589 — 1655. Professor der praktischen
Medizin in Montpellier, steht mit seinem Werke „Praxeos medicae
libri XVII" *) noch mitten im arabischen mittelalterlichen Mystizismus,
wofür insbesondere das 3. Buch**) einen schlagenden Beweis liefert.
Zu Beginn des 1. Kapitels, in dem er über Taubheit und Schwer-
hörigkeit (De surditate et gravi auditu) spricht, streift Riverius mit
einigen Worten auch die Frage der Taubstummheit. Er behauptet
vor allem, daß die Taubgebornen auch stumm sein müßten; doch bestehe
außerdem immer noch irgend ein Fehler im Sprechorgan, da sie sonst
irgend einen artikulierten Laut von sich gäben (aliquam vocem articu-
latam ex naturali instinctu ederent). Wenn man nämlich Tiere von
Geburt an von anderen Tieren derselben Spezies fernhält, so bringen
diese trotz ihrer Isolierung die ihrer Spezies entsprechenden Laute
(vocem sibi connaturalem) hervor, was bei taubgeborenen Menschen, die
die menschliche Stimme nicht hören konnten, nicht der Fall sei. Dieser
Fehler rühre von Feuchtigkeit (ab humiditate) her, die jene Nerven
befalle, die gleichzeitig zum Ohre und zum Kehlkopf (ad aures, linguam
et laryngem) zögen. Taubheit und Schwerhörigkeit entstehe entweder
durch Hirnerkrankungen oder durch lokale Ohraffektionen. Bei Hirn-
affektion wird als Ursache der Taubheit angeführt: temperies frigida
aut repletio, aut imbecillitas, und außerdem Läsionen im Bereiche des
Ursprungs des Hörnerven oder seines Verlaufes. Daß die Taubheit vom
Gehirn ausgehe, könne man daran erkennen, daß gleichzeitig auch andere
Sinnesorgane affiziert erscheinen. Taubheit infolge einer Ohraffektion
kann verursacht werden durch Erkrankung des äußeren oder des inneren
Ohres. Bei Besprechimg der Krankheiten des äußeren Ohres hellt
Riverius hervor, daß unvollkommene oder auch vollkommene Atresie
des äußeren Gehörganges nicht Taubheit, sondern nur Schwerhörigkeit
hervorrufe, da die Töne auch durch den Mund auf dem Wege der Tuba
Eustachii zu den Ohren gelangen könnten1).
Anderseits wieder behauptet Riverius, ein Riß im Trommelfell
oder eine in diesem zurückgebliebene Narbe habe unheilbare Taubheit
*) Hagae-Cotnitis 1664.
**) 1. c. p. 185—209. Cap. 1—4.
218 De le Boe Sylvius.
zur Folge (Membrana tympani rupta, vel cicatrix in illa relicta incura-
bilem surditatem efficit). Im übrigen bekennt Riverius offen, daß die
Ohrerkrankungen oft schwer zu diagnostizieren sind , und daß man die
Ursache oft erraten müsse 2).
Die therapeutischen Angaben des Riverius enthalten nichts
Neues. Er empfiehlt mit klebenden Stoffen umwickelte Sonden zum
Ausziehen von Fremdkörpern, Niesmittel etc. Er will ferner Flöhe
durch Hundehaare entfernen (ob sympathiam, quam habent pulices cum
canibus) , ins Ohr geratene Blutegel durch Eingießen von Blut hervor-
locken. Er wendet eine Gruppe von Mitteln an, um Insekten und
Würmer hervorzulocken, wie mit Zucker versetzte Milch, das Mark eines
süßen Apfels, ein Stückchen Speck etc.
Gegen Schwerhörigkeit und Taubheit infolge „intemperies frigida"
rühmt er unter anderem Schwefelbäder und Dünste schwefelhaltiger Wässer,
da diese angeblich die Kraft besäßen , einerseits das Gehirn zu stärken
und auszutrocknen, anderseits den im Ohr stockenden Eiter zu zerteilen
und aufzulösen. Diese Methode empfiehlt ein gewisser Penotus, der
sie auf folgende Weise durchgeführt hat. Der Körper des Patienten
wird zuerst durch Purgativa gereinigt, hierauf wird aus großen Bade-
schwämmen eine Mütze geformt, die man dem Patienten so auf den Kopf
setzt, daß sie die Ohren bedeckt und bis zu den Augenbrauen reicht.
Dann läßt man vermittels einer Röhre 2 Stunden hindurch und zwar
täglich zweimal warmes schwefelhaltiges Wasser auf die Mütze strömen,
bringt nach dieser Prozedur den Kranken sofort in ein Bett, damit er
tüchtig in Schweiß komme und verordnet eine verdünnende Diät*).
Endlich sei noch mitgeteilt, daß Riverius von schweren Nachteilen
berichtet, die das Einführen von Opium ins Ohr nach sich zieht.
') Advertendurn tarnen est, meatus exterioris obturationem, integram et abso-
lutarn surditatem non posse efficere, sed tantum gravem auditum ; quandoquidem
per os etiam soni ad aures deferri possunt.
2) Has omnes causas per propria signa diagnostica sigillatim distinguere diffi-
cillimum est, arte tarnen et conjectura in hunc modum elucidari possunt.
De le Boe Sylvius, dessen Leistungen auf experimentellem Gebiete
früher (S. 179) erwähnt wurden, der das Wesen der Krankheiten aus
chemischen Prinzipien zu erklären versuchte und das vielfach angefeindete
System der Chemiatrie schuf, hat in seinem umfangreichen medizinischen
Werke „Opera medicä"**) der Pathologie und Therapie der Ohr-
erkrankungen einen kurzen Abschnitt gewidmet. Wir entnehmen ihm
Folgendes:
l Wird auch von Lincke zitiert. Bd. II, S. 45.
**) Amstelodami 1680. Praxeos Medicae Lib. II. Cap. 8, p. 404, De praecipuis
auditus laesionibus.
Tafel XII
FRANCISCUS DELEBOE SYLVIU3
De le Boe Sylvias. Zacutus Lusitanus. 219
Sylvius unterscheidet eine angeborene und erworbene Taubheit.
Die Ursache der erworbenen Taubheit liege entweder im äußeren
Ohr, das durch „sordes" oder andere Dinge verstopft werden könne,
oder im inneren Ohr, wo bisweilen ein „Apostema" vorhanden sei,
oder im Trommelfell, das infolge eines heftigen Geräusches zerreiße,
ferner durch ein ins Ohr gestoßenes spitzes Instrument oder auch durch
ein Apostem arrodiert werden könne, endlich im Hörnerven, wenn er
austrockne oder durch einen Tumor oder Flüssigkeit komprimiert werde.
Er meint ferner, daß bei Apoplexie und ähnlichen soporösen Affektionen
(in Apoplexia, Caro, aliisque similibus affectibus soporosis) Taubheit
durch erstarrte und unbewegliche Lebensgeister (a Spiritibus animalibus
torpidis ac immobilibus) erzeugt werde. Endlich bemerkt er, daß auch
bei Gehirnverletzungen und -Erschütterungen Taubheit entstehe. Was
die Schwerhörigkeit anbelangt, so sei sie durch dieselben, jedoch in
leichterer Form auftretenden Schädlichkeiten bedingt, wie die Taubheit,
überdies noch durch Katarrhe , die sich auf das Ohr beschränken oder
auch den ganzen Kopf ergreifen. Eine besondere Schärfe des Gehörs
(auditus auctus) rechnet er ebenfalls zu den Erkrankungen des Gehör-
organes, weil die Menschen dann einen leichten, sehr oft unterbrochenen
Schlaf haben. Die Verschlechterung des Gehörs (auditus depravatio)
bestehe in Hörtäuschungen und subjektiven Geräuschen. Die Lokal-
behandlung der Ohrkrankheiten ist ebenso kompliziert wie die seiner
Vorgänger. Wenn der von seinen Zeitgenossen gefeierte Kliniker zum
Schlüsse seiner dürftigen Ausführungen das ätiologische Moment bei
Behandlung von Ohrkrankheiten besonders betont, indem er darauf hin-
weist, daß jede von philosophischen Grundsätzen ausgehende rationelle
Heilmethode auf genauer Auffindung aller Ursachen basieren müsse, so
ist es Sylvius doch nicht gelungen, diesem hohen Ziele nahe zu kommen,
geschweige denn es zu erreichen; fehlten hierzu ja noch alle Voraus-
setzungen, vor allem eine gründliche Kenntnis der Ohrerkrankungen selbst.
Abraham Zacuto (bekannt unter dem Namen Zacutus Lusitanus,
1575—1642), ein jüdischer Arzt aus Portugal, der in Amsterdam praktizierte und
auch als mediko-historischer Schriftsteller Erwähnung verdient, teilt in seinen Werken*)
einige Beobachtungen über Ohrerkrankungen mit, von denen wir nur folgende er-
wähnen: Bei einem jungen Manne, der seit längerer Zeit an Taubheit litt, will er
bemerkt haben, daß durch ein Geschwür, welches sich am Ohrläppchen entwickelt
hatte, das Gehör gebessert wurde. Auf diese Beobachtung hin empfahl Zacutus
bei veralteter Taubheit das Anlegen von Fontanellen am Ohrläppchen. Ferner
erzählt er, daß ein Kurpfuscher (pseudomedicus) einem an Ohrenentzündung leidenden
*) De medicorum prineipum historia : librä sex Lugd. Bat. 1657. Lib. 1. Hist.
59—61, Obs. 44, p. 98— 101. — Lincke, Bd. II, S. 45 zitiert ferner: Praxis medica
admiranda. Lib. 1, Obs. 66—70. — Prax. histor. Lib. I, Cap. 14, Lib. II f, Cap. 7.
Daniel Senner t.
Patienten Opium ins Ohr steckte . wodurch dieser sich wohl einige Zeit erleichtert
fühlte, bald aber unter Schwindelanfällen. Bewußtlosigkeit und Konvulsionen starb.
Daniel Sennert. Dem sonst verdienstvollen Wittenberger Uni-
versitätsprofessor Daniel Sennert (1572 — 1037), dem seine Zeitgenossen
den Titel eines deutschen Galen verliehen, hat die Otologie nur wenig
Förderung zu danken. Was er in seinen Arbeiten über das Gehörorgan
sagt, findet sieh mit geringen Varianten fast in allen medizinischen
Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich mit dem Gehörorgan
befassen. Wir beschränken uns daher auf die Skizzierung einiger halb-
wegs origineller Ansichten über Physiologie und Pathologie des Ohres.
Eine kurze anatomische Beschreibung des Gehörorgans, die viel
zu wünschen übrig läßt, findet sich im Lib. VIII, Cap. 2, „De corpore
humano"*) und im Lib. I der .,Institutionum medicinae" Cap. 12, „De
sensibus externis" **). Aus eigenen Sektionen dürfte Sennert kaum
die Anatomie des Gehörorgans gekannt haben. Was er hier mitteilt, ist
ausführlicher und präziser in den Schriften der früheren und zeitgenössi-
schen Anatomen enthalten , denen er seine dürftigen Angaben zweifels-
ohne entlehnt hat.
Im Lib. VII. der Epitome naturalis scientiae , Cap. III., „De
auditu"***) bespricht Sennert die Physiologie des Hörens. Nach
einer kurzen, uninteressanten Auseinandersetzung über das Objekt des
Hörens, den Ton (sonus) und das Medium des Tones (aer et aqua), kommt
er auf den „aer ingenitus" zu sprechen, und bemerkt hier, daß einige
neuere Forscher diesen in Abrede stellen , weil ein Sinnesorgan ein be-
lebter Teil sein müsse (cum sensionis Organum pars similaris animata
esse debeat), und als hauptsächlichstes Hörinstrument einen im inneren
Ohr ausgebreiteten Nerven ansehen (et principale auditus instrumentum
Xervum quendam in aure expansum esse sentiunt). Sicherlich, fügt
Sennert hierzu, sei die neuere Ansicht der älteren vorzuziehen (et certe
prior opinio huic postponenda est).
Im Lib. II. der ..Institutionum medicinae", Part. III., Sect. II„ Cap. 3)
endlich behandelt er die Pathologie des Ohres. In dem Abschnitte
„De causis laesi Auditus" werden als Ursachen der Schwerhörigkeit an-
gegeben: Mangel der Ohrmuschel, Verschluß des äußeren Gehörganges,
Erkrankungen des Trommelfells verschiedenster Art, Fehler in der Be-
schaffenheit der Zusammensetzung des „aer implantatus", Flüssigkeit, die
vom Gehirn herabfließt und die Gänge des Gehörorgans erfüllt.
In weitschweifiger Weise werden die Ohraffektionen zusammen-
*) 1. c. p. 121.
**) 1. c. p. 288.
**) Danielis Senner ti Opera omnia, Parisiis 1641. p. 101.
Kohr. Vikt. Schneider. 221
hängend in seiner „Practicae medicinae lib. primus de capitis et sensuum
cum internorum tum externorum motusque spontanei affectionibus",
Pars III.. Sect. III.. De aurium morbis ac symptomatibus , Cap. 1 — 9,
p. 330 — 344. dargestellt. Der Inhalt läßt kaum einen Fortschritt gegen-
über seinen Vorgängern erkennen; die Ohrkrankheiten werden noch ganz
im Geiste der mittelalterlichen Schriftsteller abgehandelt und zeigen
höchstens Originalität in der Anführung und Anpreisung mehr oder
minder obsoleter Mittel. Würmer des Ohres möge man mit Schwefel-
dampf töten und beim Räuchern des Ohres möge der Patient Bohnen
oder Erbsen kauen, um den Gehörgang zu erweitern und so das Ein-
strömen des Dampfes zu erleichtern.
Dauernde subjektive Geräusche entstehen nach Sennert aus der
Ueberfüllung der kleinen ins Ohr gehenden Arterien mit warmem Spiritus
und einer dadurch hervorgerufenen Pulsation, welche der gleicht, die
man bei einem Aneurysma mit dem aufgelegten Finger empfindet. Die
Ursache der Taubheit liege entweder in den Lebensgeistern oder
im Hörnerv oder auch im Gehörorgan selbst. Werde im Gehirn kein
Lebensgeist produziert oder könne er nicht in den Hörnerv einströmen,
so entstehe Taubheit und auch die anderen Sinne litten darunter.
Dieselbe Wirkung werde ferner hervorgerufen, wenn die Lebensgeister
eine qualitativ und quantitativ fehlerhafte Zusammensetzung hätten.
Bei Greisen habe die Taubheit ihre Ursache in dem Ueberfließen von
Schleim aus dem Gehirn durch den porus acusticus internus ins Ohr.
Entstelle aber die Schwerhörigkeit nach einem heftigen Schall, so sei
der Gehörnerv verletzt oder die Lebensgeister vertrieben worden.
In einem der Kinderheilkunde gewidmeten Traktat seines Werkes
(De infantum curatione tractatus) findet sich auch ein kurzer Hinweis
auf die bei Kindern häufig vorkommenden Ohrerkrankungen. (Cap. 12,
De Aurium dolore, inflammatione , humiditate, ulceribus et vermibus,
p. 707.) Daß er die Ohrenflüsse der Kinder auf ein bei diesen ..niaxime
humidum cerebrum" zurückführt, beweist nur, wie wenig er sich von
den alten Galenschen Anschauungen emanzipieren konnte. Schließlich
wäre noch hervorzuheben, daß Sennert auf das Leichte Entstehen einer
Labyrintherkrankung bei Ohrenflüssen dunkel hinweist, indem er sagt,
daß durch die Ohrenflüsse die Knochen des Ohre-, vor allem die spon-
giösen und kavernösen Räume ergriffen und kariös werden, und daß,
falls nicht bald Heilung eintritt, unheilbare Taubheit die Folge ist*).
Konrad Viktor Schneider. Größere Förderung als von seinen
Zeitgenossen erfuhr die Otiatrie durch Konrad Viktor Schneider
*) Insuper ex continuo humorum adfluxu et sordibus ulceris latius serpentis
tandem aurium ossa, et praecipue spongiosa et cavernosa illa . corrumpuntur et
cariosa eradunt, et nisi temporis progressu ulcus sanetur incurabilis surditas inde oritur.
222 Konr. Vikt. Schneider.
(1614 — 1680), dessen rationelle Therapie sich wesentlich von der seiner
Vorgänger unterscheidet. Seinem berühmten Werke: „Liber de Catarrhis,
Vittebergae 1661", dessen Klarheit, Gründlichkeit und alles umfassende
Gelehrsamkeit von Sprengel rühmend hervorgehoben wird, gebührt das
unbestrittene Verdienst, mit dem tief eingewurzelten Irrtum, daß Nasen-
schleim und Cerumen*) Exkremente des Gehirns seien, endgültig auf-
geräumt zu haben. Ausgerüstet mit allen damals bereits vorhandenen
anatomischen , physiologischen und pathologischen Hilfsmitteln erbringt
Schneider den wichtigen Nachweis, daß die alte Annahme der Gale-
n i sten, die Katarrhe stiegen aus dem Gehirn**) herab, vollkommen
falsch war. Er zeigt , daß die ( )hrenflüsse unmittelbar aus den Ohren
kommen, und verurteilt die von alters her gebräuchlichen Einspritzungen.
Aus der umfangreichen Arbeit, die sich infolge ihrer Weit-
schweifigkeit und geringen Uebersichtlichkeit nicht leicht liest, wollen
wir die Stellen, an denen er das Gehörorgan erwähnt, in Kürze be-
sprechen.
Das fünfte Kapitel des dritten Buches beginnt Schneider mit
einer Polemik gegen Mercatus und Argenterius, welche die „sordes
aurium" für ein Exkrement des Gehirns halten. Er bestreitet auch die
Möglichkeit der Annahme des Casserio, daß die sordes aurium aus dem
Gehirn den überschüssigen Salzgehalt aufnehmen. Einige Autoren wie
Ingrassia und Paracelsus hätten wohl behauptet, daß Ceruminalsekret
und Schleim (aurium sordes propria aurium exerementa) Ausscheidungen
des Gehörorgans wären, doch seien die Angaben dieser Autoren zu wenig
präzis gegenüber der entschiedenen, auf anatomischer und klinischer Be-
obachtung basierenden Angabe Schneiders, daß die normalen uud
pathologischen Sekrete im Gehörorgan aus den Blutgefäßen geliefert
werden *).
Schneider bestreitet ferner die Möglichkeit, daß Transsudationen,
Eiter und andere Absonderungen (pus et sordes) durch das intakte
Trommelfell durchdringen könnten. Hingegen glaubt er irrtümlicherweise,
die post mortem so häufig vorgefundene seröse Flüssigkeit in der Trommel-
höhle sei als Produkt eines Mittelohrkatarrhs anzusehen. Wir wissen
jetzt, daß solche Transsudate zuweilen in den letzten Lebensstunden
erfolgen.
An seiner Ueberzeugung, wonach alles, was aus den Ohren fließe,
nicht vom Gehirn stammen könne, hält Schneider so fest, daß er bei
der Besprechung eines von Isaak Cattierius erwähnten Falles einer
Schädelbasisfraktur mit Ausfluß einer großen Menge seröser Flüssigkeit
*) Aurium sordes ex sanguine per vasa aurium. Lib. III, Cup. 10, p. 387.
i Materia C'atarrhorum non est exerementum Cerebri. Lib. TIT. Cap. 5. p. 158.
Michael Ettmüller. 223
aus Nase und Ohren (Cerebrospinalflüssigkeit) die Behauptung aufstellt,
der reichliche seröse Ausfluß entstehe durch Ausscheidung der Blut-
gefäße 2).
Mit diesem Fall stellt er irrtümlich einen anderen von Senn er t
zitierten in eine Parallele, bei dem es sich um eine starke seröse Ex-
sudation in der Trommelhöhle handelt.
Im zehnten Kapitel des vierten Buches bekämpft Schneider die
bis dahin gangbare Ansicht, daß man vom Gehörorgan aus auf das
Gehirn einwirken könne (ab auribus ad Cerebrum viam ferre) und ver-
wirft die bei Hirnerkrankungen , bei Mittelohrkatarrhen und Otalgien
empfohlenen Einträufelungen von Oelen, besonders des Ol. terebinthinae.
!) Aurium partes sunt ossa temporum , tria illa ossicula , mernbranae intus
reconditae et membrana Tympanum cognoniinata , musculus ille minimus , nervus,
chorda. Hae ex nutritione tarn acre et tarn rnultum excrementum tarn indesinenter
exigere non posse videntur. Sunt etiam perexiguae partes et admodurn siccae.
2) Hie humor de sanguine venit, qui sanguinis missione refractus fuit. Minime
vero ille Icbor per corpus Cerebri defluxit.
Michael Ettmüller, Professor der Medizin in Leipzig (1G44 — 1683),
ein eifriger Anhänger der Chemiatrie, beschäftigt sich in eingehender
Weise mit den Erkrankungen des Ohres. In seinen von seinen Schülern
veröffentlichten Schriften „Michaelis Ettmülleri opera omnia, Venetiis
1734" findet sich nahezu alles wiederholt, was seine Vorgänger bereits
weitläufig ausgeführt haben. Originelle Ideen vermissen wir in dem
Werke gänzlich.
Von Erkrankungen nennt er ..Entzündung und Geschwür der
Ohren" l), „ Gehörstörungen " 2) und „ Ohrschmerz u :;). Er erwähnt einen
von Bartholinus überlieferten interessanten Fall, bei dem sich im
eitrigen Ohrenausflusse ein Zahn vorfand , ohne daß ein solcher, wie er
hervorhebt, im Oberkiefer fehlte4). Er stellt in Abrede, daß eine
Sekretion in der Trommelhöhle ohne gleichzeitige Börstörung bestehen
könne 5). Er empfiehlt, Ohrenflüsse besonders bei Kindern nicht zu früh
zur Heilung zu bringen und bloß den äußeren Gehörgang rein zu halten,
was er merkwürdigerweise am besten durch menschlichen Urin erreichen
will6). Eine Linderung des Ohrenschmerzes erwartet er durch Einblasen
von Tabakrauch mit einer Röhre, ebenso durch Anwendung des aus nicht
weniger als 21 Ingredienzien bestehenden „Spiritus Otalgicus" des Chi-
rurgen Paul Barbette. Schwerhörigkeit und Taubheil worden seiner
Ansicht nach durch Erkrankungen der Ohrmuschel, des äußeren Gehör-
ganges, des Trommelfells und des Hörnerven bedingt. Er erwähnt als
eigene Beobachtung spastische Krämpfe der Muskeln der Gehörknöchel-
chen, durch die das Trommelfell übermäßig gespannt von den Luft-
schwingungen nicht aus seiner Ruhelage gebracht werden kann. Dieser
22 I Michael Ettmüller.
Muskelkrampf sei die Ursache von Hörstörungen bei hysterischen Indivi-
duen und Hypochondern. Die hierbei auftretende subjektive Empfindung,
als ob etwas vor ihren Ohren ausgespannt wäre (quibus saepe aliquid
ante aures obtendi videtur), verschwindet rasch wieder, wenn der Krampf
nachläßt.
Die Nervenaffektionen teilt er ein in angeborene Bildungs-
fehler, wenn nämlich der Hörnerv nicht zum inneren Ohr, sondern in
anderer Richtung (ad alium locum) verläuft, in Kompression oder
Verstopfung (bei Gehirnerschütterung, Lues, fieberhaften Erkran-
kungen etc.), die den Durchtritt der „Spiritus animales" verhindern, endlich
in Erkrankung der in der Schnecke und im Labyrinthe ausgebreiteten
Membranen, die von „paralysi" oder „spasmo" ergriffen werden können.
Daß Fasern dieser „Membrana auditoria" bei paralytischer Konstitution
durch heftige Geräusche, wie manche meinen, geschädigt oder gar zer-
rissen werden, bestreitet er mit dem Himveise auf das Trommelfell, das
den heftigen Schall aufhalte und die Wirkung auf die tieferen Teile
abschwäche. Eine spastische Spannung der Fäden der Hörmembran
macht sie zum Mitschwingen untauglich. Charakteristisch für die da-
maligen Ansichten ist die Argumentierung in einem Falle, betreffend
einen alten Mann, der infolge einer Taubheit sein scharfes Sehvermögen
wieder erlangte und nach Heilung der Taubheit wieder schlecht gesehen
haben soll. Durch den „spasmus" des Hörnerven, meint Ettmüller, seien
die „spiritus Animales" zum Sehnerv und nach Lösung des „spasmus"
nicht mehr in solcher Menge zu ihm gelangt.
Prognostisch hält er das Hinzutreten eines Deliriums zu einer vor-
hergehenden Taubheit bei akuten Erkrankungen für ungünstiger als das.
Hinzutreten von Taubheit zu einem vorhandenen Delirium.
Die Therapie ist der polypragmatischen Idee seines Zeitalters ent-
sprechend von einer ebenso überwältigenden wie wertlosen Reichhaltigkeit.
Erwähnenswert wäre nur die Mitteilung, daß die Taubheit eines Hundes
durch eine Bluttransfusion vom Schafe geheilt worden sein soll7). Die
subjektiven Geräusche (auditus depravatus) scheidet Ettmüller in ein
„Sausen und Brausen (sonitus)" und ein („tinnitus") Klingen der Ohren.
Als Ursache führt er neben anderen Momenten auch eine durch heftigen
Impuls hervorgerufene Dislokation des Trommelfells und der Gehör-
knöchelchen, ferner Verletzung oder Dislokation der Fibrillen der Hör-
membran in der Schnecke an. Wenn heftige Pulsation von kleinen
Arterien die Schuld trage, könne man die Beobachtung machen, daß bei
eintretendem Nasenbluten das Ohrgeräusch aufhöre.
') 1. c. Tom. II, Lib. I, Sect. 18, Art. 16, p. 1101 — 1104. De Inflammatione
Aurium earumque Ulcere.
2) ibid. Lib. II, Sect. II, Cap. 2. Art. 1—2. p. 1360—1372. De Auditus laesionibus.
Ant. Nuck. M. G. Purmann. 225
3) ibid. Cap. 3. Art. 6, p. 1395—1399.
4) Mirabile Inflammationis Auris Exeiuplum est , quod Bartholinus cent. 3,
Epist. 17, p. 67 refert, in abscessu aurium erumpens pus et vehens simul secum
dentem, sine defectu dentis ullius in Maxillis. 1. c. p. 1102 (offenbar ein fremder Zabn).
5) Caeterum quod dicat, Tympani hanc excretionem observatam fuisse citra
auditus laesionem, dubito, et suspendo bac in parte Judicium, ibid.
6) Sufficit, si modo mundus servetur Meatua auditorius, id quod optime mediante
urina humana assequimur. p. 1104.
7) Journal de Scavans Ann. 1668. Acta Societ. Reg. Vol. I, p. 705.
Die Chirurgie der Ohraffektionen am Ende des 17. Jahrhunderts
weist kaum einen Fortschritt gegen Pare und Fabricius Hildanus
auf. Die chirurgischen Eingriffe beschränken sich noch immer auf die
Extraktion von Fremdkörpern und Polypen.
Antonius Nuck (1650 — 1692), der sich durch seine Untersuchungen
über die Lymphgefäße und Drüsen des menschlichen Körpers besonders
verdient gemacht hat, gibt in seinen „Operationes et experimenta chi-
rurgica", Lugd. Batavor. 1696, in einem kurzen Abriß „de aurium
Chirurgia" (p. 50) einige nützliche Winke über Extraktion von Fremd-
körpern. Vor allem soll der Gehörgang mit dem Speculum auris
von Solingen erweitert werden. Am besten werden verschiedenartige
Haken zur Extraktion verwendet. Das von anderen Autoren empfohlene
Anbohren des Fremdkörpers mit einem Bohrer (Terebellum) behufs
Extraktion verwirft er, weil dabei das Trommelfell verletzt werden
kann. Zur Entfernung von Insekten aus dem Ohre bedient er sich
einer Sonde , die mit einem in Terpentinharz getränkten Schwämmchen
armiert ist.
Granulationen und Polypen im äußeren Gehörgange sind mit
Messer oder Schlinge abzutragen. Scharfe Aetzmittel sind wegen der
Gefahr einer Schädigung des Trommelfells zu vermeiden.
Bisweilen wird der Gehörgang durch eine einem ausgespannten
Segel ähnliche Membran verschlossen. Befindet sich diese in der Nähe
des Trommelfells, so unterlasse man jeden operativen Eingriff.
Schließlich empfiehlt er für hochgradige Schwerhörigkeit, gegen die
sich die medikamentöse Behandlung als wirkungslos erweist, ein mehr-
fach gewundenes, metallenes Höhrrohr (Tuba sonorifera seu acovistical.
welches er auch abbildet.
Matth. Gottfr. Purmann (1648 — 1721), dessen in deutscher Sprache
geschriebenes Werk*) zu Anfang des 18. Jahrhunderts erschien, berichtet
(p. 62) über Anheilung einer fast ganz abgÄtauenen Ohrmuschel, deren
Wundflächen zuerst „geritzet", dann mit einem Heftpulver (bestehend
i Matth. Gottfr. Purmanni, Grolier und neugewundener Lorbeerkranz.
Frankfurt und Leipzig 1722.
Politzer, Geschichte dei Ohrenheilkunde. I 15
226
Joh. Jak. Wepfer.
aus Pulv. rad. consol., Gummi arabic, Tragakant und Sarkokoll) bestreut
und mit Heftpflaster befestigt wurden.
Granulationen (Fleischgewächse), die nach „übeler Heilung der
Aposthemen in den inneren Ohrenhöhlen" entstehen, sind gut „auszu-
trocknen", weil sie sonst zur Atresie des Gehörgangs führen können.
Purmann wiederholt hier die Angaben Pares. Desgleichen werden
in Bezug auf den Ersatz verloren gegangener Ohrmuschelteile die Vor-
schriften Tagliacozzis und Pares wiedergegeben.
In dem Kapitel „Von den Gewächsen, so sich gemeiniglich in den
Ohren und am Halse finden lassen" (p. 251) schildert er neben zwei
anderen Fällen eine 1685 ausgeführte Polypenoperation bei einem 19jäh-
rigen Mädchen „sanguinischer Komplexion", die sich „mit selbigem
Leiden seit 4 Jahren geschleppet" (Fig. 10). Die nach der Methode
des Fabricius Hildanus aus-
geführte „ Unterknüpf ung" wurde
„ 3 Morgen nach einander " wieder-
holt, bis der Polyp „gleichsam
abstarb". Als Pur mann im Be-
griff war, die Wurzel des Ge-
wächses „auszureißen", vergriff
sich sein „Geselle in der Arznei"
und ließ ihr einige Tropfen von
„Aqua fortis" (Scheidewasser)
ins Ohr fallen, worauf heftige
Schmerzen, Hitze und Konvul-
sionen eintraten. Nach sechs-
tägiger Behandlung schwanden
die beunruhigenden Symptome
und P u r m a n n fand , daß auch
die Wurzel des Polypen jetzt
ganz „ausgereutet" war.
Als Beispiel der kompli-
zierten Therapie jener Zeit möge
das folgende zur Beseitigung des Ohrenflusses empfohlene „Trucken-
pulver" dienen. Rec. Lithargyr. Coct. Unc. ss. Tutiae ppt. Ceruss. lot. aa.
Drachm. V. Lap. Calaminar. ppt. Drachm. ij. Rad. Aristoloch. long.
Brvon. Serpentar. aa. Drachm. iij. Fol. Persicar. Theae ää. Drachm. ijss.
Flor, zinci Unc. ss. Croci metallor. Scrup. ij. M. F. ad subtilisst. pulv. S. &c.
Johann Jakob Wepfer, ein hervorragender Schweizer Arzt des
17. Jahrhunderts (1620 — 1695), der sich um die pathologische Anatomie
mehrerer Krankheiten (Apoplexie) große Verdienste erworben hat, berührt
in seinen „Observationes medicopracticae de affectibus capitis internis et
Fig. 10. Reproduktion der Abbildung eines
Ohrpolypen aus dem zitierten Werke M.
G. Purmanns.
Joh. Jak. Wepfer. 227
externis"*) auch otiatrisches Gebiet. Ta die betreffende n Kranken-
geschichten nur Unwesentliches enthalten , können wir auf deren Ana-
lyse verzichten . Subjektive Geräusche beobachtete er außer bei
Ohraffektionen auch bei Hemikranie (Obs. LV. , p. 149), bei „obtusio
capitis" (Obs. LXL, p. 186 u. 191), bei Schwindel (Vertigo gyrosa et
titubans, Obs. LXX., p. 230)**), bei h y st er ischen Krampf en (motus
convulsivi cum Clavo hysterico, Obs. CXVIIL, p. 549); Ohrensausen
bei Ohrerkrankungen versucht er aus irgend einem Hindernis ( Cerumen,
Sekrete, Tubenverschluß etc.) der Luftströmung aus dem Ohre zu er-
klären, wie sich leicht beweisen lasse, wenn man beispielsweise das
normale Ohr mit dem Finger verschließe oder ein Trinkglas vorhalte,
so vernehme man deutlich ein Brausen, während jemand, der an sub-
jektiven Geräuschen leide , bei diesem Versuche kein neues Geräusch
(Obs. CLXXXVI.. p. 882) wahrnimmt. Ebenso kompliziert wie irrationell
ist seine Therapie; so empfiehlt er gegen den „tinnitus aurium" starke
Geräusche, z. B. das Zusammenschlagen zweier Steine, wodurch das Ab-
fließen der das Sausen bedingenden serösen Flüssigkeit aus dem Ohre
erzielt werde (Obs. LIL, p. 141).
Außer den im Texte angeführten Autoren sind noch folgende, unwesentliche
Details enthaltende Schriften des 17. Jahrhunderts zu erwähnen.
Nicol. Henelius. Otium Wratislaviense. Jenae 1658, Cap. 17. Aurium
nariumque resectio.
Histoire de l'Academie Royale des Sciences depuis son etablissement en
1666 jusqua 1686. Tom. 1, annee 1684, p. 395. Sur l'Organe de l'o u i e.
Paris 1733.
Hyac. Jordanus, Theorica medicinae S. Thomae etc. Physiologiae par-
ticula 4 anatomica articulata 10. De auribus. Neapoli 1643.
Fra'nciscus Junius, De pictura Veterum. Lib. III, Cap. 9, § 12. Au res
mediocres optimae. Roterodami 1694-
Jos. Langius, Florilegium verbo Auditus et audire p. 71. Argen-
torati 1662.
Fortun. Licetus, De Aristot, libro de admirandis auditionibus etc.
Cap. 28, 29, 30, 31. ütini 1646.
Pietro Mengoli, Speculationi di Musica. Specul. 1, Descrizione dell'
orecchio, e Specul. 3 et 4. dell' udito. Bologna 1670.
Dan. Georg Morhofius, Dissertationes variae etc. Diss. XI. De paradoxis
sensuum. Cap. 3. De paradoxis auditus. Hamburg! 1699.
Nicol. Nancelius. Analogia Microcosmi etc. Lib. III, Part. 2, Cap. 2. De
auditu et auribus. Parisiis 1629.
Honoratus Nicquetius, Physiognomia. Lugduni 1648. Lib. II, Cap. 11.
De Auribus.
*) Herausgegeben von den Enkeln Bernhard und Georg Michael Wepfer,
Schaffhausen 1727.
**) Das Werk Wepfers ist in der älteren Literatur die beste Quelle für den
„Schwindel" als Symptom bei den verschiedenartigsten Erkrankungen.
Zur otologischen Literatur des 17. Jahrhundert-.
Joh. Friedr. Ortlob, Historia partium et. oeconom. homin. Diss. 29. De
Audi tu. Lipsiae 1697.
Emilio Parisano, Nobilium exercitationum. Lib. XII. De subtilitate micro-
cosmica etc. Venetiis 1623. Lib. II. De Auditus orgauo.
Alessandro Paseoli, De Corpore humano. Tom. III. Sect. 1, Cap. 3. De
Auribus. Romae 1718.
Francesco Pietri. Problemi Accademici. Problema 50, quäl sia di maggior
senso o potenza, l'occhio o l'orecchio. Napoli 1642.
Meissner, Diss. de auditu eiusque vitiis. Pragae 1690.
Seh rader, Diss. de audit. gravitate. Heinist. 1694.
Nymmanus, Diss. de gravi auditu et surditate. 1694.
Theod. Grammaeus, De morb. oculor. et aurium. Venet. 1601.
Joann. Wolff, Diss. in Galeni libros de affectibus aurium. Helmstadii 1619.
In exercitationib. semioticis ad Claud. Galeni libros de locis affectis. Helmstadii 1620.
Menjotii, Diss. de bombis aurium. App. ad bist. febr. malign. Paris 1622.
Alsarius a Cruce, Consultatio pro nobili adolescentulo, oblivione, surdi-
tate et obauditione laborante. Rom 1629.
Zeidler, Diss. de aurium tinnitu. Lips. 1630
Deusing, Diss. de surdis ab ortu. Groening. 1660.
Warenius, Diss. de catarrho et ex eo descendente otalgia etc.
Rostock 1663.
Brotbeck, Diss. de inflammatione aurium. Tubing. 1667.
Joann. Theod. Schenck. Diss. de tinnitu aurium. Jenae 1667.
Steudner, Diss. de auditus d i m i n u t i o n e et abolitione. Lugd.
Batav. 1669.
Screta a Zavorziz, Diss. de laesa auditione. Basil. 1671.
Rud. Guil. Crausius, Diss. de tinnitu aurium. Jenae 1681.
Weigelii, I>is>. de auditu laeso. Basil. 1593.
Jakob Alting, Academicae dissertationes. Groningae 1671. Fptad. 2. Diss. 6.
De perforatione aurium, memorata psalm. 40, vers. 7.
Franciscus Baronius, De Corpore etc. Panormi 1664, Tit. 12. De
Auribus.
Joh. Christ. Beckmann, Historia Orbis terrarum etc. Francofurti 1865.
Cap. 9, Sect. 2, Num. 8. De otomegalis, hoc est gentibus habentibus patulas et
magnas aures.
Petrus Berchorius, Reductorium morale utriusque Testamenti. Coloniae
1672. Lib. II, Cap. 10. De Auribus.
Claude Guillermet de Beauregard (Berigardus 1578—1663), Circuli
Pisani in Lib. Aristotel. de Anima etc. Utini 1643. Circ. 15. De auditu.
Laetius Bisciola, Horarum subsecio. Coloniae 1618. Tom. II, Lib. 7, Cap. 4.
Aurium et oculorum praestantia.
Philipp Bonannas, Recreatio mentis et oculi. probl. 30. Romae 1684.
I d., Recreatio Oculorum probl. 25, de Testaceis cur careant auditu. Romae 1684.
Gio. Bonif accio, L'arte dei cenni. Vicenza 1616. Part. I, Fol. 238. Degli
o r e c c h i.
Joh. Franciscus Bononnius, Chiron Achillis, hoc est Emblemata, quo-
rum 42. Folles cum lemmate, Folles linguarum aures contra maledicentiam aus-
cultantes. Bononiae 1661.
Pompeo Caimo (1568—1631), Dell' Ingegno umano. Venezia 1629. Lib. I,
Ca],. 12, a Fol. \:>,2, ad Fol. 137.
Zur otologischen Literatur des 17. Jahrhunderts. 229
Ludovic. Cresolius, Yacationes autumnales. Lutetiae 1620. De actione
orator. Lib. II, Cap. 6. De auribus.
Honoratus Fabrus, De homine. Parisiis 1666. Lib. II. propos. 57. De
auditus o rgano.
Filippo Finella, Fisonomia. Napoli 1625. Cap. 10. Dell' Orecchie.
Jo. Arnold. Fridericus, De aure. Jenae 1670. Responsio Jo. Guil. Eichron.
Georg Funcius, Satyr, medica, continuat. 10. De Auribus humanis
mobilibus. Responsio Dan-Pitz. Heidelbergae 1616.
C ornelio Ghirardelli, C'efalogia Fisonomica. Bologna 1670. Dell'
Orecchie.
Martin Hartman, Diss. sab Praes. Schenckio, de tinnitu aurium.
Jenae 1669.
Jo. Bapt. Cord. Ptolomaeus, Philosophia rnentis et sensuuni, physic.
particularis de corpore animato. Augustae Vindelicorum 1698. Diss. 12, p. 611.
De A u d i t u.
Recueil desQuestionset Conferences du Bureau etc. Paris 1655. Tom. 4,
Num. 28, Fol. 231. Du tintement d'oreille.
Pierre Silvain Regis, Cours entier de Philosophie selon les principes de
Mr. Descartes tom. 3, de la Physique, livr. 8, part. 2, chap. 6, de Fouie et des
causes physiques de ses fonctions et chap. 7 , de l'Organe immediat de Fouie.
Amsterdam 1691.
Gasp. S ch o ttus , Magia universalis Naturae et artis. Part. II, Lib. I, Synt. 1,
Cap. 1 et seqq., et Synt. 3, Cap. 1 et seqq., de organo auditus et aurium ana-
tomia. Herbipoli 1657.
Id., Physica curiosa. Lib. III, Part. III. Cap. 33, § 3. Mirabilia aurium et
auditus. Herbipoli 1657.
Philippe Verheyen (1648 — 1710), Anatomia corporis humani. Lovanii 1706.
Tom. I, Tract, 4, Cap. 15 de Auribus. Tom. II, Tract. 1, Cap. 28, de Cerumines et
aurium sordibus et Tract. 3, Cap. 9, de Auditione.
I d., Vera historia de horrendo sanguinis fluxu ex oculis , naribus , auribus
et ore, et miraculosa ejusdem sanatione. Loewen 1708.
Paolo Zacchias, Quaestiones medicolegales etc. Lugduni 1674. Lib. V,
sit. 3, quaestia 4, num. 22 usque ad 30, de Auribus.
Marcus Banz er, Dissertatio de auditione laesa. Witenberg 1640.
Camillo Baldo (1527 — 1634), In physiognomica Aristotelis commentarii.
Bologna 1621. Part. IV, Apostel. 85 et seqq., de Auribus, Fol. 465.
Guillaume de Baillou (Ballonius, 1538—1616), Opera omnia medica.
Venetiis 1735. Tom. III. Consiliorum medieinalium . Lib. III, cons. 19, de Aure
Buppurata.
Thomas Browne (1605—1682): Opera, hoc est Errores populäres etc., ubi
ib. 5, deridet eos qui si aures suaa tinnire sentiant, aliquem de se loqui autumnant.
Die Otiatrie in der neueren Zeit.
a) Stand der Anatomie und Physiologie des Gehörorgans
im 18. Jahrhundert.
Die am Ende des 17. Jahrhunderts durch Duverney vorgezeichnete
Behandlung der Anatomie des Gehörorgans hat sich für die Forschung
auf diesem Gebiete als fruchtbringend erwiesen. Insbesondere nahm die
normale deskriptive und die vergleichende Anatomie des Ohres einen neuen
Aufschwung und gelangte in diesem Zeiträume durch die unvergäng-
lichen Arbeiten Valsalvas, Cotugnos, Scarpas, Comparettis und
Cassebohms zu Ergebnissen, die durch spätere Forschungen kaum mehr
überholt wurden. Ihr Verdienst ist umso höher anzuschlagen, als die
gröberen anatomischen Details des Gehörorgans durch die Anatomen des
16. und 17. Jahrhunderts bereits erforscht waren und den neueren
Forschern die Auffindung äußerst schwer darstellbarer Gebilde des inneren
Ohres gelungen war. Wir brauchen nur auf die Entdeckung der Vorhofs-
und Schneckenwasserleitung durch Cotugno und der membranösen Ge-
bilde durch Scarpa hinzuweisen, um die Bedeutung dieser Epoche für
die Ohranatomie zu charakterisieren. So erhob sich die Ohranatomie
durch die rege Mitarbeit namhafter Forscher fast aller Länder auf ein
höheres Niveau; nicht zum geringsten beweisen dies die zahlreichen oto-
logischen Dissertationen aus dieser Zeit. Endlich fand auch die lange
vernachlässigte Embryologie ausgedehnte und systematische Pflege.
Auch die Physiologie des Gehörorgans konnte zielbewußter an
die Lösung wichtiger Probleme schreiten, da ihr einerseits die Anatomie
und die rasch sich entwickelnde mikroskopische Technik, anderseits die
Arbeiten namhafter Physiker auf dem Gebiete der Akustik zu statten
kamen.
Die Führung in der anatomischen Erforschung des Gehörorgans
übernahmen in dieser Periode abermals die Italiener.
Yalsalva.
Unter den Autoren der Uebergangsperiode vom 17. zum 18. Jahr-
hundert nimmt Valsalva den ersten Rang ein. Seine Abhandlung über
die Anatomie des Ohres, ein Gebiet, das er mit besonderer Vorliebe be-
Tafel XIII
ANTONIO MARIA VALSALVA
Valsalva. 231
handelte, wurde nach seinem Tode von seinem trefflichen Schüler Mor-
gagni kommentiert und erweitert; sie zählt trotz mancher Irrtümer zu
den besten ihrer Art.
Die verläßlichste Quelle für den Lebenslauf und die Leistungen
Valsalvas ist Morgagni, der die Ausgabe der Werke Valsalvas
mit einem biographischen Abriß seines Lehrers einleitete x). Die Be-
geisterung, mit der Morgagni von seinem Meister spricht, läßt ermessen,
welche Bedeutung den Werken Valsalvas von seinen Zeitgenossen bei-
gelegt wurde.
Antonio Maria Valsalva, der Sprößling einer alten, edlen
Familie in der Romagna, wurde am 6. Februar 1666 zu Imola geboren.
Bereits früh zeigten sich Spuren seines anatomischen Talents; er fand
schon als Knabe Geschmack daran, Vögel und andere Tiere zu zergliedern.
Als Jüngling besuchte er die hohe Schule zu Bologna, wo er zuerst Philo-
sophie, Mathematik, Botanik trieb, um sich später den medizinischen
Studien zu widmen. Sein Lehrer in der Anatomie war der große Mal-
pighi. Valsalva erwarb bereits 1687 den Doktortitel. Doch befriedigte
ihn die damals noch immer scholastische, dem Geiste wahrer Natur-
wissenschaft widersprechende Studienart so wenig, daß er dem Rate
Malpighis folgend sich der objektiven Naturforschung zuwandte, wozu
ihm das Studium am Krankenbette, die Veranstaltung von pathologischen
Sektionen und von Vivisektionen an Tieren Gelegenheit bot. Mit welcher
Ausdauer Valsalva auch in späteren Jahren der anatomischen Forschung
oblag, dafür liefern die Worte Morgagnis Zeugnis, daß er in Ausdauer
und Kühnheit, in Eifer und Opfermut selbst Anatomen, wie Vesal oder
Ruysch, weit hinter sich gelassen habe. Denn diese vollbrachten Aehn-
liches nur in den Tagen stählerner Jugendkraft, während Valsalva noch
im späten Mannesalter, als er Ruhm und Verdienste reichlich erworben,
ungeachtet seines leidenden Zustandes, Tage und Nächte unter Kadavern
zubrachte 2).
Die Anatomie umschließt jedoch nicht seine ganze Lebensarbeit, denn
nebst seiner Professur der Anatomie zu Bologna bekleidete er noch die
Stelle eines Ober- und Wundarztes am Hospitale S. Orsola. Durch eine
Reihe trefflicher medizinisch-chirurgischer Arbeiten, sowie durch Angabe
neuer chirurgischer Behandlungs- und Operationsmethoden und durch
glänzende Diagnosen , die er durch pathologisch-anatomische Unter-
suchungen kontrollierte , erwarb er sich auch einen im Auslande ver-
breiteten Ruf als gefeierter Lehrer, als Arzt und Operateur. Die Lon-
doner Akademie ernannte ihn gleichzeitig mit seinem Lehrer Malpighi,
dessen Nachfolger er 1 ( > '. » 7 wurde, zu ihrem Mitgliede. Er starb, 57 Jahre
alt, am 2. Februar 1723 an Apoplexie, einer Krankheit, deren ana-
tomische Ursachen er zuerst klar erkannte. Morgagni liefert i der
232 Valsalva.
Nachwelt nicht nur ein Porträt seines Lehrers als Gelehrten, sondern
auch eine Schilderung seiner Persönlichkeit3), die uns diesen würdigen
Altmeister unseres Faches auch menschlich näher bringt. Das Werk
Valsalvas über Anatomie und Physiologie des Ohres ist die Frucht
einer 16jährigen Arbeit, während welcher Valsalva mehr als tausend
Köpfe der Zergliederung unterzog1). Der wissenschaftliche Wert seiner
Ohranatomie, das Resultat eigenster Forschung, erhellt am deutlichsten
daraus, daß alle otologischen Werke bis zum 19. Jahrhundert in ihrem
anatomischen Teile auf den Arbeiten Valsalvas basieren, denen wir
noch heute unsere volle Anerkennung zollen müssen.
In der Präparationsmethode des Gehörorgans brachte er es zu einer
solchen Vollkommenheit, daß er die Bewunderung seiner Zeitgenossen
errang: eines seiner schönsten Präparate hinterließ er der Bologneser
Akademie der Wissenschaften, ein Stück von höchstem Werte: es war
das erste Präparat eines Gehörorgans im Zusammenhange, während man
bisher die einzelnen Teile gesondert präparierte 5).
Der ..Tractatus de aure humana'*, in dem Valsalva seine
Forschungsergebnisse niederlegte, erschien in mehreren Auflagen, zuerst
in Bologna 1704, sodann von Morgagni herausgegeben zusammen mit
dessen anatomischen Briefen, die eine Kommentierung und Erweiterung
bilden (Venedig 1740), und enthält 10 Tafeln mit sehr guten Abbildungen.
Der Traktat Valsalvas steht dem Duverneyschen nicht nur würdig zur
Seite, sondern übertrifft ihn noch Aveitaus an Inhaltsreichtum, der in
seltener Weise mit Kürze und Prägnanz des Ausdrucks gepaart ist. Er
umfaßt die Anatomie und Physiologie, sowie auch Kapitel aus der Patho-
logie des Gehörorgans und enthält neben geklärter Darstellung des bisher
Bekannten viel Neues. In der Beschreibung der knöchernen Teile leistete
schon Duverney fast das Aeußerste für seine Zeit; doch überragt ihn
Valsalva weitaus in der Kenntnis der häutigen und muskulösen Partien,
was nicht zum geringsten in seiner Hörtheorie zur Geltung gelangt.
Das Buch ist in zwei Hauptabschnitte geteilt, deren jeder aus drei
Kapiteln besteht, in einen anatomischen (continens auris descriptionem)6)
und in einen physiologischen (continens auris partium usus) 7). Schon
äußerlich hält also, wie man sieht, Valsalva zum ersten Male strenge
an der Dreiteilung des Ohres (äußeres, mittleres, inneres) in unserem
Sinne fest. Bei der Beschreibung des äußeren Ohres erwähnt er zum
ersten Male die kleinen Talgdrüsen (Glandulae Sebaceae) in der Haut
der Ohrmuschel und vergleicht sie mit analogen anderer Körperstellen,
z. B. der Nase8), ferner die präaurikulare Lymphdrüse, die er nach
ihrem Bau und der Beziehung zu ein- und austretenden Lymphgefäßen
von den Drüsenschläuchen der Parotis unterscheidet9).
Von den äußeren Ohrmuskeln beschreibt Valsalva außer den bereits
Valsalva. 233
bekannten den Musculus Anterior, den Musculus Tragi, den
M. Antitragi sowie jene Bündel, die den M. transversus auriculae zu-
sammensetzen10). Bedenkt man die Kleinheit und meist schwache Ent-
wicklung dieser Muskeln, die allen vorangegangenen Anatomen entgangen
waren, so muß man die Sorgfalt des Meisters bewundern, die sich
in diesen Entdeckungen kundgibt. Noch sei der Spina helicis (von ihm
Acutus Processus Cartilaginis Auriculae genannt)11) und des vorderen
Ohrbandes gedacht, die er ebenfalls als Erster beschrieb12).
In der nun folgenden exakten Schilderung des äußeren Gehör-
ganges13), von dem er sich Wachsabdrücke herstellte, sind die Inzi-
suren und Ohrenschmalzdrüsen noch besser dargestellt als bei Duvernev.
Beim Fötus und Neugeborenen findet er das innere Ende des äußeren
Gehörganges, dessen Wände bis zur nahezu vollständigen Berührung
einander genähert sind, und das Trommelfell mit einer dicken, weißlichen
Masse nach Art einer Pseudomembran bedeckt, die nach und nach ein-
trocknet und in kleinen Partikelchen mit dem Cerumen ausgestoßen
wird14).
Den Schluß des ersten Kapitels bildet die Anführung der Ar-
terien, Venen und Nerven des äußeren Ohres. Insbesondere erwähnt
er sehr ausführlich den Verlauf der Vena occipitalis 15) und spricht
die Vermutung aus, daß auch die Ohrmuschel und der Gehörg-ano-
Lymphgefäße besitzen10).
Ganz ausgezeichnet ist das zweite, dem mittleren Ohr gewidmete
Kapitel. Unter den neuen Forschungsergebnissen, die Valsalva hier
mitteilt, verdienen einige hervorgehoben zu werden. Das Trommelfell
besteht aus zwei Schichten, die namentlich beim Fötus leicht trennbar
sind, aus einer inneren, die er irrtümlicherweise von der Dura Mater ab-
leitet, und einer äußeren, die von der Gehörgangshaut stammt17).
Seine eingehenden Untersuchungen über das angebliche „foramen
Rivini" im Trommelfelle ergaben kein Resultat, und er ließ es dahin-
gestellt sein, ob eine in der Gegend des kleinen Hammerfortsatzes sondier-
bare Lücke ein Artefakt sei oder nicht18).
Die Trommelhöhle fand er in der Gegend der Schneckenspitze
am niedrigsten, dem ovalen Fenster gegenüber am höchsten; ihre Länge
und Breite hielt er von gleicher Dimension. Die pneumatischen Räume
des Warzenfortsatzes erklärt er im Hinblick auf die Bulla ossea bei
Tieren als einen Bestandteil der Trommelhöhle19).
Das Manubrium des Hammers stellt er sieh aus drei Fortsätzen
zusammengesetzt vor, aus einem kleineren (unser Proc. longus), aus einem
größeren (unser heutiges Manubrium) und aus einem kleinsten (unser
Proc. brevis). Dementsprechend beschreibt er drei Muskeln. Sein ..Mus-
culus Processus Majoris Mallei" ist identisch mit unserem Tensor tym-
234 Yalsalva.
pani. Unklar ist jedoch die Beschreibung seiner beiden anderen
„Hammermuskel", des „Musculus Processus Minoris" und des „Musculus
Processus Minimi" 20). Die von früheren Anatomen beschriebene zwischen
den beiden Steigbügelschenkeln ausgespannte Membran erklärt er für eine
inkonstante Schleimhautfalte gleich denjenigen, die man
nicht selten in der Trommelhöhle vorfindet21). Auffällig ist
seine irrige Ansicht, daß die Gehörknöchelchen kein Periost besäßen,
obwohl er an ihrer Oberfläche Blutgefäße nachweisen konnte22). Die von
ihm beschriebenen nicht konstanten Oefthungen am Dach der Trommel-
höhle und über dem Warzenfortsatze , durch welche Schädelhöhle und
Trommelhöhle in Verbindung stehen, sind wahrscheinlich den später von
Hyrtl geschilderten Dehiszenzen des Tegmen tympani gleich-
zustellen. Yalsalva war indes in dem Irrtum befangen, daß durch diese
Löcher „in quibusdam casibus praeternaturalibus'' Flüssigkeit aus der
Schädelhöhle gegen das Ohr abfließe („Fluida a Cranii cavitate in
Aurem")23).
Wahrhaft klassisch ist die Schilderung der Ohrtrompete, bei
deren Zergliederung wir seine Meisterhand bewundern. Sie wurde von
ihm nach Eustachio benannt und in ihrem knorpeligen, membranösen
unil knöchernen Teil auf das Genaueste untersucht. Er entdeckte auch
den Dilatator tubae (III. Fig. 14) 24) und wußte, daß der Tensor tympani
zum Teile an der knorpeligen Partie der Trompete inseriert. Die nach
der Tubenbeschreibung eingeschalteten Abschnitte über die Muskulatur
des Pharynx und der Uvula20), wobei die Musculi salpingostaphylini,
glossostaphylini , pharyngostaphylini, stylopharyngei , hyopharyngei u. a.
eingehend beschrieben werden, finden, soweit einige dieser Muskel zum
Gehörorgane in Beziehung stehen, ihre Erledigung im physiologischen Teile.
Was die Gefäß Versorgung der Trommelhöhle anbelangt, so be-
obachtete er, daß die Carotis durch einen Knochenkanal einen Zweig in
die Trommelhöhle entsendet und die Trommelhöhlenvene ihr Blut in die
Jugularis ergießt. Die Beteiligung des Gehörorgans an drei verschiedenen
Gefäßgebieten ist für ihn eine wichtige Stütze seiner Dreiteilung des
Ohres26).
Bei der Beschreibung des inneren Ohres übersieht Yalsalva
nicht die geringste Leistung seiner Vorgänger; viele Details sind genauer
und klarer dargestellt und durch gute Abbildungen erläutert. Er nimmt
zum ersten Male für das ganze innere Ohr den Namen Labyrinth in
Anspruch. Die knöchernen Bogengänge benennt er nach ihrer Länge
„Canalis semicircularis major, minor, minimus" und beschreibt ihre Am-
pullen und andere Details ziemlich richtig. Sie variieren in der Größe
bei verschiedenen Menschen, stehen aber bei ein und demselben Indivi-
duum stets in einem gewissen Längenverhältnisse zueinander und sind
Valsalva. 235
in beiden Ohren gleich groß und symmetrisch27). Das Spiralblatt der
Schnecke läßt Valsalva aus einem dichteren, leicht zerreiblichen Teil
bestehen, der sich der Spindel zunächst befindet und eine Mittelstellung
zwischen Haut und Knorpel einnimmt, ferner aus einem weichen, dünnen
membranösen Teile, den er „Zona" nennt. Wenn Valsalva in der Be-
schreibung der Schnecke die „Scala vestibuli" für die untere, die
„Scala tympani" für die obere ansieht, so erklärt sich dies aus dem
Umstände, daß er seine Lagebezeichnungen im Sinne der stark nach
unten geneigten Schneckenachse im Schädel auffaßte, während wir heute
das „oben" und „unten" relativ auf die Schnecke beziehen28). Irrtüm-
lich stellt er die Kommunikation zwischen beiden Treppen in Abrede z9),
hingegen ist die Annahme richtig, daß die Vorhofstreppe beträchtlich
länger ist als die Trommelhöhlentreppe.
Seine Vorstellung vom Nervenverlaufe im Labyrinthe ist ungefähr
folgende: Der Vestibulär nerv teilt sich in fünf Zweige, die er durch
fünf Löcher in den Vorhof entsendet, wo sich diese Zweige, miteinander
vereinigt, in eine sehr dünne Membran ausspannen30). Valsalva dürfte
somit Fragmente des Utriculus und der membranösen Ampullen („Mem-
brana Vestibuli") als eine Ausbreitung des Hörnerven angesehen haben.
Von dieser „ Vorhofsmembran " gehen, wie er weiter ausführt, die ein-
zelnen nervösen „Membranen" der Bogengänge aus, welche die Gestalt
von schmalen Bändchen oder kurzen Gürteln haben und von ihm „Zonae
Sonorae" genannt werden. Diese häutigen Bändchen (unsere häutigen
Bogengänge), deren Röhrenform er nicht erkannt hat, hält er als Nerven-
abkömmlinge für das eigentliche Sinnesorgan (Proprium sensorium); sie
sind ebenso lang, aber viel schmäler als die knöchernen Bogengänge, am
breitesten noch die „Zona sonora" des gemeinsamen Bogenganges31).
Der Schneckennerv geht nach seiner Anschauung durch sehr kleine,
der Zahl nach schwer bestimmbare Löcher in die Schnecke, wo er die
membranöse Scheidewand zusammensetzt, die Valsalva konform seiner
obigen Nomenklatur als „Zona Cochleae" bezeichnet32). Ob eine Ver-
bindung der „Membrana Vestibuli" mit der „Zona Cochleae" besteht,
konnte er trotz häufiger Untersuchung nicht ermitteln. Vom häutigen
Labyrinthe hat Valsalva somit nur eine vage Vorstellung und die auf
Tab. VIII. Fig. 8, 9, 10 abgebildete Ausbreitung des N. acusticus in den
Booreno-ängen und in der Schnecke kann wohl nur als schematische Dar-
o o o
Stellung seiner irrtümlichen Vorstellung gelten. Er stellt ferner eine
Periostauskleidung der Labyrinthräume in Abrede, da er außer den be-
schriebenen Membranen keine anderen aufzufinden vermochte33).
Wie aus dem Schlußabsatze des besprochenen Abschnittes hervor-
geht, war Valsalva der erste, der das Vorhandensein einer wässerigen
Flüssigkeit im Labyrinthe konstatierte. Er fand sie beim Fötus blutig
236 Valsalva.
tingiert (sanguinea tinctura), im späteren Alter wie klares Wasser („ut
aqua limpida videatur"). Ueber die Herkunft dieser Flüssigkeit ist er
jedoch im Unklaren; er möchte sie am ehesten als Ausscheidung der
\<>n ihm entdeckten Membranen auffassen34). Das Verdienst, die Be-
deutung der Labyrinthflüssigkeit in anatomischer und physiologischer Be-
ziehung richtig erfaßt zu haben, gebührt Cotugno, da Valsalva neben
der von ihm erwähnten Flüssigkeit auch noch die Anwesenheit von Luft
im Labyrinth als wesentlich für die Schallaufnahme hält.
Endlich sei noch bemerkt, daß er das Labyrinth bei Erwachsenen nicht
größer fand als bei Kindern und daß er die Vermutung aussprach, es dürften
neben Blutgefäßen auch Lymphbahnen im Labyrinth vorhanden sein35).
Der zweite Teil des „Tractatus de aure humana" behandelt die
Physiologie des Gehörorgans resp. im Galenischen Sinne den
Nutzen der einzelnen Teile des Ohres. Mit vollstem Recht kann man
Valsalva das Zeugnis ausstellen, daß er hierbei mit größter Umsicht
vorging, alle vagen Theorien vermied und kaum jene Kühnheit für sich
in Anspruch nimmt, wie sie z. B. Duverney und Schelhammer zu
eigen war. Valsalva war sich der beschränkten Kenntnisse seines
Zeitalters wohl bewußt und erwartete einen Fortschritt nur durch die
Mitarbeit der Physiker, die über der Beschäftigung mit dem Gesichts-
sinn die Lehre vom Schall zu sehr vernachlässigt hatten 36). Wie sehr
er den Theorien, die von den Zeitgenossen über den Schall aufgestellt
waren, mißtraute, geht schon daraus hervor, daß er immer nur von
„motus sonori" sprach, indem er unentschieden ließ, ob darunter Undula-
tionen, Vibrationen, tremulierende oder anders geartete Bewegungen zu
verstehen seien :;T).
Im vierten Kapitel des Werkes wird die Physiologie des äußeren
Ohres besprochen und der Nutzen des Baues der Ohrmuschel, des
Gehörgangs, der Ohrschmalzdrüsen etc. erklärt. Von Interesse ist
seine Bemerkung, daß die Inzisuren des Gehörganges zur Fortpflanzung
und Verstärkung des Schalles von Wichtigkeit seien und daß man deshalb
auch die Hörrohre mit derartigen Einschnitten konstruieren solle38).
Reichhaltiger ist das folgende Kapitel, das sich mit dem mittleren
Ohr beschäftigt. Wie Duverney, schreibt er dem Trommelfell
keine wichtige Rolle bei der Schallaufnahme zu, von der Tatsache aus-
gehend , daß auch bei Rupturen , die nach seiner Ansicht leicht heilen,
das Gehör fortbestehen könne*).
*) Wenn Valsalva bei Hunden mit einem Speculum das Trommelfell durch-
rissen und nach späterer Sektion nicht das geringste Zeichen einer Narbe gefunden
haben will, so ist diese Angabe mit entsprechender Reserve aufzunehmen, da sehr
zu beweifeln ist, ob ihm bei dem gewundenen Gehörgang des Hundes und ohne jede
Inspektion die experimentelle Ruptur auch gelungen ist.
Valsalva. 237
Die Flüssigkeit, die sich in der Trommelhöhle vorfindet, dient zur
Befeuchtuno- des Trommelfelles, damit es bei so vielen Bewegungen, die
es machen müsse, nicht austrockne.
Was die Schallfortpflanzung vom Trommelfell zum Labyrinth
anbelangt, so steht Valsalva auf dem richtigen Standpunkt, daß sie
durch die Kette der Gehörknöchelchen geschieht. Er betrachtet
diese als eine Reihe von Hebeln, die in demselben Moment, in dem das
Trommelfell in die Paukenhöhle getrieben werde, in Bewegung gesetzt
würden und durch die Fußplatte des Stapes den Schall zum Labyrinthe
fortpflanzen. Der Hammer sei ein zweiarmiger Hebel; der Hammergriff
bilde den einen Arm, den anderen der Hammerkopf; das Hypomochlion
liege zwischen beiden. Von dem Tonus der „Muskel des kleineren und
kleinsten Fortsatzes" (der Bünder) hänge die Festigkeit des Hammers
ab. Ebenso stellt auch der Amboß einen Hebel vor, mit dem Körper
als einem Arme, dem großen Schenkel als zweitem Arme und dem Hypo-
mochlion an der Stelle, wo der kurze Amboßfortsatz fixiert ist. Der
Arm des einen Hebels (Hammerkopf) steht mit dem des anderen (Amboß-
körper) in fester Verbindung, und in dem Momente, in dem der Hammer-
griff bewegt wird, wird auch der lange Amboßfortsatz und mit diesem
Stapes und Stapesplatte in Bewegung gesetzt39). Es entspricht dies
vollständig unserem beutigen Ideengang. Der Steig bügelmuskel
verhütet nach Valsalva bei allzu großer Erschütterung ein starkes
Eindrücken der Platte ins ovale Fenster40). Er ist ferner der Ansicht,
daß der Muskel bisweilen gleichzeitig mit der elastischen Kraft des
Trommelfells die Gehörknöchelchen in ihre Lage zurückbewegen könne.
Da der Muskel nur in schiefer Richtung die einwärtsgedrängte Stapes-
platte herauszieht, müsse er den ihm zunächst liegenden Teil derselben an
den Fensterrand andrängen, weshalb auch der entsprechende Teil des
Ringbandes, wie Valsalva beobachtet haben will, eine festere Struktur
besitzt.
Sehr ausführlich verbreitet sich Valsalva über die akustische
Funktion der Ohrtrompete, wobei er außer den gewöhnlichen An-
sichten von ihrem Nutzen (Entfernung von Eiter, Flüssigkeiten u. a. aus
der Trommelhöhle) folgende Theorie entwickelt. Es sei klar, daß das
Trommelfell sich umso leichter bewegen lasse, je weniger Luft dem An-
dringen der Membran Widerstand leiste und je rascher die Luft aus-
weiche. Der von ihm zuerst beschriebene Diktator tubae erweitere
die Eustachische Röhre während des Höraktes, damit die Luft, wenn
das Trommelfell nach einwärts getrieben wird, aus der Trommelhöhle
entweichen könne, und zwar vollziehe sich die Eröffnung der Tube
durch automatische Muskelaktion in demselben Maße, als die Einwärts-
wölbung des Trommelfells erfolge41). Damit bei den Atembewegungen
238 Valsalva.
während des Hörens keine Luft in die Paukenhöhle eindringe und die
Schallschwingungen störe, treten, wie sich Valsalva vorstellt, die Musculi
pharyngostaphylini und petrosalpingostaphylini in Aktion42).
Höchst interessant ist die Theorie, die Valsalva über die Funk-
tion des Labyrinthes aufstellt. Sie hat viele Aehnlichkeit mit der Du-
verneys, unterscheidet sich von dieser jedoch darin, daß er nicht wie
Duverney die Lamina Spiral, ossea, resp. die Bogengänge, sondern die
von ihm als letzte Nervenausbreitung aufgefaßten .,Zonae sonorae" als
Apperzeptionsorgan für den Schall ansieht. Seine Theorie zeigt also in-
sofern einen Fortschritt, als die weichen Teile des Labyrinths für das
Essentielle angesehen werden, wodurch sie sich der modernen Auffassung
einigermassen nähert. Freilich steht Valsalva trotz der von ihm ge-
fundenen Lymphe in der Labyrinthhöhle noch auf dem Standpunkte, daß
im Labyrinthe Luft vorhanden sei, die durch ihre Erschütterungen die
Zonae sonorae errege43). Diese bestehen aus kleinen Streifen von bald
größerer, bald geringerer Länge und Breite, die er mit den verschieden
langen Saiten eines Musikinstruments vergleicht44). Die Verschiedenheit
der Zonae sonorae-Streifen in Länge und Breite bringt er in Beziehung
zur Perzeption verschieden hoher Töne45), eine Ansicht, die sich der
Helmholtzschen Theorie nähert. Valsalva kennt vier Zonen, von
denen drei den Bogengängen, eine der Schnecke angehören; der Schnecke
wird keine andere Bedeutung zugemessen als den Kanälen. Das Laby-
rinth besitzt deshalb bei Kindern die nämliche Größe wie bei Er-
wachsenen . weil sonst die Töne nicht in gleicher Weise empfunden
würden : ferner sind die Teile beider Gehörorgane stets gleich entwickelt,
weil andernfalls eine Ungleichheit in der Tonwahrnehmung stattfände.
Endlich erklärt sich aus der großen Mannigfaltigkeit im Bau des Laby-
rinths die große Verschiedenheit in der musikalischen Veranlagung der
einzelnen Individuen.
Obwohl das Verdienst Valsalvas um die praktische Erwei-
terung der Otologie nicht auf eine Stufe mit seinen anatomischen
Leistungen gestellt werden kann, so geben doch die wenigen Beobach-
tungen über pathologische Prozesse des Ohres und die therapeutischen
Versuche, die sein epochemachendes Werk an einigen Stellen neben
Anatomie und Physiologie enthält, deutliches Zeugnis von der reichen
Erfahrung dieses Forschers.
Valsalva war der Meinung, daß die durch Ceruminalpfröpfe be-
dingte Taubheit sehr häufig sei, aber selten geheilt werde, weil
die Aerzte die Ursache nicht erkennen40). Bei der pathologisch-ana-
tomischen Untersuchung eines Gehörorgans von einem wahrscheinlich
an chronischer Mittelohreiterung leidenden Individuum fand er das
Trommelfell mit einer aus Eiter bestehenden Membran bedeckt, nach
Valsalva. 239
deren Entfernung er das sogenannte Rivinisehe Loch (in der Gegend
des kurzen Hammerfortsatzes) sondieren konnte47). Bei einer Trommel-
fellinspektion, die Valsalva als erster zur Untersuchung
des Trommelfells am Lebenden vornahm, beobachtete er, daß
das Trommelfell im oberen Abschnitte von Eiter triefe und merkte auch,
daß Eiter und Luft in der Gegend des Foramen Rivini entwich, sobald
der Patient bei geschlossenem Munde und zugehaltener Nase kräftig aus-
atmete (Valsalvascher Versuch)48). Wie gewissenhaft und genau Val-
salva pathologische Sektionen vornahm, ergibt sich aus der interessanten
Beobachtung an dem Ohre eines Tauben, an dem er eine durch Ossi-
fikation des Ringbandes erzeugte Ankylose der Stapesplatte
entdeckte49). Falsch gedeutet aber wurden von ihm zwei Sektionsbefunde,
durch die er eine stete Kommunikation der Schädel- mit der Trommel-
höhle beweisen wollte50). Von Interesse ist ferner ein Fall, bei dem
Valsalva nebst einem großen Trommeldefekt feststellen konnte, daß das
Amboßsteigbügelgelenk gelöst sei und von dem Trommelfellreste zum
Stapesköpfchen eine Membran hinziehe. Diese Membran faßte er irrtüm-
lich als regeneriertes Trommelfell auf, während es sich wahrscheinlich
um eine adhärente Narbe gehandelt hat. Bewundernswert bleibt es
immerhin, daß Valsalva diese feinen Details bei der noch primitiven
Untersuchungsmethode erkennen konnte51).
Was die später in die Otiatrie unter dem Namen „Valsalva'scher
Versuch" eingebürgerte Methode anbelangt, so haben wir gesehen, daß
sich bereits bei den Arabern (Mesue), Latinobarbaren (Saliceto, Bruno,
Arnaldo de Villanova, Fabricius Hildanus u.a.*) Andeutungen
über ihre praktische Anwendung zur Entfernung von Fremdkörpern,
gegen Schwerhörigkeit u. s. w. fanden. Die Stelle, an der Valsalva
seinen Versuch beschreibt und empfiehlt, lautet:
Nam si quis in Tympano, aut in vicinia Ulcus, aut tale quid gerens, unde
ichor in Meatum Auditorium assidue distillet: si, inquarn. iste. clauso Ore. et Naribus,
aerem intvo comprimere conetur; inde sanies in Meatum Auditorium ita copiose
solet eodem actu protrudi; ut ad istiusmodi Ulceris detersionem nulluni promptras,
aut utilius Aegris remedium commendare consuevevim ; quam mediocriter frequentem
talis conatus iterationein. 1. c. Cap. 5, 8. p. 68.
Valsalva war jedoch der irrigen Ansicht, daß der in der Trommelhöhle
angesammelte Eiter durch das sogenannte Foramen Rivini bei seinem
Versuche in den äußeren Gehörgang gepreßt werden könne.
*) Vergl. feiner: Vesal, De corp. huni. fabr. Lib. t, Cap. 12. — Kolfink,
Diss. Anat. Lib. IV. Cap, 10 (der diesen Versuch empfahl, um eine Verrenkung der
Gehörknöchelchen einzurichten). — Parr, Lib. XVI, Cap. 23. — Diemerbroek,
Anat. Lib. III, Cap. 18 u. a.
240
Yalsalva.
Bei einem anderen therapeutischen Eingriff, dessen sich Yalsalva
wahrscheinlich als einer der Ersten bediente, gelang ihm der sichere
experimentelle Nachweis der Kommunikation der Warzenfortsatzzellen
mit der Trommelhöhle. Als er nämlich durch eine kariöse Fistel am
Warzenfortsatze Einspritzungen vornahm, sah er die injizierte Flüssigkeit
in den Rachen abfließen52). Endlich sei noch hervorgehoben, daß A'al-
salva die Bedeutung der Eustachischen Röhre für die Hörfähigkeit
erkannte, indem er auf Grund klinischer und anatomischer Erfahrungen
feststellte, daß die Ursache der Taubheit oft lediglich in der Ver-
stopfung der Ohrtrompete liege. In einem Falle berichtet er von
einem Nasenpolypen, der sich Ins zur Uvula erstreckte und die Rachen-
mündung der Ohrtrompete von Tag zu Tag mehr verschloß, wodurch im
gleichen Maße das Gehör progressiv abnahm55). In einem zweiten Falle
befand sich ein Rachengeschwür in der Nähe der Tubenmündung, deren
Verschluß durch eine YVieke sofortige Schwerhörigkeit hervorrief54).
Auch bei Läsionen von Rachenmuskeln beobachtete er Verschlechterung
des Gehörs55).
Obwohl die praktische Ohrenheilkunde durch Yalsalva nicht jene
Förderung erfahren hat, wie nach seinen gründlichen anatomischen und
pathologischen Forschungen zu erwarten stand, so finden wir bei ihm
doch unverkennbar den Beginn einer rationellen Therapie, die dem
Fortschritte der Otologie neue Perspektiven eröffnete.
!) Viri celeberrimi Antonii Mariae Valsalvae Opera, h. e. tractatus de aure
humana editione hac quarta accuratissime descriptus . tabulisque archetypis ex-
ornatus etc. Omnia recensuit et auctoris vitam , suasque ad tractatum et disserta-
tiones epistolas addidit duodeviginti Joannes Baptista Morgagnus. Yenetiis 1740.
2) 1. c. Multa ego audivi, nxulta legi de Vesalio, de Ruyschio, de aliis qui
supra quam credi possit, Anatomen adamarunt. Incredibilia , cum essent juvenes,
ausos illos, et perpessos, non nego. Hoc nego aut unquam, aut certe cum viri essent
facti, nactique jani magnam in Anatomicis rebus et Medicis ac Chirurgicis scientiam
auctoritatemque pertulisse.
s) Alta amplaque fronte, nigris oculis ac vividis, decenti naso, ore parvo. labris
rubentibus, caetera colore inter candidum et rubicundum ; sereno vultu, sed non sine
gravitate; ad haec. congruentibus membris omnibus. statura non magna, sed figura
venusta, satis firmae ad laborem ferendum vires: stabiles manus, eaedemque, cum
opus esset, promptae atque expeditae; corpus agile; nisi quod extremis sex septemve
annis praegravante pinguedine tardabatur.
4) Qua in re praestanda tot aures aperui ut si enumerarem, jactationi potius
sitnile, quam veritati videri posset. 1. c. Einleitung, p. 4.
5j 1. c. ibid. Non ut eo usque mos fuerat, in varia et complura segmina Aurem
dividendo; sed integram totam quanta est relinquendo. nulla ferme vel minima parte
a proprio situ dimota ; quae quidem praeparatio quantum laboris, quantum temporis ;
praecipue vero quantum studii et exercitationis postulet; nemo, nisi experiatur, intelliget.
fi) 1. c. Cap. 1-3, p. 9-52.
7i 1. c. Cap. 4—6, p. 53—88.
Valsalva. 241
8) 1. c. Cap. 1, 3, p. 10.
9) 1. c. Cap. 1. 5, p. 11.
10j 1. c. Cap. 1, 6 u. 7. p. 11—13.
") 1. c Cap. 1, 4. p. 11.
12) I. c. Cap. 1, 8, p. 13.
,3) 1. c. Cap. 1, 9, 12, p. 13—15.
u) 1. c. Cap. 1, 13, p. 15.
13) 1. c. Cap. 1. 14, p. 16.
16) 1. c. Cap. 1, 16 p. 17.
17) Ex duplici, diversaque expansione membranacea, Tympani membrana coni-
ponitur (quae Compositio in humano foetu patescit). ... 1. c. Cap. 2, 1, p. 18.
1S) 1. c. Cap. 2, 2, p. 18—20.
19) 1. c. Cap. 2. 3, p. 20.
20) 1. c. Cap. 2, 5—7, p. 21—23.
21) Ita membranaceae expansiones, quae irregulariter, interdum solent protendi
per, Tympani Cavitateni; ad Stapedem ipsum forfcuito extenduntur, hujusque ali-
quando intermedium spatium; quod saepius quidem, ut indicabam, apertum est;
fortuito pariter; non certa, aut peculiaiiter notabili lege occludunt. 1. c. Cap. 2,
10, p. 25.
--) 1. c. Cap. 2. 12, p. 25.
23) 1. c. Cap. 2, 14, p. 27—28.
24) 1. c. Cap. 2, 16—18, p. 30— 32. Musculum enim Tuba Eustachiana sortita
est. a quo, ubi opus sit, eadem potest dilatari . . . nam si Musculus iste leviter dioitis
trahatur; tunc Nasi Interna Foramina, Tubaque Eustachiana dilatantur. Ibid.
Cap. 2, 18.
25) 1. c. Cap. 2, 19—21, p. 30—37.
26) 1. c. Cap. 2, 22, p. 38.
27) 1. c. Cap. 3, 4—7, p. 41—44.
28) Scala tympani superiorem situm obtinuit ; Scala autem Vestibuli inferiorem :
quod attendatur, velim : nam Recentiores Anatomici banc Superiorem; illam vero
Scalam Inferiorem perperam vocant ; ex hoc facile decepti, quod forte Labyrinthum
non in naturali sede; sed a reliqua Aure sejunctum consideraverint. 1. c. Cap. 3.
8, p. 45.
29) Ope cujusdam Septi in duos Canales ita dividitur: ut Canalis alter cum
altero nullo pacto communicet. 1. c. ibid.
30) Indicata ergo Mollis Nervi Pars (Vestibularnerv) in quinque surculos divi-
ditur, et ipsos per ea quinque Foramina intra Vestibulum mittit ; in quod statim ac
ingressi sunt, laxati in tenuissimam quandam membranam solent uniri.
Quae quidem membrana modo in Vestibuli medio suspenditur. 1. c. Cap. 3, 11, p. 47.
:>>1) Quinque Nervei Surculi in Vestibulo in Membranam dilatati, peculiari in-
cessu membranaceo ulterius progrediuntur. Etenim a Membrana Vestibuli quaedam
aliae Membranae recedunt, quarum singulae diversum Canalium Semicircularium
Orificium ingrediuntur; ubi vero Membrana per unum Canalis Orificium inirressa,
Membranae per alterum ejusdem Canalis Orificium intranti. percurrendo occurrit:
unam continuatam Membranam ambae componunt. Tales cum strictioris taeniolae
sive parvae zonae figuram habeant; sintque Motibus Sonoris excipiendis, tanquam
Proprium Sensorium, destinatae ; idcirco a nie Zonae Sonorae nuncupantur. 1. c. Cap. 3.
12, p. 47.
82) Haec vero (Schneckennerv) Sinuositatem, versus Cochleae centrum excavatam,
manifesto quidem ingreditur . . . Vidique demum minima quaedam Foramina, in
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 16
242 Valsalva.
certum nurnerum difficile cogenda, per quae Nerveae Fibrillae Cochleam subeunt.
Intra hanc vero eaedem probabiliter in Membranarn expansae . Partera illius septi
Membranaceam componunt . . . . quam ut a Canalium Seinicircularium Zonis dis-
criminem ; cum quibus videlicet multum figura ; substantia vero penitus convenitv
Zonam Cocbleae appellabo. 1. c. Cap. 3, 14, p. 49.
33) 1. c. Cap. 3, 15, p. 50.
34) 1. c. Cap. 3, 17, p. 51.
3T>) 1. o. Cap. 3, 15, 16.
36) 1. c. Cap. 6. 10, p. 87.
37) 1. c. Cap. 4, 2, p. 54.
38) Geminiano Rondelle» verdankt Valsalva diese Bemerkung. 1. c
Cap. 4, 5, p. 56.
39) 1. c. Cap. 5, 2. 01—62.
40) Videtur enim Musculus ille esse datus, ne unquam vi majoris alieujus motus
ita alte Stapedis Basis per Fenestram ascendat, ut circumligans membrana rumpatur.
1. c. Cap. 5, 3. p. 62.
41) ... quotiescumque audiendum erit, statim Tuba ineipiet magis aperiri.
Porro aere sie egredi statim ineipiente , jam Membrana Tympani ab eodem Sonoro
Motu facilius, atque amplius retropulsa Mallei Manubrium ulterius retropellet; hoc
Musculum Processus Majoris Mallei magis relaxabit; Musculus vero iste indicatum
Cartilagineum Tubae latus magis remittet; ideoque Novus Tubae Musculus idem
magis extrorsum trahendo , Tubam successive magis aperiet; et sie tanto majorem
aeris quantitatem dimitti, sinet ; quanto repulsio Membranae tympani successive major
evaserit. 1. c. Cap. 5, 11. p. 73.
42) 1. c. Cap. 5, 12, p. 74.
4 ') Iiaque Motus Sonori per impulsam Stapedis Basim ae'ri, qui in Vestibulo,.
et reliquo Labyrintbo est, communicati, intra hunc Impressionem Sonoram, in aptam
quidem Partem, facere debent. Apta vero Pars nulla alia in Labyrintbo oecurrit,
praeterquam Membrana in Vestibulo existens, et quattuor Zonae; tres scilicet
Canalium Semicircularium, et una Cochleae. 1. c. Cap. 6, 2, p. 77.
44) Observatum esse in pluribus Musicis Instrumentis ; in quibus variae chordae,
ut fieri solet, ad varios tonos disponuntur; si super illis fistula , aut certe ipso ore
variis tonis successive increpemus ; licet cujusque toni motibus chordae omnes semper
attingantur, et percellantur uteunque, et minus sensibiliter ; certam tarnen chordam
a certo tono longe majorem impressionem suseipere quam reliquas. 1. c. Cap. Q,
4, p. 79.
45) 1. c. Cap. 6, 4, p. 79—80.
4G) Quae Surditatis species, etsi frequenter sit obvia; attamen raro, quia non
cognita, curatur : quamvis diligenti manuum auxilio desiderata possit restitui sanitas.
1. c. Cap. 1, 12, p. 15.
47) 1. c. Cap. 2, 2. p. 19.
48) 1. c. Cap. 2, 2, p. 20.
49) Olim namque in cujusdam Surdi Cadavere surditatis causam in eo sitam
inveni, nempe quod indicata Membrana in substantiam osseani indurata, unum con-
tinuatum os constituebat cum Basi Stapedis, et margine Fenestrae Ovalis; ideoque
efficiebat , ne amplius sursum , deorsumve eadem Basis moveri posset. 1. c. Cap. 2y
10. p. 25.
50) 1. c. Cap. 2, 14, p. 29.
B1) 1. c. Cap. 5, 5, p. 64.
'-'» 1. c. Cap. 5, 9. p. 71.
Morgagni. 243
5ri) Quo enim hie Polypus magis in dies crescebat, et eonsequenter quo magis
ad Orificia Tubarum penitus claudenda accedebat; eo magis in dies Auditus Aegro
minuebatur sie, ut tandem omnino surdus evaserit. 1. c. Cap. 5, 10, p. 72.
54) ibid.
55) 1. c. Cap. .5, 12. p. 75.
Gioyaimi Battista Morgagni.
Große Bedeutung für die Entwicklung und Konsolidierung der Oto-
logie erlangte ein in der medizinischen Literatur fast einzig dastehendes
Werk des 18. Jahrhunderts, das auf gründlichem Wissen, reicher Er-
fahrung, selbständiger Forschung und gewissenhafter Nachprüfung basiert.
Es sind dies die als Anhang zu der Herausgabe des Valsalvaschen Trak-
tats 1740 in Venedig erschienenen „Epistolae anatomicae" Morgagnis.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Verdienste Morgagnis um
die gesamte Medizin zu schildern, die er durch Begründung der patho-
logischen Anatomie zu einer rationellen, exakten Wissenschaft umschuf.
Wir müssen uns im folgenden darauf beschränken, den otologischen
Inhalt dieser Briefe und deren Einfluß auf die folgende Epoche der Otiatrie
in kurzen Umrissen zu skizzieren.
Abgesehen von den in diesen Briefen enthaltenen lehrreichen patho-
logisch-anatomischen Befunden im Gehörorgane, gebührt Morgagni für
die Geschichtsforschung das große Verdienst, frei von jedem Parteigeiste
eine kritische Uebersicht der Anschauungen und Beobachtungen aller
vorangehenden Forscher geliefert zu haben, die sich auf eine geradezu
stupende Belesenheit gründet und trotz ihrer Reichhaltigkeit nirgends
Sichtung und Prüfung vermissen läßt. Die Briefe Morgagnis werden
stets als die reichhaltigste und verläßlichste Quelle für den Mediko-
historiker angesehen werden müssen. Wie hoch Morgagni den Wert der
zu jener Zeit vernachlässigten historischen Studien schätzte, zeigt der
folgende in seiner Vorrede enthaltene lapidare Satz: „Ex his enim
patebit, quot res quae vulgo, ob historiae Anatomes ignorationem, repertae
a posterioribus credebantur, quanto antea propositae fuerint; quot autem
aut fortuitae, aut inconstantes, aut falsae, quae certae, perpetuae, veris-
simae existimabantur."
Uebrigens zeigen viele Stellen dieser Briefe, daß Morgagni nicht
immer den Anschauungen Valsalvas unbedingt Folge leistet. Er diver-
giert im Gegenteil in manchen Punkten von seinem Lehrer und Freund,
da ihm die Wahrheit und Ueberzeugung stets höher stand als persönliche
Parteinahme. Nur diese Eigenschaft läßt ihn im Streite zwischen Val-
salva und Vieussens zum gerechten Richter werden und ein Urteil
fällen, das auch der Nachwelt gerecht erscheint, „Ego de his omnibus
quid mihi observatum sit, ea fide proponam, ut Valsalvain quidem mihi
amicum esse, intelligas ; sed veritatem multo magis." Ep. XII, 50.
2 | | Morgagni.
Die „Epistolae" Morgagnis zeichnen sich durch eine wahr-
haft klassische, anmutige Diktion aus. Sie wirken noch heute durch
die zahlreichen, praktisch wichtigen Einstreuungen anregend und be-
lehrend. Die Briefform bewahrt das Werk vor jener die zeitgenössischen
Arbeiten charakterisierenden, doktrinären Schwerfälligkeit, die bei dem
überreichen Inhalt der Briefe Morgagnis unvermeidlich geworden wäre.
Giovanni Battista Morgagni, einer angesehenen Familie ent-
stammend, wurde am 25. Februar 1682 zu Forli geboren. Er erhielt
eine ausgezeichnete Erziehung und machte besonders in den Sprachen
und schönen Wissenschaften rasche Fortschritte. Als Schüler M a 1-
pighis, Albertinis und Valsalvas widmete er sich mit besonderem
Eifer der Anatomie, betrieb aber gleichzeitig auch Medizin, Philosophie
und Philologie, für welch letztere er ebenso wie für Geschichte und
Archäologie große Vorliebe besaß. Daneben fand er noch Zeit, sich
eingehend mit Mechanik, Geometrie, Astronomie und Botanik zu befassen,
zeichnete sich durch gründliche Kenntnis der klassischen Sprachen aus
und erlangte so den Ruf eines Polyhistors, wie ihn unter den Deutschen
nur Haller besaß. Schon im 19. Lebensjahre stand Morgagni seinem
Lehrer Valsalva, mit dem ihn später innigste Freundschaft verband,
als Prosektor zur Seite. Bei Valsalvas Berufung nach Parma er-
hielt er dessen Stelle als Demonstrator der Anatomie zu Bologna. Als
solcher veröffentlichte er seine berühmte Schrift „Adversaria anatomica".
Nach Verzicht auf diese Stelle betrieb er mehrere Jahre in Venedig und
Padua chemische, pharmazeutische und zoologische Studien und ließ sich
in seiner Vaterstadt als Praktiker nieder. Von hier wurde er 1712 auf
den Lehrstuhl der Anatomie zu Padua berufen, wo er 60 Jahre mit
dem größten Erfolge lehrte und nebst anderen hervorragenden Anatomen
auch Cotugno, Scarpa, Caldani u. a. zu seinen Schülern zählte. Sein
Ruf als Anatom und Patholog drang durch ganz Europa und aus allen
Weltgegenden strömten Schüler nach Padua, um sich unter seiner Leitung
auszubilden. „Plures viatores (sagt Tissot in seiner Biographie Mor-
gagnis) anglos praesertim novi qui de Italia reduces, laeti et grati
memores narrabant quum humaniter illos exceperat et quantum ex illius
colloquiis doctis, varijs, jucundis profecerant." Morgagni starb am
6. Dezember 1771.
Von seinen zahlreichen Werken kommen für die Otologie einige
der „Epistolae anatomicae" und das berühmte „De sedibus et causis
morborum" in Betracht. Außerdem gebührt ihm bei den Tafeln des
Valsalvaschen Traktats die Ehre der Mitarbeiterschaft. Keiner war
daher so geeignet, den Traktat Valsalvas zu kommentieren wie Mor-
gagni. Von den 20 Briefen beziehen sich der III., IV., V., VI., VII.,
XII. und XIII. auf das Gehörorgan1). Bescheidenerweise läßt Morgagni
Tafel XIV
IOANNF.S BÄPTtöTA MORGAGj^Sj
nus Forolivii die n Fcbrudrii anno iCr->.
in Patavino Gymnaslo p PFimartäSed
•Vniiioiiuti adhiic docefoal anno 176h
JOANN. BAPT. MORGAGNI
Morgagni. 245
die viel umfangreicheren „Epistolae" als Kommentar zu Valsalvas
„Tractatus de aure humana" erscheinen: in der Tat jedoch stellen sie
sich als selbständige Erweiterung der Forschungen Valsalvas dar.
Jeder dieser Briefe beginnt mit einer reichhaltigen historischen
Einleitung, welche die Untersuchungen aller nur irgend wichtigen Vor-
gänger berücksichtigt; darauf folgt die berichtigende Angabe der Val-
salvaschen Lehren und zum Schlüsse die beistimmende oder abweichende
Meinung des Autors selbst. An der Spitze jedes Briefes wird auf die
entsprechenden Kapitel des „Tractatus de aure humana" verwiesen.
Inhalt der Briefe: Der III. Brief handelt über die Struktur der
Drüsen und speziell über die von Valsalva beschriebenen Ceruminal-
drüsen.
Der IV. Brief bespricht die Ohrmuschel und den äußeren Gehörgang.
Der V. Brief das Trommelfell und die Trommelhöhle.
Der VI. Brief die Gehörknöchelchen und deren Muskeln.
Der VII. Brief die fenestra ovalis und rotunda, die Tuba Eustachii,
die Gefäße und Nerven der Trommelhöhle.
Der XII. Brief das Labyrinth.
Der XIII. Brief: Den Nutzen der Teile des Gehörorgans, haupt-
sächlich aber pathologische und therapeutische Fragen.
Aus dem reichen und für die damalige Zeit erschöpfenden Inhalt
dieser sieben Episteln sei in Kürze folgendes angeführt:
Bemerkenswert ist im vierten Briefe, daß Morgagni die da-
mals noch angezweifelten äußeren Ohrmuskeln aufs genaueste be-
schreibt und für die bisweilen vorkommende Fähigkeit, die Ohrmuschel
zu bewegen, zwei Zeitgenossen, Muretus und Mery, anführt. Er fand
den vorderen Muskel aus zwei Bündeln bestehend, den Muse, helicis major
in sehr rudimentärer Form. Die nach Santorini genannten, aber von
Valsalva und Duverney, ja schon von Casserio angedeuteten In-
zisuren des knorpeligen Gehörgangs seien nicht durch Muskeln,
wie manche angeben, sondern durch Ligamente überbrückt'-').
Im fünften Brief schreibt er im Gegensatz zu den anderen Au-
toren dem Trommelfell nur zwei Schichten zu, deren äußere von der
Haut des äußeren Gehörganges, deren innere von dem Periost der Pauken-
höhle abstamme. Die Pseudomembran beim Neugebornen (macerierte
Epiderniislage) hält er für ein Produkt der Talgdrüsen im Gehörgange.
Mit Entschiedenheit spricht er sich auf Grund seiner experimentellen
Untersuchungen gegen die Annahme des foramen Rivini aus. Die Zellen
des Warzenfortsatzes fand er im Gegensatz zu Cassebohm bei Er-
wachsenen weiter als bei Kindern und von einer Membran ausgekleidet,
die sich ähnlich wie die Schleimhaut der Stirn und Kieferhöhlen verhält3).
Besonders reichhaltig ist der sechste Brief. Die Ceruminal-
246
drüseu reichen nach Morgagni bis zur Mitte des äußeren Gehörganges.
Ausführlich ergeht er sich über den Bau der Gehörknöchelchen. Hier
teilt er Behelfe mit, um die der rechten von denen der linken Seite zu
unterscheiden. Wie exakt Morgagni die anatomischen Details schil-
dert, erhellt aus seiner Beschreibung des Stapes. Die Schenkel des
Steigbügels bilden eher einen Bogen (arcum) als ein Dreieck (triangulum) ;
doch seien beide Schenkel nicht gleich gekrümmt, da der hintere beinahe
in gerader Linie verlaufe. Der krumme Schenkel sei nicht nur länger,
sondern auch dicker. Den Hals und das Köpfchen fand er nach vorne
geneigt, und zwar manchmal so stark, daß es den Anschein erweckte,
als ob die Krümmung des hinteren Schenkels in den Hals und das Köpf-
chen übergehe. Er suchte ferner den Nachweis zu erbringen, daß
Aranzi das Linsenknöchelchen bereits gekannt haben müsse, da er von
einem „tuberculum" spricht, das an den Amboßschenkel „per symphysin
ac synchondrosimu angewachsen sei. Im Gegensatze zu seinem Lehrer
Valsalva vertritt er die Anschauung, daß die Gehörknöchelchen beim
Neugebornen nicht ganz, sondern nur annähernd denen der Erwachsenen
an Größe gleichkommen (fere aequare). Ebenso sah er sich gezwungen,
Valsalva in der Frage des Periosts der Gehörknöchelchen zu wider-
sprechen, da es ihm leicht gelang, mit einer Nadelspitze das Periost von
den Knöchelchen abzustreifen und an geeigneten Objekten auch Blut-
gefäße ohne jede Präparation zu beobachten. Er leitete das Periost von
einer Membran her, die, wie er sagt, die Trommelhöhlenwände bedecke 4).
Am Tensor tymp. sah er im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger nur
eine Sehne "').
Im siebenten Briefe hebt er hervor, daß bereits Colombo die
Lage des Stapes in einer vertieften Nische der inneren Trommel-
höhlenwand (unsere pelvis ovalis) beschrieben hat. Die Trommelhöhle
hält er für eine Zelle (ex majoribus cellis) des Schläfebeins. Auffallender-
weise bestätigt er die von Valsalva vermeintlich entdeckte Kommuni-
kation der Trommelhöhle mit der Schädelhöhle (Hyrtls Dehiscentiae
tegm. tymp.). Obzwar ..membranulae" über die Löcher, welche die Ver-
bindung herstellen, ausgespannt seien, wären diese doch von solcher
Feinheit, daß sie schwer „humoris ponderi" und Aehnlichem auf die Dauer
Widerstand leisten könnten. So gelange beispielsweise bei einer Schädel-
erschütterung mit Blutung in den Hirnhäuten Blut durch die genannten
Löcher leicht in die Trommelhöhle.
Vorzüglich ist die Beschreibung der Ohrtrompete und ihrer Mus-
kulatur, an die sich einige therapeutische und pathologische Erwägungen
anschließen.
In der zwölften Epistola beschreibt Morgagni ausführlich und
klar den Recessus sphaericus und ellipticus (von ihm Cavitas
Morgagni. 247
Hemisphaerica und Semiovalis genannt) und die knöcherne Leiste, die
beide scheidet. Er kennt den Anfangsteil des Aquaeductus vestibuli, den
er als „Cavitas sulciformis" auffaßt, doch ist ihm sein Verlauf im Knochen
und seine Endigung unbekannt ü). Die ritzförmige Furche an der inneren,
oberen Wand des Vestibulum, die zur Vorhofsöffnung des Aquaeductus
vestibuli führt und von Morgagni eingehend geschildert wird, hat später
den Namen Sulcus Morgagni erhalten. In der Bezeichnung der Bogen-
gänge hält er sich an die von Valsalva auf Grund exakter Messungen
angenommene Einteilung nach ihrer Länge. Auf einem Bilde sämt-
liche Mündungen der Bogengänge darstellen zu wollen, erklärt er für
unmöglich. Die Schnecke kennt er in allen ihren feinen Einzelheiten
und gibt an, wie man die linke von der rechten unterscheiden könne;
doch bezweifelt er, daß die beiden Skalen an der Spitze kommunizieren 7).
Aus den Worten „etiam limbum, et sulcos duos non multo secus quam
in Ovali Fenestra agnoviu geht seine Kenntnis vom Falze des Schnecken-
fensters hervor. Die Maculae cribrosae untersuchte er mit peinlichster
Genauigkeit und fand, daß sie sich aus feinen, netzartig gruppierten
Knochenfäden zusammensetzen, die eine große Menge kleiner Löcher
bilden.
Auch die Löchelchen, die den Verzweigungen des Acusticus
zum Durchtritte dienen, sind in diesem Briefe vielfach beschrieben, jedoch
noch nicht in der Klarheit und Uebersichtlichkeit wie bei Scarpa und
den späteren Anatomen. Die Periostauskleidung des knöchernen
Labyrinthes wird von ihm bestätigt, obwohl Valsalva sie negiert
hatte. Ebenso wendet er sich gegen die Valsalvaschen Zonae sonorae
des Labyrinthes und nimmt an ihrer Stelle durchsichtige, runde, weiß-
liche und nervenähnliche Fäden in den Bogengängen und der Vorhofs-
treppe an, die, wie Scarpa später fand, unseren membranösen Bogen-
gängen entsprechen8). Ebenso wie Valsalva beobachtete auch er bei
seinen Sektionen die Labyrinthflüssigkeit, ohne jedoch ihre Bedeutung zu
ahnen, die erst sein großer Schüler Cotugno erfaßte.
Die Labyrinthmündung des Aquaeductus Cochleae kannte Morgagni
genau; da es ihm aber nicht gelang, den Gang zu verfolgen und das
Eindringen von Blutgefäßen und Nerven in ihn nachzuweisen („truncuin,
aut sanguiferum aut nerveum, ullum"), so hielt er ihn für einen Blindgang.
Der dreizehnte Brief enthält unter anderem die otophysiologischen
Anschauungen Morgagnis, die sich in der großen Mehrzahl fast nur
in den Bahnen älterer Theorien bewegen. An einem Hunde, dem sein
Lehrer Valsalva beiderseits das Trommelfell durchbohrte, beobachtete
Morgagni, daß das Gehörorgan in den ersten 50 Tagen nach dem Ver-
suche normal funktionierte, daß aber später der Hund über die Richtung,
jius der man ihn anrief, nicht orientiert schien. Diese Erscheinung ver-
Morgagni.
schwand nach einem Monate vollkommen. Bei der Sektion fand man an
einem Ohre bloß einen kleinen Defekt des Hammergriffs, am anderen das
Trommelfell rot verfärbt, abgeflacht, an der Innenfläche Teilchen des-
Hammergriffs anhaftend, dieser selbst beinahe ganz vom Hammerhals
abgebrochen.
Die Funktion des „recessus he m i sphaericu s" besteht nach
Morgagni darin, daß er die Schallstrahlen, die an der Mündung der
Vorhofstreppe vorübergleiten, sammelt, verstärkt und auf dieselbe Weise,
wie sie die äußere Ohrmuschel in den Gehörgang wirft, hier in die
nächste Mündung der Treppe leitet9). Die „Maculae"', die er nicht kon-
stant auffand, seien zum Hören wohl nicht notwendig, doch dürften In-
dividuen, bei denen sie prägnanter ausgebildet sind, mit einem besseren
Gehör begabt sein. Ebenso hypothetisch ist seine Ansicht über die
„Membrana in vestibulo suspensa", die zur Aufnahme oder zur Ab-
dämpfung des Schalles diene (..ad hos [nämlich sonos] excipiendos, aut,
si mavis, in eo transitu nonnihil infringendos moderandosque" ).
Schon diese Skizze der ..Epistolae anatomicae" zeigt, welche Summe
von Anregung für weitere Forschungen das Werk Morgagnis enthält.
Wie befruchtend sein Beispiel auf die folgende Generation wirkte, be-
weisen die epochalen Arbeiten seiner Schüler Cotugno und Scarpa,
welche die Ohranatomie mit unvergänglichen Entdeckungen bereicherten.
Von noch größerem Interesse für die Otologie sind die die Pathologie
des Gehörorgans betreffenden Mitteilungen Morgagnis in seinem
klassischen Werke ..De sedibus et causis morborum, per anatomen inda-
gatis." Venet. 1761. Nicht nur das Tatsächliche, was er hier vorbringt,
sondern die in seiner Forschung liegende Methodik, die Beziehungen des-
Sektionsbefundes zum Krankheitsverlauf und die klare Darstellung des.
Gesehenen, werden für alle Zeiten ein Vorbild pathologisch-anatomi-
scher Forschung bleiben. Im folgenden beschränken wir uns auf ein
Resume der wichtigsten, im genannten Werke enthaltenen otologischen
Befunde.
Von höchster Bedeutung für die wissenschaftliche Ohrenheilkunde
war bei Morgagni die Frage, in welcher Beziehung Gehirnabszeß und
Ohreiterung zueinander stehen, hing doch damit die bis in die Mitte
des 19. Jahrhunderts viel diskutierte Frage zusammen, ob Ohreiterungen
behandelt werden sollen oder nicht. In dieser wichtigen Frage überragte
das Urteil Morgagnis das seiner Vorgänger und vieler seiner Nach-
folger. Im vierzehnten Briefe deutet er den Kausalnexus jener Fälle,
in denen man bei der Sektion Karies des Schläfebeins und Hirnabszeß
vorfand, derart, daß das Ohrleiden die primäre Affektion vor-
stelle und der Hirnabszeß sekundär infolge kariösen Durchbruches des
Knochens vom Mittelohre entstanden sei. Hierdurch entfernte er sich
Morgagni. 249
von den älteren Anschauungen Avicennas, Bonets*), Laubius'**) u. a.r
die den Ohrenfluß stets als Folge eines Hirnabszesses erklärten.
Die wörtliche Uebersetzung der betreffenden Stelle lautet: „Man wird leicht
einsehen, daß die Ueberschrift der ersten Beobachtung im 19. Abschnitte (des
Sepulchretum Bonets), Eiterfluß aus den Ohren infolge eines Gehirn-
abszesses, sich von der Wahrheit entfernt, denn im Gegenteil war der Gehirn-
abszeß, für dessen frühere Existenz kein einziges Zeichen angegeben wird, eine
Folge der Unterdrückung des ichorösen Ohrenflusses. " Am Ende des
zweiten Paragraphen des 14. Briefes sagt er: „Selbst dann also, wenn ich, wie vor-
hin erwähnt, nicht nur im Innern des Schädels eine Jauche von derselben Beschaffen-
heit wie die, welche aus dem Ohr abgeflossen wai-, angetroffen hätte, sondern sogar
einen durch Karies gebildeten Verbindungsweg zwischen der Schädelhöhle und dem
Ohr, würde ich dennoch nicht den Ausspruch getan haben , daß der Eiter aus dem
Gehirn in das Ohr abgeflossen sei, sondern ich würde vielmehr der Meinung sein, er
habe sich aus dem Ohr einen Weg in das Gehirn gebahnt."
Zur Illustration seiner nach unseren Begriffen modernen Anschauung
über die otitischen Hirnerkrankungen teilt er mehrere Sektionsbefunde
mit, die wir hier auszugsAveise wiedergeben: Bei einer auf Variola fol-
genden Ohreiterung fand er einen kariösen Defekt an der hinteren
Pyramiden fläche zwischen dem Sinus lateralis und Sinus petrosus
superior, dem ex contiguo ein Kleinhirnabszeß entsprach (Ep.XIV, 3).
In einem anderen letal endenden Falle, bei dem eine Fistel am Warzen-
fortsatze bestand, fand sich neben Eiterung in der Trommelhöhle,
Karies des Fazialkanales und der Bogengänge, eine spaltförmige kariöse
Lücke in der hinteren Wand des inneren Gehörganges, eine Eiter-
ansammlung zwischen Dura und hinterer Pyramidenfläche
(Extraduralabszeß). (Ep. XIV, 5.)
Die mitgeteilten Krankengeschichten sind knapp, aber scharf und
sicher gezeichnet, die Sektionsbefunde lassen an Klarheit nichts zu
wünschen übrig.
Mangel des Stapes hat nach Morgagni notwendig Taubheit zur
Folge, weil, wie er meint, die weichen Labyrinthhäutchen („mollissimae
Labyrinthi membranulau" ) durch das offenstehende ovale Fenster den
äußeren Schädlichkeiten ausgesetzt seien. Bei Besprechung der Fremd-
körper bringt Morgagni ein kurzes Resume der bis zu seiner Zeit
geübten Beleuchtungsmethode des äußeren Gehörganges. Aus seinen
Ausführungen ergibt sich, daß die dem Fabrizio bekannte Technik der
Beleuchtung (siehe S. 115) schon von Aranzi für die Nasenuntersuchung
benützt wurde, der in seinem „lib. de Tumor, praeternat. c. 21" fol-
gendes sagt: „cum solis aestus, coelo praesertim calidiore, aegrotanti,
1:) Sepulchretum 1. c.
*) Ephem. nat, cur. Cent. VII. Obs. 40, Cent. VIII. Obs. 21 etc.
250 Morgagni.
niedico, ministris molestiam adferat; idcirco in lignea fenestra clausa
artefactum foramen, ei muneri obeundo aptissimum cogitavit; ut per id
se se insinuans solis radius ad patientis internas nares recta perveniat.'"
Ferner gebt aus den Mitteilungen Morgagnis hervor, daß die Ver-
wendung einer mit Wasser gefüllten Flasche als Sammellinse erst von
ibm empfohlen wurde. Der sonstige otologiscbe Text der 14. Epistel
enthält kritische Streiflichter der Befunde Bonets aus dem Sepulcbretum,
dessen otologischen Inhalt wir schon früher besprochen haben (S. 175).
Von den anderen otiatrischen Beobachtungen, die sich als Nebenbefunde
zerstreut in den Episteln seines Werkes vorfinden, wäre folgendes mit-
zuteilen :
Bei einer 25jährigen Frau, die an einer „febris maligna" starb und
die im Beginne der Erkrankung schwerhörig wurde („cum surditate in
principio"), fand er das Gehirn vollkommen intakt, die Trommelhöhle
und die angrenzenden Hohlräume mit Eiter (saniosa materia) erfüllt.
(EP. VI, 4.)
An einem Erhängten sah er das Trommelfell einer Seite und die
Gehörknöchelchen mit Ekchymosen bedeckt („sanguine tincta"), das andere
etwas injiziert (sed tarnen solito majorem ostendit rubedinem). (Ep. XIX, 8.)
Im 21. Briefe findet sich die Beschreibung eines Falles von meta-
statischer Mittelohrentzündung nach Pneumonie. (Ep. XXI, 24.)
Aus der Krankengeschichte entnehmen wir: Eine Frau erkrankte
ca. 8 — 10 Tage nach Abortus eines etwa dreimonatlichen Fötus an
„interna thoracis inflammatione". Sie konnte nur auf der linken Seite liegen,
klagte über Fieber, Atembeschwerden und innerliche Brustschmerzen.
Es bestand Husten ohne charakteristische Expektoration. Dazu gesellte
sich Taubheit und Schmerzen in den Ohren. Die Sektion des Gehör-
organes ergab ein schwärzlich gefärbtes, sehr schlappes Trommelfell
beiderseits, die Warzenfortsatzzellen mit Flüssigkeit gefüllt, in einer
Trommelhöhle eine eiterähnliche Masse. Parotis und Gehörgang waren
normal.
Im 51. Briefe beschreibt er die Obduktionsbefunde bei folgenden
Krankheitsfällen: Ein 30jähriger Mann, der in die Tiefe gestürzt war,
verlor die Sprache, erbrach zuerst, dann blieb bloß der Brechreiz zurück.
Es traten Konvulsionen auf, Rötung des Gesichtes , pulsus turgidus
(strotzend), Blutung aus der Nase und dem linken Ohre, erschwerte
Respiration und 24 Stunden nach dem Sturze erfolgte der Tod. Bei
der Sektion fand man: Kontusion des Schläfenmuskels und Zerreißung
der Aeste der Schläfenarterie, zwei Querfinger oberhalb des Ohres eine
bogenförmige Schädelfissur, neben dieser Fissur ein Hämatom zwischen
Schädeldecke und Dura, diese, sowie das Gehirn normal.
Ein 50jähriger Mann stürzte vom galoppierenden Pferde und fiel
Morgagni. 251
mit dem Hinterhaupte so wuchtig auf einen Stein, daß man das Geräusch
des brechenden Knochens vernahm. Anfänglich blieb er halbtot liegen,
kurz darauf versuchte er zu sprechen, konnte jedoch kaum verstanden
werden. Aus dem rechten Ohre, der Nase und dem Munde floß Blut,
dabei bestand heftiges Erbrechen. 12 Stunden nach dem Unfälle eine
Verlangsamung der Respiration, die bis 2 Stunden vor dem Exitus an-
hielt. Die Sektion ergab: Ausgedehnte Schädelbasisfraktur, die sich bis
zum Hinterhauptloche erstreckte und auf den Processus petrosus fort-
setzte. Die Schädelbasis zwischen Dura und Pia mater mit einer großen
Menge Blutes bedeckt.
Nun folgt die Deutung der vorliegenden Sektionsbefunde, erstens
warum das Blut trotz der Hinterhauptfraktur in der vorderen Partie
des Kopfes zwischen die Meningen ausgeströmt war, dann warum Blut
durch Mund, Nase und Ohren floß. Letzteres erklärt er aus dem Zer-
reißen von Gefäßen außerhalb der Schädelhöhle infolge der Gewalt-
einwirkung. Dies geschehe umso leichter, wenn die Fissur bis zum
Processus petrosus reicht wie im zweiten Falle, oder wenn das Blut durch
die V als al vaschen Kommunikationslöcher von der Schädel- in die
Trommelhöhle eintritt wie im ersterwähnten Falle. Das Blut kann auch
aus der Trommelhöhle durch die Tuben in die Choanen oder in den
Schlund gelangen. (Ep. LI, 50 — 52.)
Während Morgagni in den eben zitierten Fällen den Trommel-
fellbefund nicht erwähnt, wird ein solcher in einem Sektionsberichte des
52. Briefes genau geschildert. Eine Bäuerin war kopfüber die Treppe
hinabgestürzt und hatte sich eine so schwere Schädelverletzung zugezogen,
daß sie auf der Stelle die Sprachfähigkeit, die Sensibilität und Beweg-
lichkeit der Extremitäten, vornehmlich der unteren, einbüßte. Blutung
aus der Nase und einem Ohre. Tod innerhalb einer Stunde. Der Ob-
duktionsbefund teilt mit : Querfraktur der Basis mit starker Gehirnblutung,
ferner Bruch des äußeren knöchernen Gehörganges mit Trommelfellzer-
reißung an dem Ohre, aus dem die Blutung erfolgt war. Auch die Sinus
laterales waren eingerissen und das Kleinhirn verletzt. (Ep. LIT, 25.)
Schließlich wird in Kürze der Ohrbefund eines gehirnlosen Mon-
strums erwähnt, dessen Geschwister taubstumm waren. Morgagni
fand beide inneren Gehörgänge durch eine feste Membran verschlossen,
durch die der Eintritt eines Nervenfilamentes in den inneren Gehörgang
verhindert wurde („ut ne quidem filamento nerveo ullus relinqueretur
transitous"). (Ep. XL VIII, 48.)
') Im ganzen schrieb Morgagni zwanzig Epist. anat. Da die ersten zwei
sich nicht auf V als alva beziehen, so sind nur die weiteren achtzehn mit Valsalvas
Traktat vereinigt.
2) Ep. IV, Cap. 10.
252 Santorini.
i Ep. V, Cap. 24.
4) Ep. VI, Cap. 46, 48.
• i Ep. VI, Cap. 23.
B) Ep. XII. Cap. 5, 60.
') Ep. XII, Cap. 25.
v) In quatuordecim, aut quindecim auribus singulos fere canales viderem singula
fila continentes tenuia, longiuscula, teretia, albida, et nevvulorum, ut videbantur,
quos vascula sanguifera comitentur, quam simillima. I. c. Ep. XII, Cap. 55.
9) Quidni igitur eodem pertineat ita praepositurn ejusdem Scalae orificio
Hemisphaericum Cavum; ut ex illiusmodi sonis quosdam. orificium Scalae effugientes.
possit colligere, vividiores facere, nee secus atque Auriculae Conclia in Auditorium
Meatum, in proximum Sealae orificium compellere? 1. c. Ep. XIII, Cap. 48'
Giovanni Domenico Santorini. Zu den zeitgenössischen Anatomen
dieser Periode zählt Giovanni Domenico Santorini (1681 — 1737), ein
Schüler Bellinis. Santorini gehörte dem Kreise der Gelehrten an, mit
denen Morgagni in freundschaftlichem Verkehre stand. Nach Ver-
öffentlichung seiner .,Observationes anatomicae'* *) ging Santorini an
die Bearbeitung eines die ganze Anatomie umfassenden Hauptwerkes,
dessen Vollendung jedoch sein frühzeitiger Tod verhinderte. Das Frag-
ment wurde von Mich. Girardi herausgegeben2). Besonders eingehend
beschäftigte sich Santorini mit den Muskeln des Ohres, in deren
Beschreibung er mit Valsalva und Albin wetteifert3). Sie finden
sich in dem zuerst genannten Werkchen ..Observationes anatomicae*,
über das Haller folgendes Urteil fällte: ..Subtilissimus incisorum in hoc
exiguo libro innumera nova inventa proposuit." Insbesondere bereicherte
er die Kenntnis der dem Ohrknorpel allein angehörenden, in seinem
Werke gut abgebildeten kleinen Muskeln4). So entdeckte er zuerst
den M. helicis major und M. helicis minor. Er war auch der erste,
der genauer als Mery und Duverney die nach ihm genannten In-
zisuren des äußeren Gehörgangs (Incisurae Santorini) beschrieb
und nachwies, daß bisweilen über den ersten größeren Einschnitt Muskel-
fasern hinwegziehen (Santorinischer Muskel) 5). Die Trommelhöhle
beschreibt er weit besser als die früheren Anatomen6).
]) Observationes anatomicae. Venet. 17_'4.
-'•ptemdeeim tabulae . . . Mich. Girardi. Parma 1775. Opera. Parma 1773.
3) Obs. anat. De Aure exteriore. Cap. II, p. 37; Cap. I; ferner Tab. XVII,
posthum ed. Girardi. Parma 1775. Tab. 1.
4) Obs. anat. Tab. I und Tab. III. Fig. 3. Ostendit potissimum plerosque
Auriculae musculos.
5) Obs. anat. p. 41.
■') Varia illius figura esse solet, aliquando enim veluti in duplicem ab uno
exortus prineipio dirimitur, atque ejusdem incisurae diduetioni imponitur; interdum
in ärcus similitudinem componitur, et ejus cavum ad exteriorem convertitur. Ea est
hujus musculi fibrarum directio. ut ex interiore parte ad exteriora vergant. et utroque
Cotugno. 253
tendineo extremo earumdem marginibus inserantur. Alteram quoque incisurain lacer-
tosis exterius fibris muniri, quamquam mihi aliquando non obscure vidisse visus
sum etc. 1. c. p. 13.
6) Tab. XVII; Tab. V.
Domeiiico Cotugno.
Die grundlegenden Arbeiten Valsalvas und Morgagnis wurden
von dem jungen Schüler des letzteren, Domenico Cotugno, in glän-
zender Weise fortgesetzt. Schon im Alter von 24 Jahren veröffentlichte er
seine berühmte Dissertation, die eine neue Epoche in der Physiologie
des Gehörsinns inaugurierte.
Dom. Cotugno (Cottunni, Cotunni, Cotugni, 173G — 1822)
wurde zu Ruvo im Neapolitanischen am 3. Dezember 1736 geboren.
Trotz bitterster Armut widmete er sich anatomischen Studien und erregte
durch seine mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und seltenem Scharfsinn
ausgeführten Arbeiten solche Bewunderung, daß er schon im Alter von
30 Jahren auf den Lehrstuhl der Anatomie und Chirurgie in Neapel
berufen wurde, den er bis zu seinem am 6. Oktober 1822 erfolgten Tode
innehatte. Seine Studien über Ischias, den Sitz der Blatternpusteln, über
den Liquor cerebrospinalis und andere erwarben ihm bedeutenden Ruf,
den größten Ruhm aber erlangte er mit seiner ersten Arbeit, einer kleinen,
bloß 80 Seiten umfassenden Schrift: „De aquaeductibus auris humanae
internae anatomica dissertatio." Neap. 1760 x). In diesem Meisterwerke
beschrieb er aufs genaueste das innere Ohr mit der Labyrinthflüssigkeit
und stellte die erste Hörtheorie auf, welche mit dieser rechnet und daher
den Ausgangspunkt der modernen Anschauungen bildet. Der aer innatus
der antiken Hörphysiologie mußte endlich dem realen humor aqueus
labyrinthi für immer Platz machen2). Wohl hatten mehrere Anatomen,
"wie Duverney, Valsalva, Morgagni3), vor ihm hie und da die Laby-
rinthfeuchtigkeit beobachtet, doch keiner hatte den Mut, mit der Jahr-
hunderte alten Tradition des „aer ingenitus" zu brechen. Hier zeigt sich
am klarsten, wie grobe Irrtümer durch das schrittweise Vordringen der
Erkenntnis verdrängt werden. Cotugno war der erste, der nachwies,
daß die Flüssigkeit die Hohlräume des Labyrinths vollständig ausfülle.
Nur eines ist auch bei ihm noch mangelhaft: die Kenntnis des häutigen
Labyrinths. Dieser Schlußstein zur makroskopischen Erforschung wurde
erst von Scarpa gelegt.
Die Dissertation Cotugno s, schwunghaft und in der freudigen
Stimmung eines jugendfrohen Entdeckers geschrieben, verficht vornehmlich
vier Thesen: Die Existenz der beiden Aquädukte (cochleae et vestibuli),
das stete Vorhandensein des Labyrinthwassers, die Bedeutung
der Aquädukte für die Ableitung der Labyrinthflüssigkeit, endlich
eine gehörphysiologische Hypothese. Von diesen Thesen vermochten sich
Cotugno.
nur die beiden ersten auf reale anatomische Anschauung gegründeten
dauernd zu erhalten, während die Hörtheorie längst als haltlos der Ver-
gessenheit anheimfiel. Auch von seinen Ansichten über die physiologische
Bedeutung der beiden Wasserleitungen haben sich in der Folge nur
wenige behauptet.
Das Gehörorgan schien damals so vollständig durchforscht zu sein,
daß Cotugno in der Vorrede zu seiner Dissertation sich geradezu ent-
schuldigt, Neues vorzubringen *).
Fig. 11. Photogr. Reproduktion aus Cotugnos „De aquaeductibus auris humanae int."
Taf. II, den geöffneten Saccus endolymphaticus an der hinteren Pyramidenwand zeigend.
f. Nervi paris septimi portio dura. g. Ejusdem septimi paris portio mollis. hh. Ori-
ficium canalis communis nervorum paris septimi. k. Janua arcuata orificii inferioris
cochkae aquaeduetus. pp. Angulus superior ossis petrosi a quo tentorium resectuni
est. rr. Latus posterius ossis petrosi in quo desinit vestibuli aquaeduetus. s. Cavitas
niembranea aquaeduetus vestibuli aperta. tt. Rima, in qua desinit ossea jiars aquae-
duetus vestibuli, et ad cujus directionem prima cavitatis incitio facia est. Tab. 1,
Fig. 1, mm, Fig. 2, i. u u. Latera disseeta cavitatis membraneae revoluta. xxxx. Venulae
lymphaticae mercurio plenae, a cavitate aquaeduetus membranea procedentes et in
lateralem sinum derivatae.
Während früher die Bezeichnung „aquaeduetus" in der Ohranatomie
oft eine sinnwidrige Anwendung fand (wurden doch der Fazialkanal und
auch die Tube so genannt), wählte sie Cotugno mit Absicht, da er die
Cotugno. 255
richtige Anschauung vertrat, daß die beiden Kanäle Labyrinthwasser
leiten5). Morgagni kannte wohl die in der nach ihm genannten Ca-
vitas sulciforrais gelegene Anfangsöffnung des Aquaed. vestibuli, hielt
ihn aber für einen blindendigenden Kanal. Auch Cassebohm kannte die
Vorhofsöffnung. Aber erst Cotugno verfolgte den Kanal bis zu jener
Spalte, die sich an der hinteren Felsenbeinfläche zwischen Sinus sigmoid.
und meat. aud. intern, befindet 6), und bestimmte seine Weite und Länge.
Er behauptet ferner, daß das äußere Blatt der Dura mater den Vorhofs-
aquädukt auskleide und in das Periost des Labyrinthes sich fortsetze.
Hinter der Spalte an der hinteren Felsenbeinwand entdeckte er einen
von den beiden Blättern der Dura eingeschlossenen, sehr
verschieden gestalteten Hohlraum (Intraduralsack des Aquaed.
vestib.), den er „cavitas aquaeductus membranacea" nannte und als Fort-
setzung der Vorhofwasserleitung auffaßte7). Es gelang ihm auch, die
Kommunikation dieses Sackes mit dem Aquaeductus des Vorhofes nach-
zuweisen. Ferner behauptet er, Venen und Lymphgefäße durch Injektion
(mit Quecksilber) nachgewiesen zu haben, die die Flüssigkeit aus dem Sub-
duralraum wieder ableiten8). Cotugnos Untersuchungen erstreckten sich
auch auf das Gehörorgan des Fötus und des Neugeborenen und er gibt eine
genaue Anweisung der Präparationsmethode, durch die er sein Ziel erreichte.
Mit demselben bewunderungswürdigen Eifer gelang es ihm, den
aquaeductus Cochleae aufzufinden, dessen Schneckenmündung in der
Scala tympani neben der Fenestra rotunda bereits von Duverney ab-
gebildet wurde9). Valsalva konnte die kleine Oeffnung in der Scala
tymp. nicht auffinden10), hingegen wurde sie von Cassebohm und
Morgagni11) genau lokalisiert und beschrieben.
Cotugno verfolgte den Kanal von seinem Beginn in der Scala
tymp. (von ihm „orificium superius" genannt) bis zur trichterförmigen
Ausmündung am „orificiuni inferius" 12). Nach seinen konstanten Be-
funden besitzt das runde Fenster an jener Stelle, die der Apertura interna
der Schneckenwasserleitung zunächst liegt, eine kleine knöcherne Zunge
(ligula ossea), gewissermaßen als Verzäunung (sepimentum). Die an das
runde Fenster prallende Labyrinthfiüssigkeit trifft nicht auf die Fenster-
membran, sondern auf jenen Knochen, der sie mit voller Kraft „in proxi-
mum aquaeductus orificium" schleudert. Die äußere Mündung der
Schneckenwasserleitung bildet einen dreikantigen Raum, der einen „hiatus"
besitzt, wodurch ein „semicanalis" entsteht*). Aus diesem jedoch wird
*) Orificium autem inferius in quamdam triangularis areae speciera desinit;
cuius unum latus in eo est margine orificii, qui sub canali observatur nervorum com-
muni, duo reliqua antrorsum ad se invicem accedunt. Postrema tarnen haec latera
in angulum non conveniunt, sed hiatum relinquunt inter se. quo semicanalis
continetur . . . 1. c. Cap. 75, p. 65.
Cotugno.
beim fortschreitenden Wachstum ein ringsum geschlossener Kanal, der an
der unteren Fläche der Pyramide ausläuft. Jener Rand der äußeren
Apertur, „qui ad cavum calvariae pertinet", hat stets Bogenform, wes-
halb gleichsam eine „janua" (Türe) zu stände kommt, durch die sich
Labyrinthflüssigkeit ..intra cranii cavitatem" ergießt. Die harte Hirnhaut
kleidet den aquaeductus Cochleae aus und setzt sich in das Schnecken-
periost fort. Die Ursache, warum der Aquädukt den Anatomen bisher
entgangen war, erklärt er aus dem Umstand, daß ein Bündel (nervus
glossopharyngeus) des achten Hirnnerven (nervus vagus) die äußere
Oefihung des aquaeduct. cochl. zum Durchtritt benützt. Daß durch die
Schneckenwasserleitung Blutgefäße ziehen, wie Morgagni und Casse-
bohm behauptet haben, wird von ihm in Abrede gestellt; Untersuchungen
an Schädeln Erstickter führten ihn vielmehr zur Annahme, daß die
Schneckenvene durch ein mit dem Aquädukt paralleles, nahes Knochen-
kanälchen verlaufe.
Cotugno entdeckte die Schnecken Wasserleitung zuerst beim Pferd,
später fand er sie aber auch im menschlichen Gehörorgan13).
Von grundlegender Bedeutung ist seine Schilderung der Labyrinth-
flüssigkeit. Ihre Menge sei so groß, daß sie die Labyrinthhöhle voll-
ständig ausfülle. Wer mit Aufmerksamkeit frische menschliche oder
tierische Gehörorgane untersuche, werde finden, daß keine Luft im
Labyrinth vorhanden sei, da durch den Steigbügel der Zutritt derselben
unmöglich gemacht ist. Der Irrtum aller früheren Anatomen erkläre
sich lediglich aus dem Umstand, daß sie ihre Forschungen nur an alten,
nicht an frischen Gehörorganen anstellten. Die Quelle der Labyrinth-
flüssigkeit seien Exhalationen der Gefäße. Am besten könne man sich
von der Existenz des Labyrinthwassers überzeugen, wenn man in frischen
Ohren behutsam den Steigbügel entfernt oder das Felsenbein durch einen
Schlag zerschmettert 14). Der Nutzen der Flüssigkeit bestehe in dem
Schutze der Nerven, die durch den unmittelbaren Kontakt mit den
schwingenden festen Teilen geschädigt würden: ..Humor enim intermedius
leniter undans ob acceptum ab ossibus impulsum concutit nervös, sed molli,
nee aspero contactu."
Die auf die physiologische Bedeutung der beiden Aquädukte basierte
Hörtheorie Cotugnos erwarb sich durch ihren bestechenden Scharfsinn
nicht bloß den Beifall der Zeitgenossen, sondern blieb lange noch herr-
schend, obwohl Scarpa ihre Unhaltbarkeit nachwies. Sie beruht näm-
lich auf der von den meisten zeitgenössischen Anatomen geteilten irr-
tümlichen Annahme einer nervigen Scheidewand des Vorhofes15)
und mußte durch den exakten Nachweis des häutigen Labyrinthes zu Falle
kommen.
Cotugnos Theorie baut sich folgendermaßen auflü): Durch die
Tafel XV
\
DOMENICO COTUGNO
Cotugno. 257
Schallwellen wird das Trommelfell erschüttert, nach innen getrieben und
Hammer, Amboß und Steigbügel in Bewegung gesetzt, wodurch die Stapes-
platte in das Vorhoffenster gedrückt wird. Da gleichzeitig auch die Chorda
erschüttert wird und mit ihr die Hammer- und Steigbügelmuskel ver-
sorgenden Zweige, so werden diese Muskeln zur Kontraktion angeregt
und die ganze Bewegung noch verstärkt. Durch das Eindringen der
Basalplatte des Steigbügels muß das Labyrinthwasser und zugleich die
nervige Scheidewand des Vorhofs in Schwingungen geraten. Die nervige
Scheidewand wird hierbei nach hinten konkav, nach vorne konvex. Da-
durch kommt das Labyrinthwasser aus seiner Lage und macht einen
doppelten Umlauf. Der eine, größere, beginnt in dem vorderen Ab-
schnitte des Vestibulums und setzt sich durch den (horizontalen) äußeren
Bogengang zur hinteren Vorhofshöhle fort, worauf er auf dem Wege
des gemeinschaftlichen und oberen Bogengangs zum vorderen Abschnitt
des Vorhofs zurückkehrt. Der zweite kleinere Umlauf nimmt seinen
Weg von dem hinteren Teile des Vorhofs durch den gemeinschaftlichen
und hinteren Gang nach eben diesem Teile des Vestibulums. Ebenso
setzt sich der Druck der Flüssigkeit durch die Vorhofstreppe fort, um
durch den Vieussen sehen Becher in die Paukentreppe zu gelangen. Bei
diesen Flüssigkeitsschwingungen wird sowohl die Lamina spiralis der
Treppe als auch die nervige Vorhofsscheidewand erschüttert, welch letztere
eine bald nach vorn gewölbte, bald wieder flache Gestalt annimmt. So-
mit werden die vom tönenden Körper ausgehenden Schallschwingungen
im selben Rhythmus den in der Scheidewand und Lamina spiralis aus-
gebreiteten Nervenendigungen vermittelst der Labyrinthflüssigkeit mit-
geteilt und so dem Sensorium zugeführt. Damit die Chorden jedoch nicht,
wie sonst beim Mitschwingen, weiter schwingen, sind sie „molles" und
fortwährend von Flüssigkeit gepreßt; sie stehen nach einer Schwingung
stille und geraten nicht früher in Bewegung, als bis sie einen neuen
Impuls vom Stapes erhalten*).
Der Zweck der Wasserleitungen besteht darin, die von der Be-
wegung der Stapesplatte gegen den Vorhof gedrängte Flüssigkeit durch
die Aquädukte abzuleiten. Nach Aufhören des Druckes kehrt die Flüssig-
keit wieder in die Labyrinthhöhle zurück.
*) Sunt igitur nervi acustici quasi chordae in singulo tremore sonori corporis
semel oscillantes. totque cum audimus impressiones cerebro numeratim impertientes,
quot numero sunt sonori corporis vibrationes. Sed quae chorda semel percussa
oscillat semel. C'erte quae tensa nimium, et siccissima chorda est, semel pulsata.
valide, diutiusque tremit; sed vitare natura hanc multiplicem oscillationem in chordis
nostris acusticis visa est, neque enim tensas nimium, neque aridas, sed molles, et
fluido continuo pressas easdem efformavit. Ita enim fit, ut, cum a stapede im-
pelluntur, nunquam aeeeptum continuent tremorem. sed semel motae, quiescant, nee
iterum moveantur, nisi nova accedat stapedis impulsio. 1. c. Cap. 91, p. 78.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde I. 17
258 Cotugno.
Die Schallwahrnehmung findet hauptsächlich in der Vorhofs-
scheidewand statt, die Tonempfindung speziell in der Schnecke17).
Cotugnos Ausführungen über die physiologische Bedeutung der Schnecke
sind deshalb von ganz besonderem historischen Interesse, weil er ganz
richtig die längsten Chorden in die Spitze, die kürzesten in die Basis
der Schnecke verlegt, eine Annahme, die mit der Helmholtzschen Hör-
theorie vollkommen im Einklang steht*).
Das Gesagte würde genügen, um das Interesse zu erklären, das
Cotugnos Schrift erregte. Aber auch sonst bietet diese Dissertation
viel Neues und Anregendes. So z. B. die Maßangaben der einzelnen
Teile des Gehörorgans18), die kurze, aber vortreffliche Beschreibung
der Schnecke 19), in der er über den Tractus spiralis foraminulentus und
das Helicotrema20) mit einer Klarheit handelt, die man bis auf Scarpa
bei allen Autoren, selbst bei dem scharf charakterisierenden Cassebohm
vermißt21).
Cotugnos Arbeiten enthalten eine große Summe von exakten
anatomischen Ergebnissen, die teils unter seinem, teils unter fremdem
Namen Gemeingut geworden sind. Die auf seine anatomischen Ent-
deckungen aufgebauten Theoreme aber sind trotz ihres geistreichen
Aufbaus verschollen. Immerhin jedoch enthalten sie mehr als einen Kern
von Wahrheit, so daß der Historiker nicht ohne weiteres über sie hinweg-
gehen kann.
Die Angaben Cotugnos über die technische Darstellung der von ihm ent-
deckten Vorhofswasserleitung waren so mangelhaft, daß es den späteren Anatomen
nicht gelang, die Entdeckung zu bestätigen. Hatte doch der durch eine hervor-
ragende Präparationstechnik berühmte Hyrtl die Existenz des Aquaed. vestibuli in
Abrede gestellt und ihn als gefäßführenden Kanal erklärt. Selbst nach der bildlichen
Darstellung des Intraduralsackes durch van den ßroeck (Atlas 1852) und nach
der Schilderung Böttchers**), der an mikroskopischen Schnitten das Verhalten der
Vorhofswasserleitung darlegte , war man vom Vorhandensein derselben nicht über-
zeugt. Bezüglich dessen sei erwähnt, daß, als Kölliker 1876 in Wien weilte und
Zuckerkandl ihm mitteilte, daß es ihm gelungen sei, an der hinteren Felsenbein-
fläche den Intraduralsack der Cotugnoschen Wasserleitung aufzufinden***), Kölliker
erst dadurch von deren Existenz überzeugt wurde, als Zuckerkandl in seiner
Gegenwart die Präparation des Sackes ausführte. Um dieselbe Zeit gelang es auch
Web er- Li eil den Intraduralsack aufzufinden.
*) Apparet aeque necessitas Cochleae, in qua series chordarum parallelarum
tensarumque cymbalo similis abscondetur. cujus in zona Cochleae sedes est, quae fila
nervosa a spirali lamina accepta, et parallela continet longitudinis variae. Hamm
ego chordarum minimam in zonae originepono, prope orificium scalae
tympani, ubi arctissima zona est, maximam vero versus zonae hamu-
lum. 1. c. Cap. 91, p. 79.
**) Böttcher, Arch. f. Ohrenheilkunde Bd. 8.
***) E. Zuckerkandl, Mon. f. Ohrenh. Jahrg. 10, 1870.
Cotugno. 259
J) Erschien auch Neapoli 1761. Viennae 1774.
2) De aquaeductibus. Cap. 29, p. 22 f.
3) Hoc est primum rcapd8o|ov, cpjod in medium afferre videbor, in tanta quidem
Anatomicorum omnium, quod sciam, consensione, existimantium madescere quidem,
non ad amussim impleri hoc humore labyrinthum , et aerem a tympano venientem
simul continere. Qui vero attente, non in humanum modo labyrinthum, sed et eorum
quoque animalium, quibus humano respondens labyrinthus datus est, rem ipsam in-
quisiverint, mecum absque dubio manifeste videbunt, nihil aeris in labyrintho in aure
recenti, ac vivo propterea homine inveniri, sed omne spatium lympha repleri. 1. c.
4) Mirum proinde, vel rerum gnarissimis, videri poterit, valuisse me aliquid
de hoc organo proferre , quod tantorum Anatomicorum attentionem praeterierit.
Aquaeductus enim auris internae exponere aggressus sum, quales adhuc inauditi.
Sed et de aure post Fallopium inaudita protulit Eustachius, nova post hunc Cas-
serius, novaque Folius, meliora Du Verneyus, illustriora Valsalva et Cassebohmius,
ac pleraque longe, post tot tantosque viros, definita, Morgagnus. Nempe, quia
naturam nunquam sine fructu consulimus, nee post mille saecula praecludetur inqui-
rentibus occasio nova detegendi. Praef.
5) Quae faciunt ut credam, me non esse nominis hujus proprietate abusum,
cum canalibus aptavi, qui aquaeduetuum, et formam et officium, omni ex parte sibi
vindicant. 1. c. Cap. 1, p. 2.
6) Canalis ab hoc procedit orificio, qui introrsum sursumque tendit per medium
os petrosum, superscandens canalem communem. Lineae spatium hoc decursu per-
currit; atque mutata inde directione, extrorsum deorsumque curvatur, inque illa
terminatur rima, quam in posteriori interno latere, prope foveam sigmoideam, os
petrosum habet. 1. c. Cap. 59, p. 49.
7) Durae matris . . . lamina exterior. quae immediato contactu ossibus applicatur,
per rimam, in qua canalis osseus aquaeduetus vestibuli finem habet, intra aquae-
duetum reflectitur. 1. c. Cap. 60, p. 50. Constat ex dictis aquaeduetus vestibuli
duas esse partes, unam ab orificio ad rimam, quae ossea pars dici potest, alteram
a rima ortam. et intra duram matrem excavatam. quam cavitatem aquaeduetus mem-
braneam licet appellare. 1. c. Cap. 64, p. 54.
8) 1. c. Cap. 65. p. 55.
9) Traite de l'organe de l'ouie. Tab. X, Fig. 8.
10) De aure humana. Cap. 3, p. 15.
u) Cassebohm, De aure humana, Tract. V, 199, Morgagni, Ep. XII, 60.
,2) De aquaeduetib. Cap. 75, p. 63 f.
13) 1. c. Cap. 81, p. 69.
14) Quoties enim auris recentissima, et integra. nee dimoto stapede ad obser-
vandum assumitur, dum leviter stapes de fenestra ovalis subducitur, totum vestibulum
aqua plenissimum observatur. Imo si in ipsa calvariae basi, aliquis canalium semi-
circularium uno ictu frangatur, lumen aqua plenissimum ostendet; quod et in Cochlea
discissa manifestissimum est. 1. c Cap. 29, p. 23.
,r>) Fila haec omnia (sc. nervi) cum in vestibulum pervenere uno excepto, quod
saepe canalem externum penetiare conspexi, ab ipso a pyramide, adsitisque forami-
nibus exitu, veluti a centro in membranam simul expanduntur, quae versus fundum
vestibuli contendit. Haec ita distenditur, ut integrum septum in vestibulo faciat,
toto ambitu circumligatum, quo cavitas haec bipartitur, in cavitatem anteriorem,
atque posteriorem ... Membranam nervosam istam septum nervosum vesti-
buli appello. 1. c. Cap. 26, p. 20.
•6) 1. c. Cap. 87—91, p. 70—78.
260 Scarpa.
17) Septo igitur sonum percipimus, Cochlea tonos discernimus. 1. c. Cap. 92, p. 79.
,s) Beispielsweise des Vestibulums: Axis vestibuli major, qui parallelus est
horizonti, duas saepe lineas aequat, minor qui perpendieularis 1'2. profunditas ejus
iia. sive distantia ab ovali fenestra ad vestibuli fundum, lineam l2/s adaequat,
quamquam aliquando perpendiculari axi aequalis sit. 1. c. Cap. 3, p. 3.
19) 1. c. Cap. 11—22. p. 8— 17.
-°) Facile est intelligere, inter hamulum laminae, cum reliquo zonae hamulo.
et secundi gyri pavimentum, circa cujus centrum hamuli diriguntur, distantiam
relinqui. Hiatu prope triangulari in infundibuli tubo patentem. 1. c. Cap. 18, p. 14.
21) In dem kleinen 30. Kapitel faßt er die Hauptirrtümer der Vergangenheit
zusammen: Quot ergo foramina, per quae nervi in vestibulum intrant? Non duo ut
fortasse putavit Du Verneyus; non quinque ut Valsalva sed innumera. Quid zonae
sonorae a Valsalva propositae? Aliquid in quo bonus dormitavit Homerus. Quid
aer ille ingenitus Aristoteli dictus, et toti prope antiquitati accei>tus, cui tantum
Anatomici, et Physici videntur tribuisse? Patet.
Antonio Scarpa
(1747—1832).
Den Höhepunkt erreichte die otologische Forschung des 18. Jahr-
hunderts in den Werken Scarpas, die durch ihre mustergültige Exakt-
heit, ihren reichen Inhalt und durch die Klarheit und Anschaulichkeit
der Darstellung die uneingeschränkte Bewunderung der Zeitgenossen er-
regten. Die anatomische Erforschung des membranösen Labyrinthes hat
Scarpa den Ruhm eines der größten Anatomen aller Zeiten eingetragen.
Nicht nur die Sorgfalt der Beobachtung ist es, die Scarpas Arbeiten
so weit über seine Zeit erhebt , sondern die Schärfe der Auffassung,
welche sich in der überaus klaren Ausdrucksweise kundgibt und seiner
Beschreibung den Stempel der Wahrheit aufdrückt. Den W^ert der
Arbeiten Scarpas erhöhen die naturgetreuen, von ihm selbst gezeich-
neten Abbildungen, die von der Künstlerhand Anderlonis in Kupfer-
stich ausgeführt dem Werke beigegeben sind.
Während durch Folios, Duverneys, Valsalvas und Morgagnis
Arbeiten die Kenntnis des knöchernen Labyrinths der Vollkommenheit
nahe gebracht wurde, herrschten bis Scarpa über das häutige Laby-
rinth nur falsche und irrige Vorstellungen, welche wohl der fehlerhaften
Methodik der Präparation beigemessen werden dürfen. Schon Cotugno
erkannte, daß an mazerierten Gehörorganen nicht alles aufgefunden
werden kann und verdankte dem Umstände, daß er frische Objekte wählte,
seine Entdeckung des Labyrinthwassers und der Aquädukte, doch gelang
es ihm nicht, die Details des häutigen Labyrinthes zu erforschen. Erst
Scarpa war es vorbehalten, die Zonae sonorae des Valsalva, die nervige
Vorhofsscheidewand Cotugnos und andere irrtümliche Angaben zu be-
seitigen und die Anatomie des häutigen Labyrinthes endgültig festzu-
stellen.
Tafel XVI
ANTONIO SCARPA
Scarpa. 261
Antonio Scarpa, aus Motta in der Mark Treviso, wurde am
13. Juni 1747 geboren. Er erhielt eine ausgezeichnete Jugenderziehung
und fand schon frühzeitig durch seinen Oheim, einen hervorragenden
Mathematiker, reiche Anregung zum Studium. Lust und Vorliebe für
Medizin drängten ihn, die Universität Padua zu besuchen, wo damals
neben anderen Celebritäten noch Morgagni wirkte. Dieser wendete
dem jungen Scarpa seine Gunst zu und fesselte ihn als Vorleser und
Sekretär an sich. Durch den Verkehr mit dem großen Manne, durch
die Erledigung seiner reichen Korrespondenz mit den hervorragendsten
Gelehrten Europas , durch die gemeinsame Lektüre wissenschaftlicher,
namentlich klassischer Meisterwerke fand der empfängliche Geist Scarpas
eine Anregung, die ihn weit über das Niveau des fachlichen Forschers
hob. Nach zwei aufs beste ausgenützten Jahren verließ er Padua, um
in Bologna vorwiegend klinische und chirurgische Ausbildung zu erlangen.
Dort legte er unter der Leitung Rivieris den Grund zu seinen später so
berühmten chirurgischen Kenntnissen und empfing, nach weiteren zwei
Jahren zurückgekehrt, den Doktorhut aus den Händen Morgagnis, der
bald hierauf in den Armen seines Lieblings verschied. Schon im folgen-
den Jahre (1772) wurde Scarpa Professor der Anatomie und erster
Chirurg am Hospitale zu Modena. Während seines dortigen achtjährigen
Aufenthalts schrieb er zwei anatomische Werke, die namentlich die
Sinnesorgane und das Gangliensystem behandeln ; auch verdankte ihm
die medizinische Schule Modenas die Errichtung eines anatomischen Hör-
saals und einer chirurgischen Klinik. Von Hercules III., dem Nachfolger
des gütigen Herzogs Franz von Modena, beleidigt, verließ er Modena und
begab sich nach Frankreich, Holland und England, avo er mit den her-
vorragendsten Zeitgenossen wie Vicq-d'Azyr, Baron Wenzel, Bram-
billa, Pott, Hunt er u. a. in Berührung trat und jene reichen Er-
fahrungen und Kenntnisse sammelte, die später seinen europäischen Ruf
als Anatom. Chirurg und Ophthalmolog begründeten. Dem freundschaft-
lichen Einfluß Brambillas verdankte er im Jahre 1783 seine Ernennung
zum Professor der Anatomie und Chirurgie zu Pavia, wo Joseph IL eine
neue Lehrkanzel für Anatomie und eine chirurgische Klinik gegründet
hatte. Ende 1783 war Scarpa mit Volta nach Wien gereist, wo beide
dem Kaiser vorgestellt wurden. Er begab sich dann nach den bedeu-
tendsten Universitäten Deutschlands, überall die wissenschaftlichen Insti-
tute besuchend. Zurückgekehrt, beendigte er den zweiten Band seiner
..Annotationes anatomicae", welcher über das Geruchsorgan wertvolle
Studien enthält.
Sein für die Otologie bemerkenswertestes Werk „Disquisitiones ana-
tomicae de auditu et olfactu" erschien im Jahre 1789, in zweiter Auf-
lage 1795. Der damalige Kriegszustand Italiens entriß ihn eine Zeit-
Scarpa.
lang seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und als im Jahre 1796 die
Transpadanische Republik gegründet wurde und Scarpa dieser den ver-
langten Eid der Treue verweigerte, war er genötigt, sich von der öffent-
lichen Lehrtätigkeit zurückzuziehen. Er benützte nun die unfreiwillige
Muße, um sich ganz in seine während der Kriegsjahre gesammelten
chirurgischen Studien zu vertiefen, als deren Resultate die allseitig mit
Beifall aufgenommenen Schriften über die Aneurysmen, den Klumpfuß
und Augenkrankheiten erschienen. Erst 1805, als Napoleon nach Pavia
kam und sich die Professoren der Universität vorstellen ließ, wurde
Scarpa rehabilitiert; denn als man dem Kaiser die Ursache seiner
Absetzung mitteilte, sagte dieser: ..Eidesverweigerung und politische An-
sichten haben mit der Wissenschaft nichts zu tun. Scarpa ist eine
Zierde der Universität und meiner Staaten, ich will, daß er seinen Platz
wieder einnehme." Napoleon zeichnete ihn noch durch Ernennung zu
seinem Chirurgen und durch Verleihung der Ehrenlegion aus.
Die weitere Wirksamkeit des Meisters war vornehmlich der Chirurgie
und pathologischen Anatomie gewidmet. Seine Schriften übertreffen an
Originalität der Beobachtung alle zu dieser Zeit erschienenen Fachwerke.
Zum größten Leidwesen verließ er 1812 die Lehrkanzel, bekümmert
durch den Tod seines Lieblingsschülers Jacopi. Trotzdem setzte er
seine wissenschaftlichen Studien fort. Die Mußestunden verbrachte er
mit der Lektüre moderner Werke und der Klassiker des Altertums, denen
er jenen klaren, prägnanten Stil verdankt, der noch heute den Leser
seiner Schriften erfreut.
Scarpa, der sich bis ins hohe Alter dauernder Gesundheit er-
freute, erlag einer chronischen Affektion der Harnblase 1832 (31. Oktober).
Von den beiden für unser Fach in Betracht kommenden Werken
wollen wir zunächst den Traktat über den Bau des runden Fensters und
seiner Membran besprechen 1). In der Vorrede , welche das Programm
und das Resume der Schrift enthält, hebt der Verfasser hervor, daß
bisher die wenigsten Anatomen dem Schneckenfenster jene Aufmerksam-
keit gewidmet hatten, die ihm in Anbetracht seiner Wichtigkeit für das
Zustandekommen des Höraktes zukomme 2). Das Werk zerfällt in fünf
Kapitel.
Das erste ist historischen Inhalts ; die zwei folgenden behandeln
in eingehendster Weise Bau, Struktur, Lage und Zweck des runden
Fensters und seiner Membran 3).
Scarpas Vorgänger gaben höchst mangelhafte Beschreibungen und
Abbildungen vom Schneckenfenster4), insoferne sie keine Rücksicht auf
die Lageverhältnisse in den verschiedenen Altersstufen nahmen. Scarpa
zeigte, wie die Lage des Fensters während der fötalen Entwicklung
wechselt5). Im dritten Monate liegt es dem Trommelfell fast parallel,
Scarpa. 263
im vierten, wo die Schnecke schon verknöchert ist, tritt das Fenster
noch weiter nach vorne, während es im fünften wieder zurücktritt, sich
mehr nach hinten neigt und zugleich wegen der Entwicklung des
Trommelfellringes sich mehr vom Trommelfell entfernt. Die Distanz
des Schneckenfensters vom Trommelfell werde in den späteren Monaten
noch bedeutender, betrage im siebenten bloß l3/* Linien, im achten
schon 2, im neunten endlich 3 Linien. Ebenso bestimmte Scarpa bei
Erwachsenen und Greisen G) die Abstufungen der Stellung des Fensters.
Seine Gestalt, welche die früheren Anatomen als rund oder oval an-
gegeben hatten, definierte er als dreieckig und wußte, daß es eigentlich
-den Eingang in einen Kanal abschließe, der ebenfalls mit einer dreieckigen
Mündung in die Schnecke übergehe7). Zwar hatten schon Casserio,
Duverney, Cassebohm, Haller diesen Kanal angedeutet, Scarpa
jedoch verfolgte ihn zuerst genauer und beschrieb den Falz (Sulcus),
den man nach ihm am besten sieht, wenn man schief in den Kanal
hineinblickt 8).
Mit besonderer Sorgfalt beschreibt er in den folgenden Abschnitten
•die Membran der Fenestra rotunda in Bezug auf Struktur, Ursprung und
Lage, wobei die Aehnlichkeit mit dem Trommelfell hervorgehoben wird,
weshalb Scarpa die Bezeichnung „tympanuni secundarium" vorschlägt9).
Die Membran sei zart, dünn, setze sich aus dem Periost der Paukenhöhle
und dem des Labyrinths zusammen. Der Raum, der sie gegen die Schnecke
abschließt, kommuniziere nicht, wie manche Anatomen glauben, mit dem
Vorhof, und sie sei im Falze des Fensters so eingespannt, daß sie gegen
die Trommelhöhle zu konkav, gegen die Schneckentreppe aber konvex
erscheine.
Das nächstfolgende (dritte) Kapitel ergeht sich über die physio-
logische Bedeutung des Schneckenfensters. Im Gegensatze zu
■der von anderen vertretenen Anschauung, daß nur die Gehörknöchelchen
oder nur die Luft der Paukenhöhle den Schall zum Labyrinth leite, war
Scarpa der Ansicht, die Fortpflanzung des Schalles geschehe auf beiden
Wegen10). Die Ansicht, daß nur das runde Fenster der Schalleitung
diene (Schelhammer, Vieussens), weist er energisch zurück. Umso
entschiedener verficht er seinen Standpunkt, daß die Luft der Trommel-
höhle in Schwingungen gerate, die durch den resonanzfördernden Bau
•des Tvmpanums verstärkt würden und die Membrana tympani secundaria
in Erschütterung versetze. Für die Notwendigkeit des Schneckenfensters
zum Hören spreche das stete Vorkommen bei den verschiedensten Tieren
sowie pathologische Befunde und physikalische Erwägungen. Der Bau
des Schneckenfensters entspreche völlig dem Gehörgang mit dem Trommel-
fell, der Paukenhöhle gleiche der kleine Raum, der sich hinter der
Membran des Fensters befinde und den Anfang der Paukentreppe
Scarpa.
bilde, welch letztere bemerkenswerterweise stets weiter als die Vorhofs-
n ppe sei 1X).
Das vierte und fünfte Kapitel handelt eingehend über das Gehör-
orgau der Vögel und sucht in diesen vergleichend- anatomischen For-
schungsergebnissen Stützen für die oben erwähnten Hörtheorien beizu-
bringen. Die beiden Tafeln mit ihren zahlreichen Figuren übertreffen
an Exaktheit und Schönheit beinahe alle vorhergegangenen otologischen
Werke.
Scarpas Jugend werk „De structura fenestrae rotundae'', das erste
in seiner Art, machte großes Aufsehen, obwohl es von manchen Wider-
sachern für ein Plagiat der Galvanischen Forschungen gehalten wurde,
die sich besonders auf das Gehörorgan der Vögel bezogen. Indes er-
kannten bald italienische und fremde Anatomen, namentlich Haller,
seine volle Bedeutung.
Die kleine Schrift war aber nur der bescheidene Vorläufer der
.,Disquisitiones anatomicae de auditu et olfactu", die Scarpa den Ruhm
der Entdeckung des häutigen Labyrinths sichern.
Dieses im Jahre 1789 erschienene Werk 12) bildet einen Grenzstein
in der otologischen Forschung, indem es die vormikroskopische Methode
insoferne zum Abschluß brachte, als die meisten Angaben Scarpas
noch heute Geltung haben. Erst durch die verfeinerten Präparations-
methoden unseres Jahrhunderts wurden den Ergebnissen der Unter-
suchungen Scarpas einige neue Details hinzugefügt. Zwar bediente sich
auch Scarpa des Mikroskopes *), welches seit Harveys Zeiten fast alle
hervorragenden, namentlich die italienischen Anatomen verwendeten, doch
entbehrte das Instrument damals noch jener Vollkommenheit, die es zur
wissenschaftlichen Beobachtung der feinsten Elemente in den Sinnesorganen
erst geeignet macht. Der Fortschritt der Technik bahnte hier, wie über-
haupt in der Medizin, den Fortschritt des Wissens an.
Scarpa verdankte die großen Resultate seiner Gehöranatomie der
vergleichenden Anatomie, die er mit besonderer Vorliebe betrieb. Die
schönen Vorarbeiten auf diesem Gebiete, die unter anderen Geoffroy,
Galvani, Camper, Vicq-d'Azyr, Kölreuter, Monro und Hunter
geliefert hatten, waren für ihn ein Ansporn, diese zu erweitern und zu
berichtigen. Eine großzügige naturphilosophische Auffassung ganz im
Darwinschen Geiste leitete ihn bei der Auffindung des häutigen Laby-
rinths. Von der Untersuchung der niederen Tierklassen ausgehend,
denen einzelne oder alle sonstigen Bestandteile des menschlichen Gehör-
organs fehlten, gelangte er zu Resultaten, die zur Entdeckung des häutigen
Labyrinthes beim Menschen führten.
*) Wie vor ihm Vieussens, Morgagni u. a.
Scarpa.
265
Das Werk zerfällt in drei Abteilungen, die erste ist dem Gehör-
organ der Tiere (Insekten, Würmer, Knorpelfische, Schuppenfische, Am-
phibien, Reptilien und Vögel) gewidmet, die zweite dem Gehörorgan des
Menschen. Letztere, die uns näher beschäftigt, basiert auf der vorher-
gehenden Abteilung.
Das erste Kapitel (der IL Abt.) gibt eine Uebersicht über den Bau
des knöchernen Labyrinths nach dem Stand der damaligen Forschung,
ohne daß Scarpa auf die von ihm neu entdeckten Details besonderes
Gewicht geleert hätte.
Fig. 12. Photogr. Reproduktion aus Scarpas Werk. Taf. VI, Fig. 5. Die häutigen
Bogenröhren , ihr gemeinschaftlicher Schlauch, das runde Säckchen des Vorhofs,
a. Die obere häutige Bogenröhre. b. Die hintere häutige Bogenröhre. c. Die
äußere häutige Bogenröhre. d. Das Bläschen der oberen häutigen Bogenröhre.
e. Das Bläschen der äußeren häutigen Bogenröhre. f. Das Bläschen der
hinteren häutigen Bogenröhre. gg. Der gemeinschaftliche Schlauch der häutigen
Bogenröhren. h. Der gemeinschaftliche Kanal der oberen und hinteren Röhre.
i. Das andere Ende der äußeren häutigen Bogenröhre. k. Das runde Säckchen
des Vorhofs geöffnet. 1. Der Hörnerv, wie er sich an die Bläschen des oberen
und äußeren häutigen Bogengangs verteilt, m. Der Hörnerv, wie er sich auf dem
Schlauche der häutigen Bogengänge verbreitet, n. Ein Bündel des Hörnerven für
das Bläschen des hinteren häutigen Bogengangs, o. Die Breisubstanz des Hör-
nerven, welche den Grund des sphärischen Säckchens überzieht, p. Die Vertiefung
des runden Fensters, q. Die Paukentreppe, r. Die Vorhofstreppe, s. Die Schnecke.
Zu diesen gehört die klare, kurze Beschreibung der beiden Kecessus
des inneren Gehörgangs, ferner der Fovea hemisphaerica und F.
hemielliptica an der Innenwand des Vestibulum, der Bogengänge,
der Lamina spiralis, des Tractus spiralis foraminulentus etc.
Scarpa wußte zuerst, daß die beiden Gruben des Vorhofs, deren Zweck
keiner der vorausgehenden Anatomen kannte, zur Aufnahme von Bestand-
teilen des häutigen Labyrinths diene, ferner wußte er, weshalb der Ein-
gang der Bogengänge ampullenförmig gestaltet sei, daß das obere Blatt
der Lamina spiralis gekerbt und gefurcht, das untere dagegen glatt sei.
Mit besonderer Klarheit schildert er die knöcherne Kegion, die den Ver-
266 Scarpa.
zweigungen des Hörnerven zum Verlauf dient. Er teilte die Nervenlöcher
in zwei Hauptklassen, solche, die zum Vorhof und den Bogengängen, und
solche, die zur Schnecke führen. Die ersteren finden sich an drei verschie-
denen Stellen, im Recessus superior, im Recessus inferior und zwischen
beiden, nahe an der Spina falciformis. Scarpa verfolgte ihren Verlauf
mit peinlichster Genauigkeit bis zur Ausmündung, benannte die „macula
cribrosa" die „foramina propria vestibuli" und vervollständigte die von
Cotugno begonnene Beschreibung des Tractus foraminulentus hinsicht-
lich seiner Struktur und des Verlaufs seiner Kanälchen in der Lamina
spiralis und Schneckenspindel. Wir werden auf diese Verhältnisse bei
Scarpas Schilderung der Nervenverzweigungen noch zurückkommen 13).
Den wichtigsten Teil der Entdeckungen Scarpas enthält das zweite
Kapitel, welches das häutige Labyrinth behandelt. Was Scarpa hier
vorbringt, ist durchwegs neu und erfuhr später nur unwesentliche Er-
gänzung. Damit waren die auf mangelhafter Untersuchung basierten
..Zonae sonorae'' Valsalvas und die „nervige Vorhofsscheidewand" Co-
tugno s für immer abgetan.
Scarpa zeigte, daß das häutige Labyrinth beim Menschen und
den höheren Tierklassen der Konfiguration des knöchernen entspricht
und im wesentlichen aus zwei, in den Vorhofsgruben befindlichen Säck-
chen besteht, von deren hinterem (Sacculus ellipticus, jetzt Utriculus)
die drei häutigen Bogengänge ausgehen. Das elliptische Säckchen be-
schrieb er als die gemeinschaftliche Höhle der Bogengänge; am runden
Säckchen (Sacculus) unterschied er zwei Hälften, von denen die eine
in der runden Vorhofsgrube liegt, während die andere hinausragt und
von der gemeinschaftlichen Höhle der Bogengänge in einem eigenen
Grübchen aufgenommen wird.
Die beiden Säckchen hielt er für völlig voneinander getrennt, der
Ductus cochlearis sowie der Canalis reuniens waren ihm jedoch unbekannt.
Die häutigen Bogenröhren seien vermittelst eines sehr zarten Zellstoffs
an die knöchernen Röhren befestigt*). Um diese Teile und ihren Zu-
sammenhang, die er mit Vergrößerungsgläsern untersuchte, noch sicht-
barer darzustellen, bediente er sich der Injektion11).
Scarpa kannte nicht bloß das Labyrinthwasser im Sinne Cotugnos,
d. h. die Perilymphe, sondern auch die Endolymphe, die eben erst nach
Auffindung des häutigen Apparats entdeckt werden konnte. Durch die
wässerige Flüssigkeit erscheinen die Bläschen und häutigen Bogengänge
durchsichtig, so daß sie einer mangelhaften Untersuchung leicht entgehen
konnten1'1). Außerdem fand er bereits den Ohrsand, den er mit den
*) Bekanntlich schrieb sich Rüdinger die Entdeckung zu, daß die häutigen
Bogengänge wandständig an den knöchernen befestigt seien.
Scarpa. 267
Ohrsteinchen der Fische und Amphibien identifizierte ; jedoch modifizierte
er später sein Urteil, indem er den länglichen weißen Fleck am Grunde
des Sacculus als Ausbreitung des Gehörnerven auffaßte.
Mit großer Genauigkeit beschrieb Scarpa auch die Schnecke, in
deren Schilderung er Cotugno übertrifft: vorzüglich sind insbesondere
die Maßangaben der Schnecke und die Beschreibung der Kanäle in der
Spindel. Irrtümlich ist dagegen die Annahme, daß das Spiralblatt bereits
unter der Hälfte der zweiten Windung in das Rostrum laminae spiralis
übergehe.
Was die häutigen Teile der Schnecke anbelangt, so faßte er
die Lamina spiral. membranacea als Duplikatur des Periosts des Spiral-
gangs auf und ließ sie aus zwei Substanzen bestehen, wovon die eine
eine Mittelkonsistenz zwischen Knorpel und Haut, die man lederartig nennen
könnte, besitze, die andere aber ganz häutig, fast schleimig sei. Diese sei
am Rande durchsichtig und im Aeußeren einem mit wässeriger Flüssigkeit
gefüllten Röhrchen nicht unähnlich*). Der Rand, mit dem das häutige
Spiralblatt mit dem knöchernen zusammenhänge, habe viele kleine Kanäle,
die sich in jene fortsetzen, die aus der Spindel in die Paukentreppe ein-
treten und zwischen den zwei Platten des knöchernen Spiralblattes ver-
laufen. Xoch klarer als Vieussens und Cotugno stellte Scarpa die
Verbindung der beiden Treppen dar, die Cassebohm so kompliziert
geschildert hatte. Selbstverständlich fand er auch in der Schnecke das
Labyrinthwasser, welches das Spiralblatt wie zwei Wasserströme ein-
schließe.
Das dritte Kapitel handelt speziell über den Gehörnerven, von
seinem Ursprung aus markigen Streifen des vierten Ventrikels bis zu
den feinsten Verzweigungen seiner beiden Aeste, des Vorhofs- und
Schneckennerven. Den Verlauf des letzteren gibt Scarpa folgender-
maßen an. Die Grübchen der Macula cribrosa und alle die einzelnen
größeren und kleineren Löcher haben auf ihrem Grunde wiederum viele
andere Löcher, die zu ebensovielen knöchernen Kanälen führen, unter
denen die von dem ersten Umgang des löcherigen Spiralgangs abstam-
menden zur ersten , die vom zweiten Umgang ausgehenden aber zur
zweiten Schneckenwindung gelangen. Der durch die Achse der Spindel
ziehende Zentralkanal gelangt bis zur äußersten Spitze der Spindel und
zum Trichter der Schnecke. Ebenso verhält es sich mit der Verteilung
des Schneckennerven. Durch die Löcher der ersten Windung des Spiral-
zuges dringen die größeren Nervenfäden in die Kanälchen der Spindel
bis zur Spiralplatte der ersten Schneckenwindung, treten dann divergierend
zwischen die Blätter der Spiralplatte, anastomosieren untereinander, lösen
*) Dies würde unserem heutigen Ductus Cochlea ris entsprechen.
Scarpa.
sich pinselartig auf und gehen zu dem weichen Teile der Platte, um mit
sehr feinen und weißen Streifen zu endigen. Durch die feineren Löcher
der zweiten Windung des Spiralzugs treten andere Fäden des Gehör-
nerven in die Spindel ein, gehen bis zur zweiten Windung des Spiral-
gangs in seiner Substanz fort, biegen dann um, dringen in den Spiral-
gang und endigen auf dieselbe Weise in der Spiralplatte. Durch den
Zentralkanal ziehe ein stärkerer Strang bis zur dritten Windung, und
verliert sich in der letzten Halbwindung der Spiralplatte.
Ebenso ausführlich und sorgfältig verfolgte Scarpa die drei
Zweige des Vorhofsnerven bis zu der früher angenommenen Nerven-
pulpa der Ampullen. Die Verbreitung des mittleren Bündels des Vor-
hofsnerven im Sacculus hemisphaericus verglich er mit der Ausbreitung
des Sehnerven, denn auch dieser letztere begebe sich durch kleine Löcher
in die häutige Kugel des Auges und werde hier ebenfalls zu einem
Schleim (Nervenpulpa), der sich allenthalben an dem Grunde und an
den inneren Wänden des Auges anhefte.
Auf Grund dieser anatomischen Entdeckungen folgt im vierten
Kapitel eine Theorie des Hörens, die sich im Gegensatz zu Cotugnos
Hypothese, durch Schlichtheit des Aufbaus der modernen einigermaßen
nähert.
Nach Scarpa ist die Basis des Steigbügels im Vorhofe so an-
gebracht, daß sie gleichsam im Mittelpunkte liegt, und gegen die gemein-
schaftliche Höhle der Bogengänge, gegen das sphärische Säckchen des
Vorhofs und gegen die Mündung der Vorhofstreppe gerichtet ist. Die
Schallschwingungen, die somit vermittelst des Steigbügels in den Vorhof
gelangen und dem Labyrinthwasser mitgeteilt werden, treffen in erster
Reihe den gemeinschaftlichen Schlauch der Bogengänge und das sphärische
Säckchen. Von hier pflanzen sich die Schallwellen auf die Perilymphe
der Bogengänge und auf die Endolymphe des Säckchens und der häutigen
Bogengänge fort, und erregen so die in ihnen ausgebreitete Nerven-
pulpa. Aus der Anordnung der Anfangs- und Endmündungen der Bogen-
gänge zieht Scarpa den Schluß, daß die Pulpa der Ampullen und der
gemeinschaftlichen Höhle stärker von den Schallschwingungen getroffen
werde, als die übrigen Nerven des Vorhofs. Die Erschütterung der
Flüssigkeit in den Bogenröhren, den Ampullen und den Säckchen wieder-
hole sich, so oft der Steigbügel das Labyrinthwasser erschüttert.
Das Spiralblatt der Schnecke wird — da die eine Treppe in den
Vorhof mündet, die andere vom runden Fenster ihren Anfang nimmt,
beide mit Labyrinthflüssigkeit gefüllt sind und an der Spitze der Schnecke
miteinander kommunizieren — von den Schallschwingungen der Steig-
bügelplatte und zugleich von denen, welche die Membran des runden
Fensters treffen, auf seinen beiden Seiten erschüttert und nebst den pinsel-
Scarpa. 269
förmig auf ihm verbreiteten Nerven in Schwingung versetzt. Der Um-
stand, daß die Nervenpulpa in besonderen Kanälen und häutigen Säckchen,
die in dem Wasser des Labyrinths schwimmen, enthalten ist, bewirkt,
daß sie selbst stärkere Erschütterungen ohne Störung verträgt.
Vom vergleichend-anatomischen Standpunkt ist noch ein Zusatz der
Theorie Scarpas von großem Interesse, der sich auf die verschiedenartige
Endigung des Vorhof- und Schneckennerven bezieht: Bei allen Tierklassen
von den Schuppenfischen bis zum Menschen sehen wir den Gehörnerven
in zwei Teile geteilt, nämlich den pulpös endigenden und den verästelten.
Dem letzteren ist immer noch eine Vorrichtung zugegeben , wodurch er
stärker als der pulpös endende in Bewegung versetzt werden kann. Bei
den Tieren, denen die Schnecke und das runde Fenster fehlt, wird nämlich
der ästige Teil des Gehörnerven durch Steinchen von kreideartiger Sub-
stanz unterstützt, damit die Schwingungen dieser Körper die Nervenfäden
lebhafter in Erschütterung versetzen , als es das Wasser des Vorhofs
vermöchte.
Vorstehende Ausführungen ergänzen die in Scarpas Erstlingswerke
„De membrana tympani secundaria" enthaltenen Anschauungen. Be-
merkenswert und auffallend ist namentlich der Umstand, daß Scarpa
die Wasserleitungen Cotugnos unerwähnt und in seiner Theorie gänzlich
unberücksichtigt läßt, ein Vorgang, der nach unseren jetzigen An-
schauungen, soweit sie den Hörakt betreffen, ganz berechtigt war.
') De structura fenestrae rotundae auris et de tympanos secundario anatomicae
observationes, Mutinae 1772. Anatomicarum annotatianuin liber primus de nervoruni
gangliis et plexibus, Mutinae 1779. Pic reg. et Mediol 1792.
2) Videtur enim natura hujusce particulae praesidio alteram, quasi dicerem
intimiorein aurem, niinoremque internae, majorique auri adjunxisse, ut sonori tre-
mores adaugerentur, et facilius ad möllern nervi acustiei substantiam pervenirent.
Praefatio, 12. 13.
3) Kap. 2 u. 3 bilden die Ausführung zu den Schlußsätzen des 1. Kapitels:
Et sane nobis tria statuenda occurrerunt : I. Germanam fenestrae rotundae structuram
nondum expositam fuisse, quam idcirco damus. II. Occludenti ejusdem membranae
Tympani minoris, aut Secundarii nomen ob suam conformationem convenire. III. De-
mum Tympanum hoc Secundarium auditui perfectiori inservire, ut eo potissimum
usa fuisse natura videatur, quotiescumque alia defecerint instrumenta.
4) 1. c. Cap. 2, § 4. Non enim difficile fuerat vetustioribus circa structuram
fenestrae ita hallucinari, ut apertam semper et patulam eamdem fecerint. Hnjusmodi
sese offert explorantibus aures longo tem{)oris spatio exsiccatas, in quibus quidquid
membranacei est penitus absumptum fuerat, ac labefactatum.
5) Cap. 2, § 6—8.
6) Cap. 2, § 8. Quoniam vero osseum Cochleae tuber aetate crassescit, inde
saepissime fit, ut foramen fenestrae rotundae in senibus angustetur, et posterius in
tantum vergat, atque aversum fit membranae tympani, ut canaliculum spectet, intra
quod stapedis musculus sese occultat.
7) Cap. 2, § 12. Verum sedula adhibita administratione cuilibet Anatomiae
270 Scarpa.
cultori facile erit conspicere fenestram hanc, sicuti exterius, interius quoque figuram
triangulärem exhibere. . . .
R) Cap. 2, § 12. Quam enim fenestram rot und am vocant, non ea foramen est,
ut ajebant, sed conicus quidam canalis. ... § 13. Neque haec tantummodo in ossea
i'enest rae parte animadvertimus, sed in sulcum quemdam incidimus. . . . Sulcus hie
manifestissimus ei fit, qui per fenestram oblique intra canalem inspiciat.
s) Tantam esse membranae huic cum tympano affinitatem, ut tympani minoris,
seu seeundarii nomine possit insigniri. Diese Bezeichnung haben auch schon vor ihm
Schaarschmid und andere gebraucht (Tab. Anat. Splanc p. 160). Cap. 2, § 19.
I0) Cap. 3, § 23. Igitur bina in aure tympana sunt externos sonos ad laby-
rinthum, et ab hinc ad proximam auditus sedem deferentia. Alterum anterius com-
positius , omnibusque notum , posterius alterum simplicius, et a nobis nunc in lucem
constitutum. Illud externas auris undulationes per auditorium meatum ab auricula
advenientes excipit, deinde tremens eas aeri proximam cavitatem oecupanti. et per
ossiculorum machinamentum communicat aquae vestibulum obsidenti, cui semicircu-
larium canalium, et scalae augustioris ostia respondent. Hoc vero tremores aeris
interioris a primarii cavo tamquam ab auricula collectos ope canaliculi meatus
auditorii viribus fungentis suseipit. . . .
n) Cap. 3, § 21. Immo quemadmodum retro membranam primarii cavitatem
aperuit, ita retro seeundarium tympanum spatiolum posuit, intra quod ejus oscilla-
tiones sese difunderent.
12) Disquisitiones anatomicae de auditu et olfactu. Ticini et Mediolani 1789.
Fol. c. tab. aen. II. ed. 1792, 1795. Französisch: Recherches anatomiques et physio-
logiques sur l'organe de l'oui'e; par J. Tour des, Sedillot. rec. period. de la soc.
de sante de Paris, Vol. IV. Deutsch: von Ch. H. Th. Schreger, Anton Scarpas
anatomische Untersuchungen des Gehörs und Geruchs. A. d. Latein. Mit Kupfern.
Nürnberg 1800.
13) Den Verlauf der Kanälchen in der Schneckenspindel schildert, Scarpa nach
Schregers deutscher Uebersetzung folgender Art: Sect. II, Cap. 1, § 15, p. 75. „An-
fangs gehen sie fast perpendikulär, wie dies jene in der Paukentreppe befindlichen,
inwendig hohlen Fäden, welche eben der äußeren Schale der Spindel das rauhe Aus-
sehen verleihen, deutlich zeigen; sobald aber diese Kanälchen an die Wurzel des
knöchernen Spiralblatts kommen, verändern sie ihre Richtung, gehen von der Spindel
ab und schlagen sich zwischen die zwei Platten des Spiralblattes. Daselbst trennen
sie sich mehr als einmal wieder in andere noch kleinere Röhrchen, werden ästig
und öffnen sich mit äußerst engen Mündungen auf das feinste an dem freien Rande
des knöchernen Spiralblattes. . . . Das letzte Halbgewind des Spiralblattes nimmt
hingegen nur ein einziges, doch verhältnismäßig sehr weites Röhrchen auf. Dieses
weitere Röhrchen geht von demjenigen größeren Loche, das sich in dem Mittelpunkt
der Grundfläche der Spindel vorfindet, durch die Achse der Spindel zum Häkchen
(hamulus) und zum äußersten Ende des Spiralblattes. "
14) Zu diesem Zwecke wählte ich drei- und viermonatliche Früchte, wo das
Labyrinth schon gehörig ausgebildet und die Bearbeitung der knöchernen Teile weder
allzuschwer, noch mühsam ist, auch außerdem die häutigen Bogengänge und ihre
gemeinschaftliche Höhle bei der Untersuchung den Vorteil verschaffen, daß sie des
zarten Alters ungeachtet doch weit dickere und festere Häute haben, als im Er-
wachsenen. Hier öffnete ich das Labyrinth von der Seite |des eirunden*) Fensters,
nahm ein Vergrößerungsglas vor das Auge, und spritzte blau gefärbtes Wasser ver-
*) Ovalen.
Comparetti. 271
mittelst der Anel'schen Spritze durch das Bläschen des hinteren Bogengangs ein.
Jetzt sah ich zu meinem Vergnügen das ganze gemeinschaftliche Bett im Vorhofe
mit den drei Bläschen der Bogengänge sich sogleich erheben, und durchaus blau
unterlaufen aufschwellen." 1. c. p. 82.
15) 1. c. Cap. 2, § 8. p. 82.
Andrea Comparetti, ein Zeitgenosse und Landsmann Scarpas,
wurde im Jahre 1746 zu Vicinale in Friaul geboren; er studierte zu
Padua Medizin, wo der berühmte Morgagni sein Lehrer war. Nachdem
er den Doktorgrad erreicht hatte, praktizierte er in Venedig und erhielt
nach dem Tode Bianchinis eine Berufung an die Universität Padua,
wo er als Professor der praktischen Medizin Avirkte. Er starb am 22. De-
zember 1801.
Von den zahlreichen Schriften, die Comparetti teils den Natur-
wissenschaften, teils der Anatomie und praktischen Medizin widmete,
interessieren uns hauptsächlich seine .,Observationes anatomicae de aure
interna comparata" (Patavii 1789)*), ein Werk, welches Chladni für
eine der vorzüglichsten Arbeiten über das Gehörorgan des Menschen
und der Tiere erklärte. Da Scarpas Arbeit über den gleichen Gegen-
stand aus demselben Jahre datiert, scheint die Feststellung nicht un-
wichtig, daß Comparetti die „Disquis. de audit. ac olfac.'* von Scarpa
bereits kannte, wie aus dem Schlüsse des Vorwortes hervorgeht. Dies
schmälert indes keineswegs das Verdienst Comparettis, vielmehr liefert
sein umfangreiches Werk beredtes Zeugnis von dem emsigen Fleiße, der
unermüdlichen Ausdauer und der bewunderungswürdigen Beobachtungs-
gabe des Autors.
Die Untersuchungen Comparettis beziehen sich auf alle Teile des
Gehörorgans ohne Ausnahme, indem er dessen Topographie, Morpho-
logie, Dimension und andere physikalische Qualitäten beim Menschen und
bei den verschiedenen Spezies aller Tierklassen eingehend untersucht,
untereinander vergleicht und zum Schlüsse Betrachtungen über die Physio-
logie und Pathologie des Ohres anstellt.
Die ersten sechzig Beobachtungen umfassen das menschliche Gehör-
organ, die übrigen acht sind der vergleichenden Anatomie gewidmet.
Da Comparetti aber aus dieser großen Zahl von Beobachtungen kein
umfassendes Gesamtbild liefert, sondern jede Sektion einzeln Avohl sorg-
fältig aber zu weitsch weifig und ohne Selbstkritik beschreibt, so fehlt
seiner Arbeit die Präzision und Uebersichtlichkeit, die Scarpas Meister-
werk so auszeichnet. So verweilt er oft bei unwichtigen Details über-
mäßig lange und ermüdet den Leser durch Mitteilung zahlreicher
inkonstanter Messungen der einzelnen Abschnitte des Gehörorgans,
*) Nicht im Jahre 1789, wie auf dem Titel angegeben, sondern erst 1791 er-
schienen.
Comparetti. Antonio Caldani.
während wichtige Daten flüchtig behandelt werden. Die dem Text bei-
gegebenen Abbildungen sind roh und unkünstlerisch und vermögen die
Beschreibungen nicht genügend zu illustrieren. Diese Schattenseite der
immerhin wertvollen Abhandlung mag auch der Grund sein, daß wir sie
trotz der großen Gelehrsamkeit, die Comparetti in ihr entwickelt, bei
den zeitgenössischen und späteren Autoren wenig erwähnt finden.
Die wichtigsten Punkte über die Physiologie und Pathologie des
Gehörorganes, denen er am Schlüsse des Werkes unter dem Titel „Con-
siderationes" einige Seiten widmet, mögen hier kurz erwähnt werden.
Comparetti bemerkt wohl ganz richtig, daß bei obliterierter Tube Luft-
verdünnung in der Trommelhöhle entsteht, ist aber nicht im klaren
darüber, warum dann Schwerhörigkeit eintrete, da, wie er meint, ver-
dünnte Luft den Schall besser leite ; er übersieht hierbei vollkommen, daß
infolge des Ueberwiegens des äußeren Luftdruckes Trommelfell und Ge-
hörknöchelchenkette nach innen gedrängt werden und infolge der ein-
seitigen Belastung einen Teil ihrer Schwingbarkeit einbüßen r). An einer
anderen Stelle2) pflichtet er der irrtümlichen Ansicht Hallers bei, daß
wegen der Schrägstellung des runden Fensters die Luftschalleitung durch
die Trommelhöhle nicht in Betracht kommen könne.
Comparettis Hörtheorie klingt phantastisch und entbehrt jeder
realen Begründung. Versteigt er sich doch zu der Hypothese, daß die
Zahlen 2, 3 und 5, welche bei den Tönen eine große Rolle spielen, sich
bei dem Aufbau des Labyrinthes wiederholen : 2 Treppen, 3 Bogengänge,
5 Mündungen 3), und daß die Bogengänge in den Verhältnissen der Oktav,
Terz und Quint angelegt sein sollen.
Die Bemerkungen Comparettis über die Pathologie des Ohres
enthalten nur unwesentliches Detail. Er bespricht ausführlich die ver-
schiedenen Arten der subjektiven Geräusche und die wechselnden Ur-
sachen ihres Entstehens (Syrigmus a plethora, a debilitate, ab oxyecoia etc.) 4).
Seine Ansichten von dem Wesen der Gehörerkrankungen sind noch in
manchem Irrtum befangen und überragen das Niveau seiner Zeit-
genossen nicht.
') 1. c. p. 334. Si tuba obstructa et aere interno rarefacto in eodem spatio,
auditus gravitas et surditas; annon ab aeris interioris resistentia id fiat? etc.
2) 1. c. p. 334.
3) 1. c. p. 341.
4) 1. c. p. 349.
Leopoldo Marc Antonio Caldani (1725 — 1813), ebenfalls ein
Schüler Morgagnis, wurde 1755 als Professor der Anatomie und
Medizin an die Universität Bologna berufen. Nach dem Tode Morgagnis
folgte er diesem auf dem Lehrstuhl der Anatomie zu Padua, den er
durch 40 Jahre in Ehren bekleidete.
Antonio Caldani. Floriano Caldani. 273
Seine auch in andere Sprachen übersetzten „Institutiones physio-
logicae" zeigen Caldani auf der Höhe seiner Zeit, da er die neuen
anatomischen Entdeckungen Cotugnos und die gehörphysiologischen
Ansichten Hallers ganz und voll akzeptiert, wodurch sein Werk sich
rühmlich von den einschlägigen zeitgenössischen Arbeiten unterscheidet.
Wir greifen aus diesem Werke nur das Bemerkenswerteste heraus.
Caldanis anatomische Beschreibung des Trommelfells basiert
noch auf der Annahme, dieses und das eigentliche Häutchen werde
durch die Beinhaut des äußeren Gehörganges und der Trommelhöhle
gebildet. Er sieht die Auskleidung der letzteren für eine von der harten
Hirnhaut stammende Periostlage an. Von den Binnenmuskeln des Ohres
hält er ganz richtig nur den M. tensor tymp. und M. stapedius für sicher-
gestellt.
Hingegen ist seine Ansicht, daß der Tensor tymp. das Trommelfell
je nach Bedarf Avillkürlich spannt und erschlafft, ebenso irrig, wie die,
daß der Muse, stapedius die Stapesplatte in das ovale Fenster hineindrücke.
In der Schilderung des Baues der Schnecke lehnt er sich an seine
Vorgänger an. Die membranöse Spiralplatte hält er für eine Ver-
längerung der das Schneckeninnere auskleidenden Beinhaut (Endost).
Die beiden Treppen kommunizieren an der Spitze der Schnecke. Er
akzeptiert die neue Entdeckung Cotugnos, der die Labyrinthhöhle mit
Flüssigkeit erfüllt fand, und gibt, um sich von der Richtigkeit dieser
Tatsache zu überzeugen, folgenden Versuch an. Man feile an der
Schneckenspitze so viel vom Knochen ab, bis eine kleine Oeffnung ent-
stehe. Uebt man auf das Stapesköpfchen einen leichten Druck aus, so
sieht man die Flüssigkeit in der Schneckenöffnung emporsteigen. Die
Entdeckungen Scarpas sind ihm noch nicht bekannt, da er von einer
Haut im Vestibulum spricht, die dieses auskleide und, wie es scheint,
auch im Vestibulum schwebe.
Als perzipierendes Organ für den Schall betrachtet er die Schnecke,
weil sich in dieser Nervenfaden von verschiedener Dicke ausbreiten, die
an der Basis länger, an der Spitze kürzer und möglicherweise auch ver-
schieden gespannt sind. Die Schnecke könne daher — falls die bis dahin
nur hypothetisch angenommenen Nervenfäden existieren — mit einer
Geige verglichen werden, deren Saiten mit den harmonischen Tönen
gespannt werden.
Floriano Caldani, ein Neffe des vorigen, der nach dem Tode seines
Onkels dessen „Icones anatomicae", Venet. 1813, herausgab, beschäftigt
sich in seinem „Osservazioni sulla membrana del tympano e nuove ricerche
sulla elettricitä animale", Padua 1799, betiteltem Werke eingehender mit
dem Baue des Trommelfells. Er ist der erste, der sich zur Erkenntnis
der feineren Struktur der Membran eines verbesserten Mikroskops bedient.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 18
274 Floriano Caldani.
Auf die einschlägigen Arbeiten seines Onkels zurückgreifend, schil-
dert er das Trommelfell aus vier Schichten zusammengesetzt. Es sind
dies die äußere Epidermislage, die Cutisschichte des äußeren Gehörgangs,
das Periost der Membran (subst. propria) und eine kurze Zellschichte,
die diese Lamellen verbindet r).
Die eigentliche Haut des Trommelfells besteht aus zwei sich kreu-
zenden Lagen, von denen die eine zirkulär, konzentrisch geschichtet
ist, während die andere in radiärer Anordnung von der Mitte der
Membran gegen die Peripherie gerichtet ist2). Das Geschilderte wird
durch eine Abbildung (Taf. I, Fig. 1) veranschaulicht. Der jüngere
Caldani ist demnach der erste, der die radiäre und zirkuläre Faser-
schichte des Trommelfells erkannt hat.
An der Oberfläche der Innenseite frischer Trommelfelle fand er
kleine punktförmige Körperchen, die er irrtümlich für Drüschen hielt, die
aber zweifellos nichts anderes sind als die von Ger lach beschriebenen
Papillen auf der Schleimhautschichte des Trommelfells.
Im zweiten Teile seiner Abhandlung teilt Caldani die Resultate
seiner vergleichend-anatomischen Arbeiten über das Gehörorgan der Vögel
mit und weist auf die Tatsache hin, daß das runde Fenster bei den
Vögeln größer sei als das ovale und auch größer als das runde Fenster
beim Menschen und bei den Vierfüßern. Er tritt der Ansicht entgegen,
daß die schräge Stellung der Membran des runden Fensters zum Trommel-
felle einen Einfluß auf die Schallfortpflanzung durch die Trommelhöhle
habe, da die Schallwellen sich durch die das Cavum tymp. erfüllende
Luft nach allen Richtungen ausbreiten 3).
Caldani hat auch die Membran des runden Fensters untersucht
und gefunden, daß sie aus zwei sich kreuzenden Faserschichten bestehe,
doch ist die Anordnung dieser Schichten ganz verschieden von den zwei
Faserschichten des Trommelfells.
Zum Schlüsse sei hier noch auf eine Abhandlung L. Galvanis „De volatilium
aure" *) hingewiesen, die das Gehörorgan der Vögel zum Gegenstande hat. Besonders
hervorzuheben ist die durch vortreffliche Abbildungen illustrierte Beschreibung des
membranösen Labyrinths der Vögel, die sich würdig der Entdeckung des
membranösen Labyrinths beim Menschen durch Scarpa anreiht. Ob Scarpa, wie
manche behaupten, bei der Publikation seiner Entdeckung die Arbeit Galvanis
bekannt war, läßt sich nicht entscheiden. Dagegen spricht die anerkannte Gewissen-
haftigkeit Scarpas, mit der er die Leistungen anderer zitiert.
]) S. 3: „Ora perö comunemente s'insegna che quattro sono le laminette com-
ponenti la membrana del timpano. cioe la cuticola, e la cute del meato uditorio,
il periostio del timpano, ed una brevissima cellulare che unisce queste lamine
vicendevolmente. "
*) Opere edite e non edite de Professore Luigi Galvani, raccolte e publicate
per cura Dell Accademia della scienza dell' instituto di Bologna 1841.
Vieussens. 275
2) S. 5: „essa e composta come di clue strati di fibre, che s'incrocicchiano le
une perpendicolarniente alle altre, com'e facile ravvisare nella Fig. 1 della Tav. I.
Uno degli strati c di circolari concentriche, l'altro di radiate, che dal punto di, mezzo
della membrana si portano alla circonferenza: comprendono esse fra di loro degli
spazi piccolissimi e sernpre decrescenti in grandezza, accostandosi verso il centro."
3) S. 33: „che non possa esser percossa la membrana di cpuesta fenestra, stante
ch' essa e posta un poco posteriormente ; ma quando mi si voglia concedere che dalle
oscillazioni della membrana de! timpano viene posta in tremori l'aria tutta che
riempie la cavitä del timpano stesso."
Frankreich.
Nach dem Tode Duverneys am Ausgang des 17. Jahrhunderts
findet die Ohranatomie in Frankreich kaum einen Bearbeiter, der den
Vergleich mit Cotugno oder Scarpa bestehen könnte. Dionis, ein
Schüler Duverneys, gibt in seiner ,,L' Anatomie de l'Homme etc.",
Paris 1705, einen kurzen Abriß über den Bau des Gehörorgans, der
sich ganz an den Traktat Duverneys anlehnt und nur die eine von
diesem abweichende Bemerkung enthält, daß die beiden Skalen der
Schnecke an der Spitze kommunizieren, was Duverney bestritten hat.
Von den französischen Anatomen, die sich durch Entdeckungen auf
anderen Gebieten der Anatomie großen Ruhm erwarben, aber auch das
Gehörorgan in den Kreis ihrer Untersuchungen zogen, ist in erster
Linie Raymond Vieussens zu nennen, dem sich Forscher von minderer
Bedeutung wie Le Cat, Senac, Geoffroy, Lieutaud, Vicq d'Azyru. a.
anschließen.
Raymond Vieussens. Abgesehen von den sonstigen Verdiensten
dieses Autors um die Wissenschaft, fesselt seine literarische Fehde mit
Morgagni über den Wert und die Bedeutung der Valsalvaschen Ent-
deckungen das historische Interesse.
Raymond Vieussens, einer der hervorragendsten Anatomen
Frankreichs, der sich besonders durch seine wertvollen Beiträge zur
Lehre des Nerven- und Gefäßsystems einen rühmlichen Namen er-
worben hat, wurde 1G41 in einem Dorfe der Rouergue (im südlichen
Frankreich) geboren. Er war Arzt am Hospitale St. Eloy zu Montpellier,
später Leibarzt der Prinzessin von Montpensier zu Paris , nach deren
Tode er in seine frühere Stellung nach Montpellier zurückkehrte. Er
starb 1715.
In der Otologie wurde Vieussens besonders wegen seiner Epistola
ad Societ. reg. Lond. missa de organo auditus (Philos. transact. 1699,
Vol. XXI, p. 370) vielfach genannt, die in dem erst 1714 zu Toulouse
erschienenen Werke „Traite nouveau de la structure de l'oreille" Er-
gänzung fand.
Dieses Werk ist zum Teile eine Streitschrift gegen Valsalva, in der
276 Vieussens.
er die Priorität mehrerer Entdeckungen dieses Forschers bestritt, indem
er darauf verwies, daß dieselben in dem genannten Brief an die Londoner
Akademie enthalten wären. Diese Behauptung hat sich, wie Morgagni
schlagend nachwies, als unrichtig erwiesen, da die Entdeckungen Valsalvas
vor denen Vieussens' bereits bekannt waren. Auch sonst reicht das
Buch Vieussens' nicht an das Valsalvas hinan, da es zahlreiche Irr-
tümer enthält und auch die richtigen Angaben hinter so dunklen Be-
schreibungen verbirgt, daß es selbst den Zeitgenossen nur mit Mühe
lesbar war. Auch die beigefügten Abbildungen x) entbehren nahezu jedes
wissenschaftlichen Wertes.
Vieussens unterschied wie die älteren Anatomen ein äußeres und
ein inneres Ohr. Zum ersteren rechnet er nur die Ohrmuschel, den
äußeren Gehörgang und das Trommelfell, zum inneren Ohr das ganze
Mittelohr und das Labyrinth mit dem Hörnerven.
Die Konfiguration der Ohrmuschel mit ihren Muskeln, von denen
er sich die Entdeckung der Muse, tragi und antitragi vor Valsalva
zuschreibt, sowie die Struktur der die Ohrmuschel bedeckenden Haut,
ihre Gefäße und Nerven werden ohne Vorbringung neuer Details aus-
führlich geschildert und der Nutzen der Ohrmuschel weitläufig erörtert.
Das Trommelfell ist nach Vieussens nur eine Fortsetzung der
Auskleidung des äußeren Gehörgangs 2) , es ist aus zwei Lamellen zu-
sammengesetzt. Seine Verletzung schädigt das Gehör nicht nur infolge
der äußeren Schädlichkeiten , denen die Trommelhöhle ausgesetzt ist,
sondern auch wegen der nun verminderten Spannung der Luftsäule in
der Trommelhöhle.
Die Beschreibung der Trommelhöhle (tambour) ist so kompliziert
und verworren, daß es unmöglich ist, sich aus ihr ein Bild der betreffenden
anatomischen Verhältnisse zu konstruieren. Die Fenestra ovalis nennt er
„Porte du Labyrinthe".
Die Auskleidung der Trommelhöhle, die er als „membrane
interne du tambour" im Gegensatz zur „membrane externe du tambour"
(membrana tympani) bezeichnet, wird von einem aus der Carotis stam-
menden Gefäßnetz durchzogen. Am Felsenbein zeigt sie kleine Erhaben-
heiten (bosses), die aus Blut- und nervösen Lymphgefäßen (lymphatiques
nerveux) bestehen. Dieselbe Auskleidung überzieht auch die Gehör-
knöchelchen.
Wie leichtfertig Vieussens seine Schlüsse zieht, ergibt sich daraus,
daß er durch mehrere, am Gehörorgane ausgeführte Versuche zu beweisen
sucht, die das ovale Fenster überziehende Auskleidung der Trommelhöhle
sei so dünn, daß die durch den Tubenkanal einströmende Luft mit
Leichtigkeit die Poren dieser Membran durchdringt und sich
in allen Abteilungen des Labyrinthes ausbreitet3).
Tafel XVII
RAYMOND VIEUSSENS
Vieussens. 277
Die ausführliche Beschreibung der Gehörknöchelchen enthält
keine neuen Details.
Von den Muskeln der Trommelhöhle gilt ihm nur der M.. tensor
tymp. und der M. stapedius für wirklich muskulös, die anderen von den
früheren Anatomen angeführten Muskeln hingegen hält er für Ligamente.
Den Tensor tymp., der nach ihm zwei Ursprünge (totes), einen Bauch
und zwei Sehnen besitzt, nennt er monogastrisch. Er hat die Aufgabe,
das Trommelfell und die Kette der Gehörknöchelchen anzuspannen.
Der Muse, stapedius (petit muscle) bewirkt eine Bewegung der
Stapesplatte nach außen und eine Relaxation des Trommelfells. Die beiden
Binnenmuskeln und das Trommelfell halten die Gehörknöchelchen im
Gleichgewicht. Wie dies geschieht, wird in unklarer Weise des breiten
auseinandergesetzt.
Die Ohrtrompete (Aqueduc) ist kurz und schlecht beschrieben
und durch eine rohe und unrichtige Abbildung (PI. 3) illustriert.
Die Anatomie des Labyrinths leitet eine Schilderung der Bogen-
gänge ein. Ihr Durchmesser ist oval, die Mitte enger als die Enden.
Sie sind sehr hart und werden von einer nervösen Membran ausgekleidet.
Interessant ist die Tatsache, daß Vieussens die Priorität für diese
von Valsalva irrtümlich angenommenen „Zonae sonorae" in Anspruch
nimmt.
Das rundliche Vestibulum (conque) hat drei Linien im Durch-
messer, und besitzt außer den fünf Mündungen der Bogengänge, der
Kommunikationsöffnung der Schnecke und den beiden Labyrinthfenstern
noch zwei Oeffnungen für den Eintritt der Nervenzweige des Acusticus.
Unter diesen Oeffnungen befindet sich eine scharf vorspringende Knochen-
leiste (avance osseuse un peu raboteuse et pointue, que nous appelons
l'eminence osseuse de la conque). Die Wände des Vestibulum sind
gleich den Bogengängen von der nervösen Membran des Hörnerven ausr
gekleidet.
Die Schnecke (coquille), die von Valsalva so klar und anschau-
lich dargestellt ist, wird von Vieussens so verworren geschildert, daß
es unmöglich ist, sich das Bild ihres Baues zu konstruieren, das
Vieussens vorgeschwebt haben mochte. Soviel sich aus dem unklaren
Texte entnehmen läßt, benennt er den Raum zwischen der Membran des
runden Fensters und dem Beginn der Spirallamelle „Carrefour du laby-
rinthe". Die Schnecke teilt er ein in die Grube (la fosse), welche am
Durchtritt des größten Astes des Schneckennerven vom inneren Gehör-
gange aus sich befindet und in den halbovalen Spiralgang (le conduit
spirale-demiovale). Nach einer langen geradezu unentwirrbaren Schil-
derung der einzelnen Schneckenwindungen, die er mit besonderen Namen
belegt, kommt er zu der nicht klareren Beschreibung des von ihm ent-
278 Vieussens. Le Cat.
deckten und seinen Namen führenden Trichters (Scyphus Vieussensii).
Nachdem der Hörnerv an der Spitze hervortritt, nimmt er die Form
eines kleinen ausgehöhlten Körpers an, der membranös erscheint und die
Form eines kleinen Trichters hat4). Komplizierter ist noch seine Schil-
derung der Schnecke durch die Einteilung der Windungen in eine
vordere, mittlere und hintere blinde Kavität (cavite aveugle). Danach
schließt er, daß auch die in der mittleren und hinteren Kavität befind-
liche reine Luft sich immer um die Achse der ersten spiral-nervösen
Lamelle bewegt5).
Trotz seines Festhaltens an der „reinen Luft" im Labyrinthe hebt
er doch als wichtig hervor, daß die Labyrinthhöhle, Bogengänge und
Schnecke eine ansehnliche Menge von Flüssigkeit enthalte, die dazu
diene, das Trockenwerden der membranös-nervösen Gebilde zu verhindern.
Was Vieussens über die Funktion der einzelnen Teile des Laby-
rinthes (p. 88 — 90) und über die Hörstörungen vorbringt, die durch die
Verstopfung oder Paralyse der einzelnen Labyrinthabschnitte entstehen,
ist rein hypothetisch und entbehrt jeder anatomischen Begründung.
*) „Les planches, qui sont au nombre de six sont si mal faites qu'on ne saurait
reconoitre la nature." (Portal Hist. de l'anatoniie etc. Vol. 4, p. 32.)
2) p. 17. En s'y dilatant elles forment cette autre Membrane, qui fait la
cloison de l'extremite du conduit de Tome, et qui separe par consequent l'Oreille
externe d'avec l'interne.
3) p. 29. II est tres-vraisemblable , pour ne pas dire tres-certain, que l'air
exterieur, du moins le plus fin qui vient par l'aqueduc dans le tambour, penetre
assez aisement les pores de cette portion de membrane dont nous venous de parier,
et s'insinue dans les endroits les plus reculez et' les plus cachez du labyrintbe ; d'oü
il peut sortir, suivant toute apparence, avec la meine liberte qu'il y est entre: en
sorte qu'il y a une communication assez libre entre l'air du tambour et celui du
labyrintbe.
4) „Lorsque le nerf auditif est sorti du trou du noyau pyramidal il se change
en un petit corps cave, qui parott tout membraneux ä la vüe, et qui a quelque
rapport par la figure exterieure avec une petite coupe; c'est pourquoi nous l'appel-
lerons, la coupe du nerf mol de l'oreille.
5) „l'air pur contenu dans la mitoyenne et dans la posterieure, se meut toü-
jours ä l'entour de Taxe de la premiere lame spirale-nerveuse.
Nie. Le Cat (1700 — 1765). In seiner Abhandlung über die Sinne*),
deren größter Teil dem Gesichtssinn gewidmet ist, gibt Le Cat, Hospital-
chirurg in Rouen, einen kurzen Abriß über das Gehör, dessen Beschreibung
zum großen Teile seinen Vorgängern entlehnt ist. Die beigegebene Tafel
enthält in roher, zum Teile schematischer Darstellung die Abbildungen
des Trommelfells und der Gehörknöchelchen, des Labyrinths und eine
topographische Uebersicht des ganzen Hörapparates.
*) Traite des Sens. 1742 und 1744.
Le Cat. J. P. Palfyn. 279
Wie in den meisten Abhandlungen jener Epoche wird auch hier
ein großer Abschnitt der Theorie des Schalles eingeräumt. Die ana-
tomische Schilderung des Gehörorgans und seiner Funktion ist mit
einigen Abweichungen dem Claude Perrault entnommen, besitzt jedoch
nicht die diesem Autor eigentümliche Klarheit der Darstelluno-. Dem
Hammer schreibt Le Cat die Eigenschaft zu, das Trommelfell bei
starker Schalleinwirkung zu entspannen, bei schwacher Vibration hin-
gegen anzuspannen. Das innere Ohr (organe immediat) teilt er in das
Labyrinth, zu welchem er das Vestibulum und die Bogengänge zählt,
und in die Schnecke. Auch Le Cat ist noch von der Existenz des aer
implantatus überzeugt und glaubt, daß dieser entweder durch die Porosi-
täten der Membranen der Labyrinthfenster oder durch Ausscheidung der
Flüssigkeit entstehe, welche vom Periost des Labyrinths geliefert werde.
Er erklärt die Hörsensation durch das Zusammentreffen der Vibrationen
dieser Luft in der Mitte eines jeden Kanals 1). Le Cat hebt indes hervor,
daß dem Vestibulum und den Bogengängen mehr die Perzeption der Ge-
räusche (organe general des bruits), der Schnecke hingegen eine höhere
physiologische Funktion zukäme (un usage plus recherche). Er stützt seine
Ansicht auf die ungleiche Spannung der Spiralmembran von der Basal-
windung der Schnecke bis zur Spitze, durch die sie befähigt wird, die
verschiedensten Impulsionen der sie umgebenden Luft (de Fair interieur
qui l'environne) zur Perzeption zu bringen 2).
Den Schluß der Abhandlung bilden einige unwesentliche Bemer-
kungen über Taubheit und Taubstummheit und die Beschreibung eines
von Le Cat konstruierten und abgebildeten Hörrohrs, bestehend aus einem
weiten Trichter und einem in den Gehörgang einzufügenden Schallfänger.
*) S. 59: j,On concoit que l'air etant pousse dans le vestibule, et dans les
embouchures de ces canaux, les vibrations d'air qui ont enfile chaque embouchure,
doivent se rencontrer au milieu de chaque canal, et lä il se doit faire une collision
toute propre ä exciter un freniissement, ou des vibrations dans ces canaux, et dans
la membrane nerveuse qui les tapisse; c'est cette impression qui produit la Sensation
de TOuie."
2) S. 61: „C'est pourquoi je regarde le Limacon cornme le sanctuaire de l'Ouie,
comme l'organe particulier de l'harmonie, ou des Sensations les plus distinctes, et les
plus delicates en ce genre."
Den französischen Autoren des 18. Jahrhunderts, die sich minder ein-
gehend mit der Anatomie und Physiologie des Gehörorgans beschäftigten,
wären noch anzureihen:
Jean P. Palfyn (1650—1730), ein Schüler Boerhaves, seit 1708
Professor der Anatomie und Chirurgie in Gent, liefert in seinem Werke*)
eine Schilderung des Gehörorgans, der wir folgendes entnehmen.
*) Chirurgische Anatomie von J. Palfyn. Deutsche Uebersetzung 1735.
280 J- P- Palfyn. J. B. Senac.
Die Drüsen der Haut der Ohrmuschel sind bezüglich ihres Baues
von denen der übrigen Haut verschieden. Die Ceruminaldrüsen sind
kleine, eirunde Follikel. Von den drei Schichten des Trommelfells
hält er irrtümlich die mittlere (subst. propria) als die blutgefäßreichste.
Bei der Schilderung der Ohrtrompete wird die jüngst gemachte Er-
findung des Katheterismus durch den V.ersailler Postmeister Guyot und
ein von Palfyn selbst konstruierter Ohrkatheter nicht näher beschrieben.
Die Schilderung der zwei Flächen des Hammer-Amboßgelenks stimmt
mit der von Helmholtz vollständig überein. Unser heutiges Ligam.
mall ei ext. hält er wie die meisten seiner Zeitgenossen für einen
Muskel. Durch die Aktion der Binnenmuskeln des Ohres wird die
Luft abwechselnd verdichtet und verdünnt, so daß in der Trommelhöhle
wie in der Lunge ein Ein- und Ausatmen vor sich geht. Er vertritt
noch die Existenz der „inneren Luft" im Labyrinthe, die in den Kanälen
der Schnecke und in den Bogengängen zirkuliert. Der Hörnerv
breitet sich als eine sehr dünne Membran im Labyrinthe aus. Der
Stapes trägt nichts zum Gehör bei, er dient nur dazu, die Stärke der
erschütternden Luft zu mäßigen, indem er den Durchgang für die Luft
mehr oder weniger öffnet. Palfyn steht in dieser Frage somit noch
auf dem Standpunkte Merys.
Jean Baptiste Senac, geb. 1693 zu Lombez in der Gascogne,
Leibarzt König Ludwigs XV. und Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften in Paris, einer der berühmtesten Aerzte des 18. Jahrhunderts,
veröffentlichte unter dem Titel: „L'anatomie d'Heister avec des essais de
physique, sur l'usage des parties du corpg humain, et sur le Mechanisme
de leurs mouvemens," Paris 1724, ein Werk, in welchem die Anatomie
und Physiologie des Gehörorgans zum großen Teile Auszüge aus den
Werken Heisters enthält.
Von den spärlichen selbständigen Ansichten des Autors wollen wir
folgendes erwähnen: Das Trommelfell besteht aus drei Schichten,
deren mittlere er gleich Palfyn irrtümlich für sehr gefäßreich hält,
während die äußere und innere bloß eine Fortsetzung der Epidermis sei.
Die Zellen des Warzenfortsatzes seien mit einer Membran aus-
gekleidet, die allen jenen Organen zukomme, welche die Aufgabe hätten,
eine gewisse Materie zu filtrieren1). Die halbzirkel förmigen Kanäle
fand er mit einer Membran überzogen, die einen bandartigen Streifen zu
bilden scheint, der den Hohlraum des Bogengangs in zwei Teile teilt
und vielleicht identisch ist mit den von Valsalva als „zonae sonorae"
bezeichneten Gebilden.
Gestützt auf die falsche Annahme, daß die Vögel keine Schnecke
besitzen und doch gut hören, schreibt er den Bogengängen eine größere
Wichtigkeit für die Schallperzeption zu als der Schnecke. Diese Ansicht
J. B. Senac. J. Lieutaud. 281
-wird, wie wir sehen werden, von den meisten der zeitgenössischen fran-
zösischen Autoren vertreten.
Der Umstand, daß die Bogengänge an den Enden breiter, sind als
in der Mitte, bewirkt, daß die Schallwellen in der Mitte der Bo°-en-
gänge zusammentreffen und dadurch verstärkt würden. Dieselbe Ver-
stärkung erfahren die Schallwellen auch an der Schneckenspitze, da hier
die in die Scala vestibuli und tympani eingedrungenen Schallwellen zu-
sammentreffen. Sowohl Bogengänge als Schnecke seien schon durch ihre
Gestalt geeignet, die Schallwellen zu verstärken, da ja gekrümmte Röhren
physikalisch diese Eigenschaft besitzen.
Dagegen stellt Senac die Wichtigkeit der Spirallamelle für die
Schallperzeption in Abrede.
Seiner Ansicht nach dringt beim Sprechen der Schall in die Ohr-
trompete, man sei somit im stände, durch diese allein zu hören. Diese
Annahme entspricht der auch jetzt geltenden. Bei Verschluß der Ohr-
trompete trete Schwerhörigkeit ein, welche durch Ansammlung von
Materie zu stände komme.
J) Ces cellules sont revetues d'une ineinbrane qui paroit couvrir une des organes
qui filtrent quelque matrere. 1. c. Seconde edition 1735, p. 742.
Joseph Lieutaud, geb. 1703 zu Aix in der Provence, der Ent-
decker des nach ihm benannten „Trigonum Lieutaudii", hat sich, neben
seiner praktischen Tätigkeit vielfach mit anatomischen Studien beschäftigt,
die ihm den Ruf eines hervorragenden Anatomen seiner Zeit sichern.
Er gilt als der Begründer der pathologischen Anatomie in Frankreich.
Sein Werk „Essais anatomiques, contenant l'histoire exacte de toutes
les parties qui composent le Corps de l'Homme; avec la maniere de les
decouvrir et les demontrer, orne's de Figures", Paris 1776, enthält ein
Kapitel „Les Oreilles" (Pars II, Artikel II, pag. 540), das ausschließlich
die Sektionstechnik des Schläfebeines bebändert.
Bei der Präparation des äußeren Ohres empfiehlt er, durch Zug an
der Ohrmuschel nach unten bezw. vorn sich von der 'Insertion des
Muskels zu überzeugen l).
Die Präparation der Gehörknöchelchen könne man nur an frischen
Präparaten vornehmen, da die Gelenke im mazerierten gelöst seien.
Das runde Fenster bringt er durch Ausfeilen einer Oeffnung an
der Fossa jugularis zur Ansicht2). Für die Präparation der Schnecke
gibt er eine genaue Direktive. Man führe eine Sonde vom inneren Ge-
hörgang aus in den Anfangsteil des Aquäductus (Canal. facialis) und eine
andere in das „trou anonyme" (= Hiatus canal. facial.). Die beiden
Sonden bilden miteinander einen Winkel, in dem die Schnecke zu suchen
ist. Man eröffnet die Schnecke mit der Feile und braucht nicht zu
282 J- Lieutaud. E. L. Geoffroy.
fürchten, sie unabsichtlich zu verletzen, da man die knöcherne Schnecken-
kapsel an ihrer Härte sogleich erkenne.
Er verwirft die bisher übliche Eröffnung des Vestibulum von der
Trommelhöhle, vom inneren Gehörgang oder von der Schnecke aus, weil
dadurch immer wichtige Teile des Labyrinthes zerstört werden. Vorteil-
hafter sei es, das Vestibulum von oben und hinten zu eröffnen, indem
man in einer Höhe, die durch die oben erwähnten zwei Sonden markiert
wird, einen horizontalen Sägeschnitt führt, der knapp vor dem oberen
Bogengang in einen vertikalen umbiegt nnd dadurch das Vestibulum von
den Bogengängen trennt.
Die abgetrennten Bogengänge können nach Einführung dünner
Sonden leicht herauspräpariert werden.
Die Freilegung des Hammermuskels (Tensor tympani) ist leicht,
nur müsse man ihn sorgfältig von den membranösen Strängen sondern,
die den Nervus petrosus superf. major begleiten.
Dagegen sei der Steigbügelmuskel wegen Vorlagerung des Fazial-
kanals sehr schwer zu präparieren. Die beste Methode, den Muskel im
Zusammenhang mit dem Steigbügel zur Ansicht zu bringen, ist die voll-
ständige Trennung der Pyramide von der Schuppe. Die Stelle, welche
zur Führung des Sägeschnittes gewählt werden müsse, zeige der zwischen
Felsenbein und Schuppe eingeschobene Canalis caroticus an.
') On s'assurera de leur insertion, en tirant l'oreille, en bas.. et en devant.
1. c. p. 540.
2) La fenetre ronde comme nous l'avons dejä remarque. n'etant point tournee
du cöte du conduit auditif, ne scauroit etre vue par dehors; de sorte qu'on est oblige
de scier toute la partie de Tos qui la cache , ou de faire une Ouvertüre du cöte de
a fosse jugulaire, si l'on vent bien juger de sa Situation et de sa forme. 1. c. p. 541.
Etienne Louis Geoffroy (1725—1810), praktischer Arzt in Paris,
beschäftigte sich in seinen Mußestunden eingehend mit vergleichender
Anatomie, wobei er namentlich das Gehörorgan der Reptilien und Fische,
vergleichend mit dem Gehörorgan des Menschen, in den Bereich seiner
Untersuchungen zog. In seiner Abhandlung*) enthält der Abschnitt über
das menschliche Gehörorgan nichts Neues. Von Interesse ist hingegen
seine trotz Cotugno noch auf die „innere Luft" basierende Hörtheorie,
die er durch jseine vergleichend-anatomische Methode zu stützen suchte.
„Man kann die Scheidewand, welche sich zwischen den beiden
Treppen der Schnecke befindet, wie eine Zusammensetzung von Saiten
betrachten, welche nach und nach von dem Eingange bis zur Spitze
dieses Teils unvermerkt abnehmen. Diese kleinen Saiten fangen von
*) Dissertations sur l'organe de l'oui'e de rhomuie, de reptiles et des poissons.
Amsterdam et Paris 1778.
E. L. Geoffroy. 283
dem Kern der Schnecke an und befestigen sich an der anderen Wand.
Vermöge ihrer Stellung können sie zu gleicher Zeit von beiden Seiten
geschlagen werden, sowohl durch die Luft der oberen Treppe, welche in
den Vorhof geht, als auch durch die der unteren, welche durch das
runde Fenster mit der Trommelhöhle vereinigt ist. Diese so von beiden
Seiten auf den kleinen Saiten bewegte Luft setzt diejenigen in Bewegung,
welche sich mit den Schallstrahlen in Verbindung befinden, ungefähr so,
wie der Schall eines Instruments die Saiten eines anderen erzittern und
bewegen kann, wenn sie auf den nämlichen Ton gestimmt sind. Da
aber die ganze Haut der mittleren Scheidewand der Schnecke mit Nerven-
fasern durchwirkt ist, so kann kein Platz dieser Scheidewand bewegt
werden, ohne daß nicht ein Ast des Gehörnerven da sein sollte, der es
empfände. Und auf diese Art wird die Empfindung des Schalles durch
die Wirkung des Nerven bis zum Gehirn gebracht."
Wir finden auch hier wieder eine an die Helmholtzsche an-
klingende Hörtheorie.
Eine Stütze dieser Hypothese sieht Geoffroy in dem Umstände,
daß das Gehörorgan das einzige Sinnesorgan ist, das seine Wahrneh-
mung genau (mathematisch) abmessen kann , indem das Ohr die Töne,
halben Töne und ihre verschiedenen Modifikationen mit ziemlicher Ge-
nauigkeit abzuschätzen vermag, während das Auge die Farben wohl
unterscheiden, aber nicht die bestimmten Grade in ihren Nuancen fest-
stellen kann. Ohne Zweifel, meint Geoffroy, würde auch das Auge,
wenn die Retina wie der Hörnerv in kleine Fasern von verschiedener
Länge abgeteilt wäre, sehr gut das Licht messen können, wie es das
Ohr mit den Tönen tut.
Trotz dieser Hypothese ist für ihn nicht die Schnecke das eigent-
lich perzipierende Organ, weil er ihr Analogon bei den Fischen, Vögeln
und Amphibien irrtümlich vermißte, während Vorhof und Bogengänge
vorhanden sind. Die Schnecke soll nach Geoffroy den Eindruck des
Schalles bloß am deutlichsten empfinden. Bemerkenswert ist seine Auf-
fassung von der Funktion der Ohrtrompete. Da viele Tiere (Am-
phibien), bei denen ein äußeres Ohr fehlt, eine Ohrtrompete besitzen,
scheint sie ihm bei diesen Tieren zur Schalleitung zu dienen, eine Funktion,
die sie auch bei den Quadrupeden haben dürfte, da, wie Geoffroy
voraussetzt, die Natur mit den bei den verschiedenen Tieren überein-
stimmenden Organteilen den gleichen Zweck verfolge.
Der französische Arzt M. Esteve bekennt sich in seinem vor der
Arbeit Geoffroys erschienenen Werkchen „Traite de l'ouie"*) als
Gegner der Hypothese von den Nervensaiten, und zwar aus verschiedenen
*) Avignon 1751, p. 22.
284 E. L. Geoffroy. F. Vicq d'Azyr. Button.
Gründen, als deren wichtigster der anzusehen ist, daß bisher noch
keineswegs der Parallelismus der Nervenchorden in der Schnecke eine
erwiesene anatomische Tatsache sei. Im übrigen weist er auf die
Struktur der Nerven hin, die sich für Schwingungen wohl kaum eignen
dürften, und die auf fester Unterlage so nahe aneinander liegen, daß es
kaum glaublich erscheine, sie könnten einzeln in Vibration geraten.
Nach seiner Anschauung sind es alle Teile des inneren Ohres , die in
ihrer Gesamtheit mit Hilfe der eingeborenen Luft die Gehörempfindungen
aufnehmen. (Vergl. v. Stein, Die Lehre von den Funktionen der ein-
zelnen Teile des Ohrlabyrinths. Deutsche Uebers. von v. Krzywicki.
1894, S. 41.)
Felix Vicq d'Azyr (1748—1794), Mitglied der Akademie der
Wissenschaften in Paris, hervorragender Forscher auf dem Gebiete des
Zentralnervensystems, beschäftigt sich in seinen vergleichend-anatomischen
und physiologischen Werken*) mit dem Gehörorgan und kommt am
Schlüsse des betreffenden Abschnittes zu folgenden zum großen Teile
irrigen Konklusionen :
1. Das Vorhandensein der Gehörknöchelchen ist, obschon viel-
leicht nicht absolut notwendig, so doch sehr nützlich für die Wahr-
nehmung des Schalles, da sie sich bei allen hörenden Tieren finden; es
genügt aber, wie bei den Vögeln und Reptilien, ein einziges Knöchelchen.
2. Die halbzirkelförmigen Kanäle müssen einen notwendigen
Teil des Gehörorgans darstellen, da sie sich bei allen darauf untersuchten
Tieren vorfinden.
3. Hingegen kann die Schnecke, die sich beim Menschen und
den Vierfüßern findet, keinen unbedingt notwendigen Teil des Gehör-
organs bilden, da die Vögel auch ohne Schnecke sehr gut hören.
Buffon (Le Clerc de). In seinem großen naturhistorischen Werke **)
wklmet Buffon in dem Abschnitt über die Sinne auch der Physiologie
des Gehörorgans ein Kapitel , das , obwohl es im allgemeinen nur die
Ansichten der zeitgenössischen Autoren widerspiegelt, doch auch manche
für den Otologen interessante Bemerkungen enthält.
Buffon vertritt die damals gangbare Ansicht, daß die Schnecke
und zwar deren membranöser Teil als das mittelbare Perzeptionsorgan
für den Schall anzusehen sei, während die Bogengänge als gekrümmte
Röhren dazu dienen sollen, den Schall gegen die Schnecke hinzuleiten J).
Die Ursache der Alterstaubheit sucht er in Veränderungen der
häutigen Schnecke. Eine Verdichtung oder ein Starrwerden der häutigen
*) Oeuvres de Vicq d'Azyr. Tome IV, 1805.
**) Histoire Naturelle, general et particuliere , avec la Description du Cabinet
du Roy. Paris 1749. Du sens de l'ouie, p. 395.
Buffon. Perolle. 285
Spiralmembran bedinge Taubheit, weil damit der sensible Teil des Organs,
der allein im stände sei, die Schallempfindung zu vermitteln, ausgeschaltet
werde. Diese Taubheit sei unheilbar und wohl zu unterscheiden von einer
anderen ebenfalls im Alter vorkommenden Art von Taubheit, die ihre
Ursache in der Ansammlung von „matiere e'paisse" im Gehörgang habe
und durch einfaches Ausspritzen des Ohres geheilt werden könne. Zur
Differentialdiagnose lege man dem zu Untersuchenden eine kleine Taschen-
uhr in den Mund; werde der Schlag gehört, so handle es sich um die
heilbare Form der Taubheit, werde das Ticken nicht perzipiert, so liege
eine Nerventaubheit vor 2).
Hervorzuheben wäre noch aus diesem Abschnitte die von Buffon
an mehreren Individuen gemachte Beobachtung der Täuschung über
die Schallrichtung bei Ungleichheit des Hörvermögens beider Ohren.
Das Symptom soll nach Buffon nur bei angeborener einseitiger Taub-
heit, nicht aber bei erworbener Taubheit eines Ohres vorkommen. Diese
Ansicht ist eine irrige, da wir wissen, daß das als „Paracusis loci" be-
zeichnete Symptom auch bei später erworbener unilateraler Schwerhörig-
keit häufig beobachtet wird.
1) Les canaux semi-circulaire paroissent etre plus necessaires, ce sont des especes
de tuyaux courbez dans l'os pierreu«, qui sembleut servir ä diriger et conduire le
parties sonores jusqu'ä la partie metubraneuse du limacon sur laquelle se fait l'action
du son et la production de la Sensation. 1. c. p. 344.
2) Pour reconnaitre si la lame spirale est en effet insensible , ou bien si c'est
la partie exterieure du eanal auditif qui est bouchee, il ne faut pour cela que prendre
une petite montre ä repetition, la niettre dans la bouche du sourd et la faire sonner,
s'il entend ce son, la surdite sera certainement causee par un embarras exterieure
auquel il est toüjours possible de remedier en partie. 1. c. p. 345.
Etienne Perolle (1760—1838). Wertvoller in physiologischer Be-
ziehung sind die Ergebnisse, zu denen dieser Forscher experimentell über
die Schalleitung durch die Kopfknochen und durch die Ohr-
trompete gelangt ist. Bezüglich der ersteren*) stellte er fest, daß eine
Taschenuhr nicht nur von den Zähnen aus, sondern von den verschieden-
sten Stellen des Kopfes, jedoch in wechselnder Intensität, perzipiert wird.
Am besten wird der Schall durch die Zähne, vor allem durch die Eck-
zähne dem Gehörorgane zugeleitet, minder intensiv von dem vorderen
seitlichen Winkel des Scheitelbeins, am wenigsten vom Knorpel der Nase.
So richtig das Tatsächliche dieser Versuche ist, so falsch ist seine Folge-
rung, daß an der Perzeption des durch Kopfknochen fortgeleiteten Schalles
der Fazialnerv beteiligt sei.
*) Recherches et experiences relatives ä l'organ de l'Oui'e et ä la propagation
des sons. Extrait des memoires de la Societe Royale de Medecine. Paris 1779.
28(5 Perolle. Cuvier.
In einer zweiten Arbeit*) sucht er den Nachweis zu liefern, daß
die Ohrtrompete nicht der Schallfortpflanzung zum Mittelohr dienen könne,
eine Ansicht, die von späteren Physiologen vielfach bestätigt, von anderen
wieder bestritten wurde. Er fand nämlich, daß bei verstopften Ohren
und weit geöffnetem Munde das Ticken einer Uhr auch dann nicht per-
zipiert wurde, wenn die Uhr tief in den Mund eingeführt ward, voraus-
gesetzt, daß sie keinen festen Teil des Mundes berührte. Heute wissen
wir, daß man zwar das Uhrticken durch die Tuben nicht hören kann,
wohl aber manche Stimmgabeltöne und auch die Flüstersprache.
Die Paracusis Willisii erklärt Perolle durch die bei heftigen Ge-
räuschen stattfindenden Schwingungen des menschlichen Körpers, durch
die alle Körperteile beweglicher und schalleitungsfähiger werden, eine
Ansicht, die der jetzt geltenden nahe kommt.
Seine Dissertation über den Sprachunterricht bei Taubstummen**)
ist den früheren Arbeiten Ponces und seiner Schüler entlehnt.
Cuvier (Baron Georg Leopold Christian Friedrich Dagobert, 1769
bis 1832). Der Naturforscher Cuvier, dessen vergleichend anatomische
Arbeiten die Anatomie und Physiologie des Gehörorgans nicht unberück-
sichtigt ließen, verdient durch seine vielfachen Anregungen, die ihm die
vergleichende otologische Forschung verdankt, an dieser Stelle genannt
zu werden***). Als Zoolog unterwarf er hauptsächlich das Gehörorgan
verschiedener Tierarten einer eingehenden Untersuchung. Besonderes
Interesse beanspruchen seine Forschungsergebnisse über das ovale und
runde Fenster der verschiedenen Tierspezies, deren Form und Größen-
verhältnisse er einer eingehenden Beobachtung unterzog. Für den wich-
tigsten Bestandteil des Gehörorgans erklärte er die Nervenfaser, die,
in Flüssigkeit schwimmend, sich leicht in Bewegung versetzen läßt und
die Tonempfindung vermittelt. Die übrigen Teile des Hörapparates
dienen einerseits zur Schallmodifikation, anderseits zur Schallverstärkung.
Die Ohrmuscheln sind insbesondere bei den schwachen und bei
den Nachttieren, die alle über ein feines Gehör verfügen, gut ausgebildet.
Die Größe des Trommelfells und seine Neigung zum äußeren Gehör-
gang steht nach seinen Erfahrungen im geraden Verhältnisse zur Hör-
schärfe. Auch die Größe und Lage der beiden Labyrinthfenster übt
nach ihm einen wichtigen Einfluß auf die Schallwahrnehmung.
*) Diss. anatomico-acoustique contenant des experiences qui tendent ä prouver
que les rayons sonores n'entrent pas par le trompe d'Eustache etc. Ibid. 1788.
**) Diss. anatomico-acoustique sur l'art d'apprendre ä parier aux sourds et
muets par naissance. Paris 1782.
***) Lecons d'anatomie comparee. 5 Vol. Gesammelt von Dumeril, Paris
1800—1805, auch deutsch von Fischer, Froriep u. Meckel. Braunschweig u.
Leipzig 1800—1810.
Bichat. 287
Bichat (Marie Francis Xavier). Der berühmte Anatom (1771—1802),
dem als Begründer der Gewebelehre auch ein Anteil an dem Umschwuno-
gebührt, den die moderne Medizin genommen hat, steht mit seiner auf
realer Forschung basierenden allgemeinen und pathologischen
Anatomie an der Schwelle des 19. Jahrhunderts. Eine eingehende, auf
selbständige Untersuchung begründete Bearbeitung der Anatomie des
Gehörorganes findet sich in seiner „Anatomie descriptive T. II 1801",
einem Werke, dessen Bedeutung schon daraus erhellt, daß es noch bei-
nahe ein halbes Jahrhundert nach dem Tode seines dreißigjährigen Ver-
fassers in neuer Auflage erschien*).
Aus seiner Beschreibung heben wir folgendes hervor: Er weiß, daß
die innere Schichte des Trommelfells von der Trommelhöhlenschleim-
haut gebildet wird. Das Trommelfell hält er im normalen Zustande für
vollkommen durchsichtig, doch für nur scheinbar gefäßlos. Erst im ent-
zündeten Zustande kommt es zu einer starken Gefäßentwicklung, wodurch
die Membran ein rotes Aussehen gewinnt. Bichat hält noch an der
alten Ansicht fest, daß das Trommelfell bei schwachem Schall gespannt,
bei starkem Schall erschlafft werde.
Treffend ist seine Beschreibung des menibranösen Teiles der Ohr-
trompete im Gegensatze zu der oberflächlichen Darstellung früherer
Anatomen. Nach Bichat bildet der membranöse Teil fast die Hälfte
der äußeren Tubenwand, an welcher der Peristaphylinus externus inseriert,
während der Peristaphylinus internus sich am knorpeligen Teile der Ohr-
trompete befestigt. Daß der Tubenkanal, wie er auseinandersetzt, von
einer Fortsetzung der Pharyngealschleimhaut ausgekleidet werde, war schon
den Anatomen vor ihm bekannt. Die miteinander kommunizierenden
Zellen des Warzenfortsatzes sind stets von ungleicher Größe; selten
wird der ganze Fortsatz bloß von einer Zelle eingenommen. Das Periost
der Gehörknöchelchen ist nach ihm sehr dünn und mit der Schleim-
haut verschmolzen. Mit Unrecht behauptet Bichat, daß die von den
Anatomen beschriebenen Ligamente nichts anderes seien als Schleim-
hautfalten. Die Membran, welche die Trommelhöhle auskleidet und die
früher allgemein für Periost gehalten wurde, wird von Bichat richtig
als Schleimhaut (Membrane mouqueuse du tympan) bezeichnet, ohne
daß er hervorhebt, daß die tieferen Schichten der Schleimhaut die Rolle
des Periosts vertreten. Die Gehörknöchelchen sind in Duplikaturen
dieser Schleimhaut eingeschlossen. Hier ist sie auch wegen ihrei Fein-
heit schwer darstellbar; bei Neugeborenen ist sie wegen stärkeren Ge-
fäßreichtums und Schwellung leichter abzupräparieren, noch leichter bei
Entzündung der Trommelhöhlenschleimhaut. Von minderem Werte ist
*) Nouvelle edit. 1846.
288 Bichat.
Bi chats Beschreibung des Labyrinths. Nach ihm wird die Vorhofs-
höhle von einer Membran ausgekleidet, die dem ganzen Labyrinth ge-
meinsam und mit mehreren Oeffnungen zum Zwecke der Kommunikation
mit den benachbarten Teilen versehen ist. Diese Membran gleicht weder
der Trommelschleimhaut noch dem Periost. Bichat unterscheidet einen
oberen vertikalen Bogengang , der quer die Pyramide durchschneidet,
einen hinteren vertikalen, der mit seinem Bogen in der Längsachse des
Felsenbeins, und einen horizontalen, der in der Horizontalebene liegt.
Der von den Bogengängen eingeschlossene Raum hat die Gestalt einer
Pyramide, deren Basis nach außen , deren Spitze nach innen und hinten
gerichtet ist. Beim Embryo ist dieser Raum von einem Fortsatze der
harten Hirnhaut, beim Erwachsenen durch diploetischen Knochen aus-
gefüllt. Den gemeinsamen Gang der beiden vertikalen Bogengänge hat
Bichat in zwei Fällen vollständig obliteriert gefunden. Die Achse der
Schneckenspindel liegt nach Bichat nahezu horizontal und durch-
schneidet die Längsachse der Pyramide in schräger Richtung. Die Be-
schreibung der beiden Aquädukte läßt schließen, daß Bichat sich ihre
Kenntnis durch eigene Präparation angeeignet hat.
De la Rue, Abrege de la vue et de l'ouie et l'espece d'analogie, qui se
trouve ä certains egards entre ces deux organes. Mein, l'acad. de Caen 1754, 4,
Ca].. 2, P. 14—15, Tab. I et IL
David Cornel de Cour Celles, Icones musculoruui capitis, utpote faciei,
au r iura, oculorum, linguae, pbaryngis. e. s. p. Lugd. Batav. 1748, 6, P. 39, Tab. I,
II, IV et V.
Vauquelin in Systeme des connaiss. cbim. T. IX, P. 370.
Mastiani, Observations sur plusieurs pieces en bois de grandeur quadruple,
par rapport naturel, pour demontrer l'organ de l'ouie. In Mein, de Paris 1743,
P. 85. Edit. in 8 Hist, P. 117.
Godofridus du Bois, Diss. philosoph. inaug. Lugd. Batav. 1724, 4.
De Mai ran, Discours sur la propagation du son dans les dift'erens tons, qui
le modifient. In Mein, de l'Acad. Roy. des sciences. 1737.
E. Bonnet de Condillac, Traite de sensations. Paris 1754. T. II, 4.
Nathanael Beltz, Dissertation sur le son et sur l'ouie, qui a ramporte
le prix propose par l'academie roy. de sciences et belies lettres De Prusse, p. 1762.
Lambert, Sur quelques instrumentsacoustiques. In Mein, de l'Acad.
de Berlin 17G3. Uebersetzt von Huth, Berlin 1796.
Niederlande. England.
Trotz der im 18. Jahrhundert so regen wissenschaftlichen Tätig-
keit auf allen Gebieten der Naturwissenschaft in beiden Ländern wurde
die Ohranatomie in weit geringerem Maße gefördert als die Anatomie
anderer Organe. Die wissenschaftliche Ausbeute in der Otologie bleibt
weit hinter der der Italiener und der Deutschen zurück. Selbst Forscher
Ruysch.
289
wie Ruysch und Boerhaave streifen die Ohranatomie und Physiologie
nur oberflächlich und liefern kaum nennenswerte selbständige Ent-
deckungen. Wir beschränken uns im folgenden auf eine Skizzierung der
Forschungsergebnisse der bekannteren Autoren dieser Periode.
Fredrik Ruysch, im Jahre 1638 zu Haag geboren, studierte in
Leiden Medizin und wurde daselbst im Jahre 1664 zum Doktor promo-
viert. In rascher Aufeinanderfolge wurde
er in Amsterdam zum Prosektor der Ana-
tomie, zum „Doctor van t'geregte" (Me-
dicus forensis) und endlich zum Profes-
sor der Botanik am Athenaeum illustre
ernannt. Alle diese Fächer lehrte er in
ausgezeichneter Weise bis zu seinem Fig. 13. Verzweigung des aus der
rp , 1 7qi Art. carotis ext. stammenden Aest-
iocle Li 61. chens A im äußeren Gehörgang.
Ruysch war der erste, der unserer B im Trommelfell. Photogr. Repro-
, . . ai .. o i i r. duktion aus dem Werke Ruvsch s.
heutigen Anschauung gemäß annahm, daß rpaf, IX Fi°-. 9.
das Trommelfell aus drei Schichten
bestehe und zwar beschreibt er eine äußere Lamelle, welche die Fort-
setzung des Integumentes des äußeren Gehörganges bildet, eine innere,
die er von der Trommelhöhlenschleim-
haut herleitet, und eine mittlere, in
der sich zahlreiche Gefäße der Ca-
rotis externa verzweigen x). Diese
letzte Annahme widerspricht unseren
heutigen Anschauungen, da wir wis-
sen, daß gerade die innere und die
äußere Lamelle zahlreiche Blutgefäße
besitzen, während das Stratum pro-
prium des Trommelfells verhältnis-
mäßig arm an Blutgefäßen ist.
Ruysch s Meisterschaft in der
anatomischen Injektionstechnik zeigt
sich auch in seinen Abbildungen des
Gehörorgans. In der in Fig. 13 re-
produzierten Abbildung eines aus der
Garot. externa stammenden Aestchens
gehört A der oberen Gehorgarigswand,
B dem Hammergriff und der Cutis-
schichte des Trommelfells an,
In einer zweiten Abbildung (Fig. 14) sehen wir die gelungene In-
jektion der Gefäße der die Gehörknöchelchen überziehenden Schleimhaut
und des Periosts, womit die Streitfrage über das Vorhandensein oder
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 19
Fig. 14. Gehörknöchelchenkette mit den
injizierten Schleimhautgefäßen . stark
vergrößert. Photogr. Reproduktion aus
dem Werke Ruyschs. Tat'. IX. Fig. 1.
290 Ruysch. Boerhaave.
Fehlen eines die Knöchelchen überziehenden Periosts endgültig entschie-
den wurde2).
Ruysch stellt die Existenz eines Foramen Rivini in Abrede, da
es ihm nie gelang, nach Injektion von Quecksilber durch die Ohr-
trompete in die Trommelhöhle, das Metall im äußeren Gehörgang nach-
zuweisen3).
Der Steig bügelmuskel wird von ihm noch völlig verkannt und
für ein Ligament angesehen, welches die Aufgabe haben soll, den Steig-
bügel an seiner Stelle zu fixieren4). Die Membran, die beim Embryo die
äußere Fläche des Trommelfells bedeckt, hält Ruysch für einen Ab-
kömmling der Epidermis5); sie soll, so lange der äußere Gehörgang
noch nicht ausgebildet ist, das Trommelfell vor schädlichen Einwirkungen,
besonders vor der des Fruchtwassers, schützen.
1) In resp. ad Epist. probl. VIII, p. 10. Fig. 9 u. 10 auf Tab. IX. Thesauri
anatoruici decem (Amst. 1701 — 1716). Vascula autem sanguinea non per extimam
disserninari, sed prout hactenus offendere mihi licuit, per mediana, ita ut conjiciendum
sit , haec vasculo peculiari prospicere provinciae , et raro si unquam communicare
cum vasis capsaui perreptantibus.
2) Epist. probl. VIII, Tab. IX, Fig. 1.
3) Thesaur. anat. VIII u. VI.
4) Thesaur. anat. IV, Nr. 20 , 2. Dictum ossiculum loco suo continetur pe-
culiari ligamento, id quod hie luculenter apparet.
5) Thesaur. anat, III, Nr. 76.
H. Boerhaave (Boerhaaven), von seinem Schüler Haller der „Magnus
ille medicorum universae Europae praeeeptor" genannt, wurde 1668 in
einem Dorfe nahe bei Leiden (Voorhout) geboren. Nachdem er zuerst
Theologie und Philosophie studiert hatte, wandte er sich dem medizini-
schen Studium zu und erwarb im Jahre 1693 in Hardenwyk das Doktor-
diplom. Schon im Jahre 1701 erhielt er von der Universität Leiden eine
Berufung als Lektor der theoretischen Medizin ; später erlangte er auch
noch den Lehrstuhl der Botanik und Chemie.
Boerhaaves Ruf als ausgezeichneter Lehrer verbreitete sich bald
in der ganzen zivilisierten Welt und aus allen Ländern strömten wiß-
begierige Schüler herbei, um sich unter seiner Leitung auszubilden. Er
starb am 23. September 1738.
Boerhaave war sicherlich der berühmteste Arzt seines Jahr-
hunderts, wiewohl die gesamte Medizin ihm keine epochemachenden
Entdeckungen verdankt. Die Grundlage seines weitverbreiteten Rufes
muß vielmehr in seinem Wirken als hervorragender Lehrer und Arzt,
nicht als Forscher gesucht werden. Danach sind auch seine Leistun-
gen auf otiatrischem Gebiete zu beurteilen. In dem Werke „Institu-
tion es medicae in usus annuae exercitationis domesticos di-
Boerhaave. 291
gestae"*), das als Grundlage zu Boerhaaves Vorlesungen diente, be-
handelt er auch in kompendiöser Form die Anatomie und Physiologie
des Gehörorgans. Zu diesen Institutionen ließ Hall er nach den Vor-
lesungen Boerhaaves eine TexterkTärung drucken, die überdies von
Haller noch kommentiert wurde**). Sie enthalten zum großen Teile
schon Bekanntes; der über das Ohr handelnde Abschnitt sollte zu nichts
anderem als zum Lehrbehelfe für seine Schüler dienen, welcher Zweck
auch leidlich gut erreicht worden sein mag.
Nach einigen wenig interessanten Mitteilungen über das Wesen des
Schalles leitet Boerhaave die Anatomie des Gehörorgans mit der Be-
sprechung der Ohrmuschel ein. Aus einem Wachsabdruck, den er sich
von der Ohrmuschel eines Menschen mit gutem Gehör verfertigt hatte,
glaubte er nachweisen zu können, daß die Schallstrahlen entweder sofort
oder nach mehrmaliger Reflexion in den Gehörgang gelangen***).
Dem Tensor tympani schreibt er folgende Funktionen zu: er kann
das Trommelfell spannen, erschlaffen, wieder konvex machen, festheften
und in verschiedenen Spannungsverhältnissen festhalten. Dadurch ver-
mag er indirekt den Rauminhalt der Trommelhöhle zu variieren, Luft
einzuführen, auszutreiben, zu komprimieren, je nachdem die Tube
gleichzeitig geöffnet oder geschlossen ist. Er vermag aber auch das
Trommelfell den aufzunehmenden Schallstrahlen harmonisch anzupassen
(Akkommodationsapparat). Boerhaave schrieb somit dem Trommelfell
nicht bloß die Funktion zu, durch die Schallwellen in Schwingung ver-
setzt zu werden, sondern er glaubte auch, daß es durch die Wirkung
der Muskeln der Gehörknöchelchen einen den verschiedenen Tönen ent-
sprechenden Grad der Spannung annehme.
Den Folianischen Fortsatz des Hammers erklärt er für ein
eigenes bewegliches Knöchelchen, welches mit dem Hammer artikuliere
und erst mit der Zeit mit diesem verwachse, so wie der Processus styli-
formis mit dem Schläfebein zu verwachsen pflege. Hall er bekämpft
diese Ansichten seines Lehrers, die mit seinen Autopsien an Embryonen
nicht im Einklänge sind.
Die Warzenzellen vermehren, wie Boerhaave annimmt, die Re-
sonanz des Tones. Die Luft in der Trommelhöhle werde durch die Wärme
verdünnt und spanne das Trommelfell gegen den äußeren Gehörgang (?);
das Gehör würde hierdurch verringert werden, fände nicht inzwischen
*) Leidae 1708. Von mir wurde die Ausgabe: Viennae 1775 benützt, p. 220—231.
Cap. 547 — 565, De auditu.
**) Praelectiones academicae in proprias institutiones rei rnedicae ed. et notas
addidit. Haller, Göttingen 1740—1744. 7 Bde. Vol. 4, p. 290—421.
***) Treviranus, Magen die, Esser u. a. konnten die Richtigkeit dieses
Experimentes nicht bestätigen.
292 Boerhaave. Winslow.
eine Lüftung der Trommelhöhle mittels der Tube statt. Vom runden
Fenster glaubt Boerhaave, es befinde sich in der Mitte des ellipti-
schen Raumes der Trommelhöhe gegenüber der Mitte des Trommelfells,
eine Ansicht, die Hall er entschieden bestreitet.
In der Deutung der physiologischen Vorgänge beim Hören sind
ihm vielfache Irrtümer unterlaufen. Bezüglich der Funktion des Laby-
rinths jedoch ist er der modernen Auffassung ziemlich nahe ge-
kommen, wie sich aus folgender Stelle der Praelectiones *) entnehmen
läßt: Atqui habemus adeo chordarum inhnitum numerum, quae cum
infinitis sonis possint in unisonum tremere: Longissimae enim
gravissimos sonos, deinde mediae mediocres, brevissimae peracutos ex-
priment: et inter infinitum fere numerum, si una noluerit contremiscere,
alia tarnen reperietur, quae harmonice tremat. Aus dieser Stelle geht
mit genügender Deutlichkeit hervor, daß Boerhaave eine der heutigen
völlig identische Anschauung über die Perzeption des Schalles hatte und
daß er ebenso, wie wir heute, die Fähigkeit Unterschiede in der Ton-
höhe Avahrzunehmen, mit der verschiedenen Länge der Chorden begründete.
Angedeutet finden wir diese Theorie schon bei Duverney (S. 204).
Sie geriet wieder in Vergessenheit, und wurde erst von Helm-
holtz aufs neue in die Gehörsphysiologie eingeführt.
J. B. Winslow, einer der berühmtesten Anatomen des 18. Jahr-
hunderts, wurde am 2. April 1669 in Odensen auf Firnen geboren. Er
bekleidete lange Zeit die Professur der anatomischen Lehrkanzel zu Paris,
wo er sich durch sein erfolgreiches Wirken als Lehrer einen europäischen
Ruf erwarb. Ihm verdankt insbesondere die topographische Ana-
tomie große Förderung. Er starb am 3. April 1760.
Die Forschungsresultate Winslows sind in seinem Hauptwerke
„Exposition anatomique de la structure du corps humain" niedergelegt,
das sich als Lehrbuch der Anatomie im 18. Jahrhundert einer großen
Beliebtheit erfreute und zahlreiche Auflagen erlebte**).
Winslow behandelt im ersten Bande seines Werkes zuerst die
Anatomie des knöchernen Gehörorgans***) und bespricht erst im vierten
Bande die anderen Bestandteile des Ohres f).
Die Durchsicht des otologischen Teiles ergibt, daß Winslow als
langjähriger Schüler Duverneys sich im großen und ganzen den An-
schauungen seines berühmten Lehrers anschließt.
Von den Muskeln des äußeren Ohres beschreibt Winslow bloß
*) Prael. p. 405.
*■*) Von mir wurde die lateinische Ausgabe : „Expositio anatomica structurae
corporis humani, Francofurti et Lipsiae 1753 ".benutzt.
***) 1: c. Ossa auris internae sive partes osseae organi auditus. T. I, p. 105 — 121.
f) 1. c. Aures in genere, Auris externa, Auris interna. T. IV, P. 2, p. 181 — 201.
Winslow. Albinus. 293
einen hinteren Ohrmuskel und erklärt die von anderen Schrift-
stellern geschilderten Muskeln als Artefakte1). Vom knöchernen Ge-
hörgang wird hervorgehoben, daß er in seiner Mitte enger sei als
außen2). Die äußere Lamelle des Trommelfells ist nach ihm eine
Fortsetzung der Epidermis des äußeren Gehörganges. Der ganze Ueber-
zug könne wie der Finger eines Handschuhes vom Trommelfell abgezogen
werden3). Die Gehörknöchelchen beschreibt er sehr genau und gibt
Merkmale an, durch die man die des rechten Ohres von denen des linken
unterscheiden könne. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Duverney spricht
er den Gehörknöchelchen ein Periost zu, das er oft seinen Schülern
demonstrieren konnte *). Er gibt ferner an, daß es ihm scheine, als ob
der Hammergriff in einer feinen membranösen Duplikatur eingeschlossen
sei, durch die er an das Trommelfell angeheftet werde und die gleich-
zeitig die Stelle des Periosts des Hammergriffs vertrete5). Der kleine
Fortsatz des Amboß es werde durch ein kleines, aber starkes Ligament
an den Rand der Apertur der Zellen des Warzenfortsatzes angeheftet0).
Die Chorda tympani wird von ihm als Abkömmling des dritten Trige-
minusastes gedeutet7). Die Ohrtrompete, an der er eine innere knorpe-
lige und eine äußere membranöse Platte unterscheidet, ist für die da-
malige Zeit gut beschrieben8). Die Bogengänge bezeichnet er nach
ihrer Richtung (verticalis superior, verticalis posterior, horizontalis). Bei
der Schnecke hebt er den Unterschied der rechten von der linken her-
vor und spricht von einer Kommunikation beider Schneckengänge im
Apex9). Im übrigen schließt er sich bei der Beschreibung des inneren
Ohres der von Duverney gegebenen an, ohne neue Details hinzuzu-
fügen.
') 1. c. T. IV, § 374, p. 187.
2j 1. c. T. I, § 395, p. 106.
3) 1. c. T. IV, § 394, p. 194.
4) 1. c. T. IV, § 396, p. 194.
i Manubrium hoc membranaceae subtili adniodum duplicationi includi videtur,
qua mediante Membranae Tyinpaiii aimectitur, quaeque eidem etiam Periostii loco
est. 1. c. T. IV, § 395, p. 194.
6) 1. c. T. IV, § 398, p. 195.
7) 1. c. T. IV, §§ 411 u. 412, p. 200.
8) 1. c. T. IV. §§ 390 u. 391, p. 193.
9) 1. c. T. I. § 440, p. 118.
Bernhard Siegfried Albinus (1697 — 1770), Professor der Anatomie
und Chirurgie in Leiden, Sohn des berühmten deutschen Arztes Bernhard
Albinus, erwarb sich einen glänzenden Ruf als Forscher auf deskriptiv-
anatomischem Gebiete.
In den „Academicarum anhotationum libri VI II", die mit Kupfer-
294 Albinus.
sticken von der Künstlerhancl Jan Wandelaers ausgestattet sind, er-
klärt Albinus, daß es er für überflüssig halte, nach den vorzüglichen
Werken eines Duverney und Valsalva ein neues Werk mit Tafeln des
Gehörorganes herauszugeben, weist jedoch darauf hin , daß die früheren
Arbeiten eine genaue Topographie („partium situm, seriemque continua-
tam") vermissen lassen, ein Mangel, dem seine nach kindlichen Gehör-
organen hergestellten Tafeln abhelfen sollen.
Die Muskeln des Ohres läßt diese Arbeit unberücksichtigt, weil sie
in seiner „Historia musculorum corporis hurnani"' eingehend behandelt
wurden. Ihre ausführliche Schilderung im Texte hält er für unnütz
(„quod non ita facile intelligerer). Bloß der Abbildung des Labyrinthes
ist eine eingehendere „ explicatio '' beigegeben. Im übrigen begnügt
er sich mit einigen erläuternden Worten. Der Wert des Werkes be-
ruht auf den wahrscheinlich nach der großen Präparatensammlung des
Albinus gezeichneten vorzüglichen Tafeln, welche die Teile des Gehör-
organes stets wie im Präparate im gegenseitigen Zusammenhange zeigen.
Hervorzuheben sind die Abbildung des Vorhofs mit dem „sinus semi-
ovalis" und „sinus hemisphaericus", sowie des von Morgagni beschrie-
benen „sinus sulciformis". Albinus zeigt ferner in einer gelungenen
Abbildung (Taf. II, Fig. 6) den Ursprung der knöchernen und mem-
branösen Spiralplatte im Arestibulum, wie sich die membranöse Spiral-
lamelle an den Rand des runden Fensters anheftet, wie die Spirallamelle
in ihrem Beginne das runde Fenster vom Vorhof und der Vorhoftreppe
trennt und fortlaufend die Schnecke in zwei Treppen teilt, wie das runde
Fenster in seiner ganzen Ausdehnung bloß zur Scala tympani gehört und
andere Details, die von den früheren Anatomen wohl beschrieben, aber
nicht bildlich dargestellt worden waren. So findet sich auch z. B. an
der Abbildung der inneren Trommelhöhlenwand der „recessus epitympani-
cus" oder, wie Alb in sagt, ..Tympani pars a squamosa effecta" treu
wiedergegeben.
Die Behauptung Albinus1, er könne nur einen hinteren Ohr-
muskel auffinden und die knorpelige Tube werde von dem ..musculus
circumflexus palati" zusammengedrückt, hat sich längst als irrtümlich er-
wiesen.
Sein jüngerer Bruder und Nachfolger im Lehramte, Friedrich
Bernhard Albinus (1715—1778), veröffentlichte ein „Libellum de
natura hominis'**), in dem er das Ziel verfolgte, aus den physiologischen
Leistungen die Struktur und Beschaffenheit der Körpergewebe zu er-
klären.
Das Cerumen stellt er sich als das eingedickte Sekret von Talg-
;) Lugduni Batav. 1775.
Albinus. Elliott. 295
drüsen vor. Der Zusammenhang der Chorda mit dem dritten Ast des
Trigeminus ist ihm bereits bekannt. Den Hörnerv läßt er „per innumera
foramina*' in die Labyrinthräume eintreten und „in expansiones mollissi-
masu endigen, welche infolge ihrer Weichheit und Feinheit dem Tast-
und Gesichtssinne entgehen. Im übrigen sind seine Angaben über das
Gehörorgan wertlos.
Im physiologischen Teile akzeptiert er bereits die Ansichten Co-
tu nnis, wenn er sagt: „Eorumque (nämlich der Gehörknöchelchen) ope
tremor transit in fluidum labyrinthi, agitatque expansiones nervosas."
John Elliott (1747—1787). Unter vielen, meist hypothetischen
und wertlosen Betrachtungen über die Funktion des Gehörorgans finden
sich in der Arbeit Elliotts x) manche interessante Mitteilungen, die in
historischer Beziehung nicht übergangen Averden können.
Aus den 18 Beobachtungen über gehörphysiologische Fragen sind
die folgenden Ansichten Elliotts erwähnenswert. Die Annahme, daß
das ganze Trommelfell durch jeden Ton besonders in Schwingung ge-
setzt wird, erklärt er ganz richtig für unhaltbar, da ja mehrere Töne
die Membran zugleich treffen und durch sie fortgeleitet werden. Hin-
gegen neigt er der hypothetischen Ansicht zu, daß die Lage der Töne
gegeneinander und ihre Richtung durch das Gefühl des Trommelfells
erkannt wird. Eine Andeutung über das sogen, subjektive Hörfeld
ist in der Angabe Elliotts enthalten, daß Manche die Schallempfin-
dung in das Kleinhirn oder in die Stirne verlegen 2).
Zu den mannigfaltigen Erklärungen vom Besserhören bei geöffnetem
Munde fügt Elliott die neue, daß beim Oeffnen des Mundes der äußere
Gehörgang erweitert werde.
Elliott machte, angeblich geleitet durch die Kenntnis der Farben-
mischung, zum ersten Male die interessante Beobachtung, daß Klänge
a,ußer durch ihre verschiedene Höhe und Tiefe und ihre verschiedene
Intensität sich noch durch ihre Klangfarbe (mode of sound) unterschei-
den 3). Durch fortgesetzte aufmerksame Prüfung konnte sein musikalisches
Ohr die Klänge in einzelne einfache Töne von verschiedener Höhe und
Intensität zerlegen. Nach ihm hängt also die Klangfarbe von der Art der
Mischung der einzelnen Töne ab. Diese Erklärung der Klangfarbe fand
bekanntlich später durch die Helmholtzschen Resonatoren auf physi-
kalisch-experimentellem Wege ihre Bestätigung.
') Philosophical observations on the senses of vision and hearing; to whicb
are added, a treatise, on harmonic sounds. and an essay on combustion and animal
heat. London 1780. — In deutscher Sprache: J. Elliots physiologische Beobach-
tungen über die Sinne, besonders über das Gesicht und Gehör etc. Leipzig 1785.
2) These phenomena seem to indicate that the nerves which serve either the
tympanum or barrel for the sense of feeling, are so disposed in the sensory or brain,
that if the organ be affected in one point, the Sensation shall be feit, not in the
296 Sleigh.
part affected, but as in the fore part of the head. If in another part, it shall be
feit as in the back part of the head; and perhaps there are other points of that
organ correspond with the whole furface of the head respectively. 1. c. p. 33.
3) About ten years ago, I observed that a flute, an hautboy, a trumpet, and
other Instruments, though they were made to yield sounds which were in uniform
with each other, and equally loud, yet had a difference which every one could ob-
serve , and which I then called the mode of sound. . . . Whether the cause of this
curious phenomenon had been discovered , I could not learn; but by meditating on
the subject. and making several experiments . I found that these sounds were not
simple, but composed of others, of which these were only the result or aggregate,
even as the colours of bodies are various Compounds of the several original colours.
1. c. p. 43.
Die vergleichend anatomische Arbeit des Engländers Alex.Monro*) (1733 — 1771)
enthält keine nennenswerten neuen Details. Seine Beschreibung des mittleren und
inneren Ohres nach Korrosionspräparaten ist ziemlich gut, doch bei weitem nicht so
detailliert, wie die erschöpfende Darstellung Bezolds in seiner Korrosionsanatomie.
Seine Abbildung des Korrosionsabgusses der Schnecke steht nach v. Stein**) an
Schönheit der der Bezoldschen Präparate in nichts nach.
Hier wäre noch die Arbeit des englischen Arztes Jos. Fenn Sleigh***) zu
erwähnen, die sich vorzüglich mit der Funktion des Trommelfells befaßt, deren Wert
jedoch wegen der gänzlich mangelnden experimentellen Begründungen nicht hoch
anzuschlagen ist. Nach ihm hat das Trommelfell vorzugsweise den Zweck, das
-Mittelohr vor Einwirkung schädlicher, in der Luft befindlicher Agentien zu schützen.
Aus den bloßen Ueberlegungen , daß wir im stände sind , den kürzesten Schall zu
perzipieren, dem sich das Trommelfell nicht zu akkommodieren vermag (?). daß manche
mit perforiertem Trommelfell, sogar bei Verlust der Gehörknöchelchen, die Hör-
fähigkeit behalten, und aus anderen ähnlichen Gründen spricht Sleigh dem Trommel-
fell die Fähigkeit ab, sich entsprechend den hohen und tiefen Tönen akkommodieren
zu können. Er glaubt vielmehr, daß die Membran bei starken Tönen relaxiert, bei
schwachen gespannt wird, eine Ansicht, die bekanntlich unserer heutigen Auffassung
widerspricht , da wir wissen , daß Töne von verschiedenartigster Höhe gleichzeitig
vom Trommelfell aufgenommen und fortgeleitet werden.
Sleigh ist auch ein Gegner der Theorie von der Mitschwingung der Chorden
in der Schnecke und glaubt, daß der Ton in den verschiedenen Hohlräumen des
Ohres auf dieselbe Weise abgestimmt wird wie in den „tubis stentorophonicis".
Archibald Adams, Part of letter, concerning a monstrous calf and some-
things observable in the anatomy of a human ear. Philosoph. Transact. 1706.
P. Demeherenc de la Consilliere. De auditu. Ultrajecti 1710.
Jacob Douglas, Descriptio comparata musculorum corp. hum. et quadru-
pedis. Lugd. Batav. 1738, P. 49.
Laur. Metz, Diss. de auris humanae fabrica. Lugd. Batav. 1765.
*) Three treatises on the brain, the eye and the ear. Edinb. 1797. Illustrated
by tables. Observations on the organ of Hearing in man and other animals. p. 177.
I. c.
**) Tentamen physico-medicum inaugurale de auditu. Edinburgi 1753. The-
saurus Medicus Edinburgensis novus sive Dissertationum in Academia Edinensi, ad
rem medicam pertinentiuni, ab anno 1759 ad annum 1785 delectus, ab illustri Socie-
tate Regia Medica Edinensi habitus. T. II, p. 37— 50, Edinburgi et Londini 1785.
Cassebohm. 297
1 aygarth, in Medical observations and inquiries. Vol. IV, Edit. 2, 1772,
P. 198—^05 (Ueber das Ohrenschmalz).
J. B. Vermolen, Diss. de aure et auditu. Traj. ad Rhen. 1782.
Edmund Somers, Diss. physico-medica de sonis et auditu. Edinburgi 1783.
Deutschland.
In dieser Periode treten — wesentlich beeinflußt durch die Leistun-
gen der Italiener — zum ersten Male deutsche Gelehrte als Förderer
der Ohranatomie auf. Unter den zahlreichen Bearbeitern dieses Spezial-
gebietes ragen besonders Cassebohm, Brendel, Zinn und Meckel
hervor. Auch in der Ohrphysiologie wurde ein bedeutender Fort-
schritt angebahnt, wozu die akustischen Arbeiten der zeitgenössischen
deutschen Physiker wesentlich beitrugen. In den Schluß dieses Zeit-
raumes fällt die Tätigkeit Sömmerrings, dessen anerkennenswerte
Leistungen jedoch bereits dem Anfang des 19. Jahrhunderts angehören.
Der weitere Umkreis der Forschung und die größere Exaktheit der
Untersuchungen brachte bereits eine intensive Arbeitsteilung mit sich,
die sich in den vielen Spezialschriften ausdrückt, die an Zahl die
das Gehörorgan behandelnden Werke früherer Zeit übertreffen.
Unter den deutschen Anatomen, die sich um die Bereicherung der
Ohranatomie besonders verdient gemacht haben , ist in erster Reihe
Cassebohm zu nennen, der den großen Italienern des 17. u. 18. Jahr-
hunderts an die Seite gestellt werden kann.
Johann Friedrich Cassebohm, geboren zu Halle, ein Schüler des
berühmten Winslow, bekleidete die Professur in seiner Vaterstadt, dann
in Frankfurt a. d. Oder, endlich in Berlin, wo er am 3. Februar 1743
starb. Obwohl sich Cassebohm um den Fortschritt der Anatomie
im allgemeinen verdient gemacht hatte, wurde er doch erst durch seine
anatomischen Arbeiten über das Gehörorgan bekannt. In seinen Resultaten
der embryologischen Forschung des Gehörorgans läßt er alle Vorgänger,
auch Valsalva und Morgagni, Aveit hinter sich zurück, ja wir müssen
sagen, daß bis Huschke und v. Baer, Cassebohm in der Entwicklungs-
geschichte des Ohres allein mustergültig war.
Seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnete er mit der „Disputatio
anatomica inauguralis de aure interna. Francof. eis Viadrum 1730". Das
Gesamtergebnis aber legte er in seinen sechs Traktaten über das Gehör-
organ nieder. „Tractatus quatuor anatomici de aure humana, Halae
Magdeb. 1734; Tractatus quintus anatomicus de aure humana cui accedit
tractatus sextus de aure monstri humani, Halae Magd. 1735". Da die
Dissertation durch das Hauptwerk ergänzt und überholt ist, genügt esr
auf dieses letztere näher einzugehen.
Die dem Werke beigegebenen, von dem Studenten Petsche gezeich-
298 Cassebohm.
neten Tafeln, gehören zu den besten ihrer Zeit und werden nur von
Scarpas Abbildungen übertroffen1).
Cassebohms Traktate enthalten eine Fülle von Verbesserungen
und Neuheiten, nicht zum mindesten bei der Darstellung des inneren
Ohres und suchen in ihrer mit Kürze des Ausdrucks gepaarten Klarheit
der Beschreibung ihresgleichen. Ein Beweis hierfür liegt darin, daß der
kritische Morgagni mit Vorliebe und fast immer lobend seinen treff-
lichen Zeitgenossen zitiert. Der Inhalt des Werkes entspricht vollkommen
dem in der Vorrede ausgesprochenen Programm: „Malui enim, quanta
potui brevitate et perspicuitate meas observationes in libellum redigere
quam ex alienis volumen magnum consarcinare".
Der erste Traktat behandelt das Schläfebein, der zweite das
äußere Ohr, der dritte und vierte die Trommelhöhle, die als inneres
Ohr bezeichnet wird, der fünfte das Labyrinth, während der sechste
der Beschreibung eines monströsen sechsmonatlichen Fötus gewidmet ist,
einer Doppelbildung, bei welcher zwei Gehörorgane zu einem ver-
schmolzen waren. Die Mißbildungen betrafen hauptsächlich die Trommel-
höhle, in der sieben zum großen Teile verbildete Gehörknöchelchen vor-
handen waren, während das Labyrinth hinsichtlich Lage, Größe und
Gestalt einen ziemlich normalen Typus aufwies.
Es würde zu weit führen, die Detailarbeit Cassebohms aus-
führlich wiederzugeben; wir müssen uns vielmehr darauf beschränken,
nur das Wesentliche aus seinen Arbeiten hervorzuheben.
Seine Beschreibung des Schläfebeins zeichnet sich durch Prä-
zision und Gründlichkeit aus. Was Vorgänger und Zeitgenossen bloß
angedeutet hatten, das finden wir hier klar und ausführlich behandelt
und vorzüglich abgebildet, wie die Fissur a tympanosquamosa, die
Furche für den Nervus petrosus superfic. major, die sogen. Fis-
sur a Glaseri, die er beim Neugeborenen sehr klein fand, die Promi-
nenzen des oberen und hinteren Bogenganges auf der oberen und hinteren
Pyramidenfläche, die kleinen Löcher an der oberen Wand des Canal.
carot. und in der Fossa jugularis u. s. w. An der Pyramide unterscheidet
er vier Flächen und zwar zwei innere und zwei äußere; die inneren,
resp. äußeren teilt er wieder in eine obere und untere Fläche. Vom
Foramen stylomastoideum und dem Griffelfortsatz sagt er, sie
lägen beim Neugeborenen mehr an der äußeren oberen Fläche (unserer
äußeren) der Pyramide, rückten aber mit dem Wachstume des Fazial-
kanales gegen die äußere untere (unsere untere) Fläche. Die Angaben
Duverneys undSchelhammers, daß der Griffelfortsatz in irgend einer
Beziehung zur Bildung des äußeren Gehörganges stehe, hält er für irr-
tümlich, indem er darauf hinweist, daß ersterer beim Fötus lange vor
der Entwicklung des äußeren Gehörganges vorhanden sei. Von beson-
Cassebohm. 299
derer Exaktheit ist seine Darstellung der Bildung des knöchernen
Teiles des äußeren Gehörganges aus dem Trommelfellringe, zu
welchem Zwecke zahlreiche fötale und kindliche Gehörorgane der ein-
gehendsten Zergliederung unterzogen wurden. Die bereits von Riolan
angedeutete Ossifikationslücke in der Mitte der vorderen Wand des
knöchernen äußeren Gehörganges (S. 187) wird von Cassebohm zum
ersten Male genauer beschrieben und abgebildet (Taf. I, Fig. 2r), wo-
bei er darauf hinweist, daß Duverney sie gekannt zu haben scheine, da
er diese Lücke, wenn auch nicht beschrieben, so doch abgebildet habe
(S. 198, Fig. 9)2).
Das Trommelfell läßt er gleich seinem Lehrer Winslow aus
vier Häuten bestehen 3). Schon damals war der Streit über das Foramen
Rivini entbrannt. Cassebohm leugnete sein Vorkommen , da er in
vielen Präparaten vergeblich darnach gefahndet hatte 4). In der Trommel-
höhle beschreibt er ausführlich den Falz des Schneckenfensters,
ferner die Höhle der Eminentia pyramidalis und ihre Kommuni-
kation mit dem Fallopischen Kanal. Er fand diesen beim Er-
wachsenen länger und breiter als beim Kinde 5). Treffend ist seine Be-
schreibung der Gehörknöchelchen, denen er fünf Bänder zuschreibt.
Am Hammer unterscheidet er den Kopf, den Hals und drei Fortsätze.
Die Gelenkfläche des Amboßes ist von einer Furche umgeben, ebenso
fand er am Halse des Hammers eine breite schiefe Furche. Die Furche
des Amboßes an der Spitze seines kurzen Fortsatzes beim Kinde 6) ist
von ihm zuerst erwähnt. Neu ist ferner seine Beschreibung der aponeuro-
tischen Scheide des Trommelfellspanners und des Steigbügelmuskels,
die Konkavität an der Innenseite der Stapesschenkel und die durch
mikroskopische Untersuchung festgestellte Gefäßmembran (..periostium
internum" ) im Innern des Hammers und Amboßes. Vom Warzenfort-
satz behauptete Cassebohm, daß er beim Fötus keine Zellen besitze.
Die jetzt bekannte anatomische Tatsache, daß normalerweise nicht selten
diploetische Warzenfortsätze vorkommen, in denen sich nur das Antrum
mastoideum als lufthaltiger Raum vorfindet, dürfte ihn zu der Annahme
veranlaßt haben, daß die pneumatischen Zellen mit den Jahren wieder
verschwinden und schließlich nur in der Mitte allein übrig bleiben 7)
(vergl. Taf. II, Fig. 4). Diese Ansicht findet sich jedoch nur in seiner
Diss. de aure int., aber nicht mehr in seinen Traktaten über das mensch-
liche Ohr8).
Im knöchernen Labyrinth waren ihm vor Cotugno die beiden
für die Vorhofsäckchen bestimmten Recessus bekannt. Die fünf Mün-
dungen der drei Bogengänge im Vorhof sind topographisch richtig
beschrieben und auch abgebildet. Die fünf Bogengänge selbst benennt
er nach ihrer Lage und Richtung als „superior", „inferior" und „medius"
300 Cassebohm.
oder „externus*. Er zeigt ferner, daß in der Länge der Bogengänge
bei Neugeborenen und bei Erwachsenen gleichen Alters große Ab-
weichungen bestehen.
Hervorzuheben sind des weiteren seine nahezu richtigen Messungen
der einzelnen Teile des Gehörorgans; so bestimmte er z. B. den Schnecken-
kanal beim Kinde auf zwölf Linien.
Wenn auch bereits frühere Autoren, wie Willis, Vieussens,
Bartolo und Winslow, von einer Kommunikation beider Schnecken-
gänge gesprochen hatten, so war Cassebohm doch unstreitig der erste,
der die Kommunikation im Becher ausführlich beschrieben hat; doch
leidet, wie Scarpa hervorhebt, seine Beschreibung an ungewöhnlicher
Dunkelheit9). Die Abbildung des Spindelkanals stimmt bis auf geringe
Abweichungen mit der späteren Scarpas10). Mit größter Genauigkeit
beschrieb Cassebohm den inneren Gehörgang und den sichelförmigen
Grat, der den Gang in die beiden Recessus für den Hörnerv und den
N. facialis scheidet11). In dem unteren Recessus fand er im Gegensatze
zu Valsalva außer fünf größeren noch eine Reihe kleinerer Oeffnungen.
Auch die Eingänge zu den beiden Wasserleitungen waren ihm nicht ganz
fremd12). Labyrinthwasser fand er gleich Valsalva, Vieussens und
Morgagni als zufälligen Befund (in quibusdam auribus), ohne eine
richtige Deutung hierfür geben zu können. Er glaubt, daß die Flüssig-
keit aus der Schädelhöhle durch die Löcher des inneren Gehörganges
in das Labyrinth gelange oder daß sie von den membranösen Gebilden
des Labyrinthes sezerniert werde. Zu genaueren Untersuchungen hier-
über, die er in Aussicht stellte, sollte es nicht mehr kommen: ..Plura
de hoc humore alio tempore Deo volente afferam".
Was das häutige Labyrinth anlangt, so leugnete er die ,.Zonaeu
Valsalvas; statt dieser beschreibt er Fäden (Filamenta), die beim
Herausziehen aus den halbzirkelförmigen Kanälen wegen ihrer Befestigung
im Vorhofe einigen Widerstand leisteten. Es waren dies offenbar Frag-
mente der wandständigen membranösen Bogengänge.
Desgleichen verfolgte er die Verbreitung der Gefäße und Nerven-
verzweigungen in der Trommelhöhle und im Labyrinthe und sprach
sich mit Entschiedenheit gegen die von Morgagni unterstützte Annahme
der Valsalvaschen Löcher (Dehiszenzen am Tegmen. tymp.) aus, die
von der Trommelhöhle in den Schädelraum führen sollten.
Besonders wertvoll in dem Traktate Cassebohms ist die Beschrei-
bung der Veränderungen der einzelnen Teile des Gehörorgans in den
verschiedenen Altersstufen, besonders beim Fötus, beim Neugeborenen
und im Greisenalter. Aus seiner Embryologie wäre folgendes hervor-
zuheben. Im Gegensatz zu Ruysch hält er den annulus tymp. für eine
pars propria des Schläfenbeins13). Die Gehörknöchelchen, die er beim
Cassebohra. 301
Fötus teilweise hohl fand, beobachtete er im dritten Monat und kannte
ihren ungleichmäßigen Entwicklungsprozeß; zuerst verknöchern Amboß
und Steigbügel, später erst der Hammer. Bewunderungswürdig ist die
Sorgfalt, mit der Cassebohm den Entwicklungs- und Verknöclierungs-
prozeß der Trommelhöhle, der beiden Fenster, des Kanals für den Tensor
tympani, des Fallopischen Kanals u. s. w. verfolgte, wenn auch manches
durch spätere Untersuchungen berichtigt wurde.
Auch die Entwicklung des knöchernen Labyrinths fand an ihm einen
aufmerksamen Beobachter. Im dritten Fötalmonat seien die Wände des
Vorhofs knorpelig, im vierten knöchern, doch noch nicht so stark und
so gewölbt wie in der späteren Zeit; den Beginn der Ossifikation ver-
legte er in den Umfang des Schneckenfensters. Im vierten Monat fand
er die Schnecke mit Ausnahme der Lamina spiralis ganz verknöchert;
diese ossifiziere im fünften Monat. Die Bogengänge seien erst im
fünften und sechsten Monat vollkommen ausgebildet. Diese Angaben
stimmen mit den Untersuchungsergebnissen der späteren Forscher nicht
überein.
Vom äußeren Ohr beobachtete er bei einem einmonatlichen Embryo
noch kaum die Anlage. Hinsichtlich der Alterserscheinungen bemerkte
er eine Verkleinerung der Trommelhöhle und Abnahme der Zartheit und
Elastizität des Trommelfells.
Raummangel verbietet uns, der Reichhaltigkeit der Forschungs-
ergebnisse Cassebohms gerecht zu werden, doch läßt sich schon aus
dem Wenigen, was wir hervorgehoben, der Umfang und die Tiefe seiner
Leistungen erschließen. Seine Arbeiten, die für die gesamte Otologie
von nicht gewöhnlicher Bedeutung sind, sichern ihm in der Geschichte
der Ohrenheilkunde für immer den Rang eines hervorragenden Forschers.
Cassebohm hat auch in seiner .,Anweisung zur anatomischen Be-
trachtung und Zergliederung des menschlichen Körpers" (Neue Ausgabe
von Baidinger 1769) eine spezielles Kapitel der Sektionstechnik des
Gehörorgans gewidmet*).
') In pingendis omnibus sex tabulis singulareni adhibuit diligentiam Dominus
Joannes Zaccharias Petsche Brunsvicensis Medicinae Studiosus, qui per quinque annos
in praeparationibus anatomicis mihi sedulus adstitit. Tract. V.
2) Idem paries (nämlich anterior) in medio foramen habet, in infante aliquod
arnorum magnum ; in juvene autem et adulto disparens, quia coaluit. Riolanus hujus
foraminis meminit ; silent vero recentiores : Duverney tarnen illud adumbrasse videtur.
Tract. III, § 674, p. 28.
:i) Tract. III, § 78, p. 32.
') Licet in muh eritras ad illud detegendum omnem impenderim operam,
5) Canalis hie plerumque in adulto longior et latior est quam in int';inle.
Tract. IH, § 97. p. 39.
*) Cap. 27. Von der Präparation des Ohres, p. 358—363.
302 Cassebohm. Pyl.
6) In infantia inende , in apice cruris brevis impressionem parvani cum sulco
super ea animadverti cuius in adulto aliquod remanet vestigium. Tract, IV, § 129, p. 54.
7) Dis. de aure int. § 23, p. 24.
8) Tract. III, § 92, p. 37.
9) Scarpa sagte in seinen Disq. anat. de auditu et olfactu Sect. II, Cap. 2
et 12: Gleich im Anfange muß ich gestehen, daß die bisher über diesen Gegenstand
bekannt gemachten Beschreibungen immer so dunkel sind, daß ich mich nie durch
die mancherlei Schwierigkeiten durcharbeiten und den Sinn des Schriftstellers ganz
enträtseln konnte. Deutsche Ausgabe 1800, p. 85. Deshalb fand ich auch keine
einzige Abbildung auch in den sonst gerühmten Cassebohmschen Tafeln der Be-
schreibung des Verfassers genau entsprechend, keine, die, worauf es am ersten an-
kommt, mit der Wahrheit übereinstimmt. 1. c. p. 87.
,0) Tab. V, Fig. 9.
1!) In partis petrosae superficie interna et inferiore canalis auditorius internus
ineipit, qui inde ad vestibulum et cochleam progreditur ibique terminatur. Hie
terminus vocatur fundus, quem eminentia quaedam in duos alios partitur, quorum
unus fundus superior, sive minor vocatur; alter fundus inferior sive major audit.
Tract. V, § 209.
12) Tract. V, §§ 199 u. 216, Tab. IV, Fig. 8 u. 12. Tab. V, Fig. 8.
13) Coelo existente sereno foetuum annulos oculo examinavi, atque in foetus
trium mensium annulo in superficie annuli externas fibras longitudinales cum inter-
jeetis sulcis longitudinalibus vidi. Tract. III, § 03.
Theodor Pyl. Dem Traktate Cassebolims ist eine Arbeit an-
zureihen, deren Autor insofern als Vorgänger Cotugnos angesehen
werden muß , als er der erste war , der eine Hörtheorie auf d i e
Annahme eines flüssigen Mediums im Labyrinthe auf-
baute. In dieser kurzen Schrift, betitelt „Diss. med. de auditu in
genere et de illo qui fit per os in specie". Gryphiswald. 1742 (Praeses
Theod. Pyl resp. Ch. Lud. Willich), heißt es nämlich*): „Facili negotio
itaque indueimur, ut credamus, in toto Labyrintho contineri liqui-
dum sive fluid um elasticum subtile, aereum forsitan, quod, qua
ratione in hoc cavum eiusve contenta perveniat, ab iis demum edo-
cemur qui illud a fluido ex vasculis minimis secreto separari statuunt,
eiusve phenomini explicationem ex Physicis de vapore petunt et fluido.
... § 27. Nunc superius vidimus, aerem tremulum externum ferire
tympani membranam, quae, ut motum impressum communicet malleo,
necesse est; hie ob articulationem suam mobilem cum reliquis ossi-
culis, motum impressum illis communicat; et ad ultimum eorum in
ordine extendit: hoc, cum varie moveri possit, ut tremulos duos motus
in labyrintho haerenti subtili elastico flu id o communicet, neces-
sario ex modo sequitur." Hier wird somit zum ersten Male klar aus-
gesprochen, daß das Labyrinth „in toto" von Flüssigkeit erfüllt ist.
Dies schmälert jedoch keineswegs das Verdienst Cotugnos, der
*) p. 20 u. 21, § 26.
Pyl. Brendel. 303
19 Jahre später, ohne Pyls Dissertation zu kennen, zu demselben Er-
gebnisse gelangte.
Wie langsam damals wissenschaftliche Entdeckungen sich selbst in
den Ländern ihrer Entstehung verbreiteten, erhellt daraus, daß der Deutsche
Ch. L. Hoff mann in der .,Diss. inaug. physioL de auditu" (Praes.
S. Paul Hilscher), Jena 1746, somit vier Jahre nach der Publikation
Pyls, eine Hörtheorie auf Grundlage der bekannten physikalischen Ge-
setze und mit der Annahme der Labyrinthluft entwickelte, da-
bei jedoch von einer Labyrinthfeuchtigkeit spricht, die stets vorbanden
sein müsse, um die Vertrocknung der Nerven durch die Körperwärme
zu verhüten (Diss. de auditu, p. 38: „Cum labyrinthus semper obser-
vatur madefactus . . .")•
Ueber das Labyrinth hatten in diesem Zeitraum mit besonderem
Erfolge Brendel, Zinn und Meckel gearbeitet. Die beiden ersten
wählten sich die Schnecke als Forschungsobjekt.
Gottfried Brendel (1712—1758), Sohn des Wittenberger Ana-
tomen Adam Brendel, wurde Professor zu Göttingen, später Hallers
Nachfolger in der Chirurgie und erwarb sich abgesehen von seinen oto-
logischen Arbeiten auch auf dem Gebiete der gerichtlichen Medizin be-
sondere Verdienste.
In seiner Schrift ..Progr. de auditu in apice Cochleae" , Götting.
1747, beschrieb er eingehend das Spiralblatt, die Spindel und den
Spindelkanal der Schnecke, sowie den Verlauf des Nerven in der
Schnecke. Seiner Ansicht nach tritt ein Zweig des Schneckennerven,
der durch den Spindelkanal zieht, aus kleinen Löchern am blinden Ende
desselben in den Vieussensschen Becher, um sich in dessen Spitze
auszubreiten1).
An der Spindel unterschied Brendel eine äußere härtere und glattere
Rinde und einen inneren weicheren Teil, der den Zentralkanal umschließt.
Ein sprechendes Zeugnis für die Gründlichkeit seiner Untersuchungen
bildet die Auffindung der Kommunikationsstelle beider Treppen in einer
kleinen Oeffnung des Bechers2). Eigentümlicherweise verlegt er den Ort
des Hörens in die Schneckenspitze, weil er die Beobachtung gemacht
haben wollte, daß der Hörnerv nach Passierung des Spindelkanals sich
an der Schneckenspitze in Fasern auflöst; hier sollen nun nach seiner
irrigen Auffassung die Schallwellen wie in einem Breunpunkte zur Ver-
einigung gelangen (Senac).
J) Unde non omnino videtur alienum, canalem illum (sc. modioli) non quidem
continuo tubo in cavum ascendere conoidis, sed per exilissimos quosdam angiportus
foraminulis memoratis exeuntes, habere aliquid commercii et immissi in illum nervi
subtilissimos surculos, per has angustias in cavum conoidis pervenire ibique expli-
cari . . . semel illum canalis ductuin studiose acutissimoque et subtilissimo culteoll
304 Zinn.
,us, finem illi coecum esse coniperi, at fundum quendam perexiguis foraminulis
pettusum.
2) Nam lamella spiralis, ubi basin conoidis prope attigit, liiatu quodam efficit,
ut binae scalarum cavitates in hoc conoidis cavum confluant.
J. G. Zinn. Ebenso gediegen ist die Schrift eines anderen Göt-
tinger Professors J. G. Zinn (1727 — 1759), der gleichfalls die Schnecke
zum Untersuchungsobjekt wählte. Zinn, ein Lieblingsschüler Hallers,
lehrte Anatomie zu Göttingen. Er starb im Alter von 32 Jahren an der
Schwindsucht. Sechs Jahre vor seinem Tode veröffentlichte er die auch
otologisch bemerkenswerte Arbeit: ..Observationes quaedam botanicae, et
anatomicae de vasis subtilioribus oculi et Cochleae auris internae" (Göt-
tingen 1753). In dieser Arbeit beschreibt er ausführlich das Spiralblatt
der Schnecke auf Grund von mikroskopischen Untersuchungen.
Er fand es aus zwei Teilen bestehend , aus einer der Spindel zu-
gewendeten rauhen und gefurchten und einer glatten, aus queren Fasern
zusammengesetzten Partie, welch letztere der Lamina membranacea zur
Befestigung dient1). Die Lamina Spiral, membranacea stellt er sich als
Duplikatur des Schneckenperiosts vor2). Aehnlich wie Brendel schildert
Zinn die Kommunikation beider Treppen im Scyphus3).
Mit großer Genauigkeit verfolgte er den Schneckennerven un'd be-
schrieb zuerst, schon vor Cotugno, dessen Eintritt in Form eines spiral-
förmigen Zuges4) in die Schnecke, sowie die Ausbreitung der Fasern auf
dem Spiralblatt nach dem Verlassen der Spindel. Obwohl Zinn eine
ziemlich richtige Vorstellung des Hörnervenverlaufs in der Schnecke hatte,
opponierte er doch der zu dieser Zeit durch Boerhaave (siehe diesen)
vertretenen Hypothese von den Schwingungen der Nervenfasern der häu-
tigen Spiralmembran. Er meint nämlich, mit dem, was wir über Struktur
und Funktion der Nerven wissen, könne unmöglich Boerhaave an-
nehmen, daß die Nervenfasern zwischen den beiden Lamellen der mem-
branösen Spirale so disponiert seien, daß sie, an dem knöchernen Teil
fixiert, jede einzeln in Schwingung gerieten. Nach der Annahme Zinns
sollen vielmehr die knöchernen Streifen (striae) im stände sein, isoliert
zu schwingen und dann diese Schwingung auf die entsprechende Nerven-
faser zu übertragen"').
Zinn war es auch, der zuerst Genaueres über die Gefäße der
Schnecke, namentlich des Bechers, mitteilte. Desgleichen erwähnt er eine
Arterie und einen Nervenzweig, die den M. stapedius versorgt, ferner
eine Arterie, die durch einen Verbindungskanal zwischen Canalis Fallop.
und dem Warzenfortsatz verläuft.
') Ipsa autem lamina ossea ex duplici substantia composita mihi esse videtur.
Pars nempe interior, quae ex modiolo enata in cavitatem gyri producitur, asperior
semper est, in scala vestibuli multis granulis hirta et foveolis inaequalis, in scala
Meckel. 305
tympani autem notatur multis lineis extantibus ex ipso modiolo in illam porrectis.
Altera pars in ijiso gyro suspensa, structura niultum a priori diversa videtur et
fasciam refert, quae nullis neque granulis neque lineolis extantibus hirta, levior et
solidior observatur, quae tarnen fasciola, si microscopio inspiciatur, lineata et ex
striis transversis plane parallelis sensim brevioribus composita apparefc, cuius orae
liberae subtilissime serratae pars membranea laminae spiralis adnectitur. 1. c. p. 31.
2) Pars altera hujus laminae spiralis membranea est, ipsi periostio concbae
• ontinua, ut inde statim pateat, laminae spiralis partem membraneam duplici lamella
esse compositam. 1. c. p. 32.
3) Dum autem hamulus ille biatum transcendit, inter illum et parietem in-
ternam foramen relinquitur, per quod seala tympani in cavitatem scyphi hiat, quae
tarnen scala ibi non plane terminatur, sed inter partem membraneam et parietem
intern am pergit, usque dum angustissima facta, lamina membranea sab acutissimo
angulo ad parietem internam accedente, finiatur. Scala autem vestibuli inter hamulum
laminae spiralis osseae et ipsum fornicem Cochleae per biatum ad scyphum Vieussenii
pertingit. 1. c. p. 33.
4) In sinu autem Cochleae semper observo lineam eminentem spirali via, eadem
cum scalis directione, versus apicem nuclei porrectam, et in vallecula inter gyros
lineae eminentis interposita spirali plurima foraminula duplici serie posita, scalas
Cochleae respicientia quorum agmen tandem claudit canaliculus ille, qui per medium
nucleum (Schneckenspindel) ascendit. 1. c. p. 30.
5) Cum autem Striae osseae transversae parallelae, ex quibus lamina ossea
componitur, sibi invicem potius agglutinatae et contiguae. quam, uti fibrae partis
membranaceae sibi continuatae videantur, singula stria tremere et unice suum nervulum
percutere poterit. reliquis striis et nervulis vel maxime vicinis, plane quietis et in-
concussis, aut si contremiscant nonnullae, harmonicae tantum, et octava ad octavam.
consonabunt. 1. c. p. 36.
Philipp Friedrich Theodor Meckel (1756—1803), ein Mitglied
der berühmten deutschen Gelehrtenfamilie, hat in seiner Dissertation .,De
labyrinthi auris contentis" *) eine anatomisch-physiologische Arbeit über
das Ohrlabyrinth geliefert, die bei allen Fachgenossen ungeteilten Bei-
fall errang. Wenn auch Meckel in seinen Schilderungen der Vorhofs-
und Schneckenwasserleitung, denen er treffliche Abbildungen beigab, den
Spuren des großen Cotugno folgte, so setzt dies den Wert seiner
Arbeit doch nicht herab; denn die klassische Art und Weise, wie er
diese Frage behandelte und neue Beweismittel zu Cotugnos Ent-
deckung lieferte, charakterisiert ihn als erstklassigen Anatomen, zu-
mal, wie wir gesehen haben, Scarpa sich über die Aquädukte nicht
äußerte, andere sogar so weit gingen, ihre Existenz in Abrede zu
stellen. Erwähnenswert ist, daß Meckel zum ersten Male die Wände
der Wasserleitungen aus der Knochenmasse in ähnlicher Weise heraus-
präpariert und abgebildet hat, wie es später durch den Präger Ana-
tomen Ilg geschah. Um den Nachweis zu erbringen, daß sich wirklich
keine Luft im Labyrinth befinde, eröffnete er an jungen Katzen das
i Ar-vntorati 1777.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. [. 20
306 Meckel. Walther.
innere Ohr vom äußeren Gehörgange und der Trommelhöhle aus vorsichtig
unter Wasser, wobei sich zeigte, daß keine einzige Luftblase aufstieg.
Als er nämlich mit der Spitze des Skalpells in das runde Fenster ein-
stieß, sah er ..limpida, paulo rubicunda aquula" hervorquellen und, als
er hierauf den Stapes bewegte, kam eine weitere Menge dieser Flüssig-
keit aus der gesetzten Wunde. Vollkommenes Gelingen dieser opera-
tiven Methode verlangt, wie er betont, exakte Blutstillung und Reinigung
der Trommelhöhle von Schleim. Ferner injizierte er Quecksilber in ein
Labyrinth, um zu zeigen, daß nirgends ein Ausweg vorhanden seit.
tatsächlich drang nirgends auch das kleinste Quecksilbertröpfchen durchs
woraus er schloß, daß keine Kommunikation der Trommelhöhlenluft mit
dem Labyrinthe bestehe. Nach Willis sind dies die ersten Experimente
an lebenden Tieren. Im Gegensatze zu Cotunni vergleicht Meckel das
Labyrinthwasser nicht mit jenen Flüssigkeiten, die in den übrigen Körper-
höhlen abgeschieden werden, da es nicht wie diese dazu dient, die Reibung
herabzusetzen.
In den Dissertationsschriften aus damaliger Zeit finden sich
kurzgefaßte Ueberblicke über den Stand der Ohranatomie; doch haben
die meisten nur geringen wissenschaftlichen Wert. Eine selbständige
Leistung war in den wenigsten enthalten. Wir werden deshalb nur die
wichtigsten einer kurzen Besprechung unterziehen und verweisen im
übrigen auf das nachfolgende Literaturverzeichnis.
Aug. Fr. Walther. Die 1725 erschienene Dissertation des Leip-
ziger Professors der Anatomie Augustin Friedrich Walther (1688
bis 1746) über den Bau des Trommelfells (Dissertatio anatomica de mem-
brana tympani) umfaßt nahezu sämtliche, die Otologen jener Zeit inter-
essierenden Fragen über die Struktur und die Funktion des Trommel-
fells, die insoferne auch die übrige Ohranatomie berühren, als sie in
mehr oder minder näherer Beziehung zum Trommelfelle stehen.
Das Trommelfell besteht nach ihm aus zwei Häuten, deren innere
vom Trommelhöhlenperiost, die äußere vom Perichondrium und der Haut
des äußeren Gehörganges gebildet wird. Lage und Form des Trommel-
fells, seine Verbindung mit dem Hammer, dieser selbst und die übrigen
Gebilde der Trommelhöhle werden übersichtlich geschildert. Er verteidigt
gegen Heister die knöcherne Beschaffenheit des langen Hammerfort-
satzes, der um ein Achtel kleiner als der Hammer sei, wendet sich gegen
die Annahme eines dritten Hammerfortsatzes, an dem der Tensor tympani
sich ansetzen solle, und bestreitet gegen Duverney das Vorhandensein
dreier Hammermuskel.
An der äußeren Fläche des Trommelfells unterscheidet er zwei
Punkte, die durch den kurzen Fortsatz und das Hammergriffende
(Umbo) markiert werden. Die Linie, an die sich das Manubrium an-
Walttier. 307
setzt, teilt das Trommelfell in eine vordere größere und eine hintere
kleinere Partie. Die Membran, welche die Stapesplatte umgibt (Ligament,
orbicul. stapedis), hält er zur Uebertragung der Schallwellen für vorzüg-
lich geeignet1).
Zu den bisher bekannten besonderen Merkmalen des kindlichen
Schläfebeins fügt er einige neue, wie den Mangel der Gelenksgrube
(Fossa glenoidalis) für das Unterkieferköpfchen, das Fehlen des (knöcher-
nen) Griffelfortsatzes 2).
Das Trommelfell ist beim Neugeborenen dicker als beim Er-
wachsenen, der Hammergriff steht mehr vertikal und mit dem langen
Amboßfortsatz beinahe parallel. Die beiden Fenster weisen seiner
Ansicht nach in den verschiedenen Lebensaltern keine Unterschiede auf.
Seinen Ausführungen über die Entwicklung des Ohres beim Fötus
entnehmen wir, daß im dritten Monate die Pyramide ein „tuberculum
osseum'' darstelle, im vierten der Annulus tympanicus sich vom übrigen
Knorpel bereits unterscheiden lasse und am Ende des vierten Monats die
Gehörknöchelchen schon vorhanden seien3).
Den Schluß der Dissertationsschrift bildet die durch zahlreiche Ex-
perimente an Kindern, Erwachsenen und Säugetieren unterstützte Beweis-
führung, daß das Foramen Kivini nicht existiere.
Eine andere Arbeit desselben Autors „Teneriorum musculorum ana-
tome" enthält Unwesentliches über die äußeren und inneren Ohrmuskel.
!) Inde enim accidit, ut membrana, quae basin stapedis circumdat, et ovale
forarnen claudit, jam magis depressa , paululum intendatur, ac sonum melius, et
promptius. debitaque proportione, et impetu modico, ad vestibuluin, scilicet, a latere
istius basis per foraminis ovalis reliquum, et ita patentem ambitum transmittat. Est
enim imprimis in nomine omnis stapedis basis foramine jam dicto minor, nee in-
tegrum exaete claudit, sicut explorando stapedem , et ipsum intrudendo in vesti-
bulum saepissime cognovimus, etiamsi permulti contradicant; hinc si sonus duriora
ligna, et muros, omnesque commissuras aretissimas penetrat, cur is per pelliculam
non ita crassam, rimamque exilem, et a stapedis depressi margine transire et ferri
ad vestibulum non poterit? p. 848.
2) Eo tempore aetatis primo, neque maxillaris ossis temporum processus, qui
meatui ricinus est, acquisivit sinum, qui inferioris maxillae condylum reeipiat, neque
mammillaris processus, neque, qui a stylo nomen habet, protenduntur ; neque in-
tegrum illud os, quoad partem cerebri sustinet, ampliatur, et excavatur, et plurimis
modis a perfectione deficit. p. 351.
3) Hoc enim mense durissimus processus, qui petrosus dicitur, primum tuber-
culum osseum repraesentat, nee annulus, post quem nostra membrana sita est, citius
quam quarto mense sua duritie ab annexa cartilagine distinguitur; cuius mensis
initio etiam processus Zygomaticus osseus apparet, tenuemque repraesentat filum.
Hocce finito, ossicula dignoseuntur. p. 353.
Herm Fried. Teichmeyer, der die Existenz des Foramen Rivini
im Trommelfell annimmt und es an die Stelle verlegt, wo der Hammer-
308 Teichmeyer.
griff in den Hammerhais übergeht, gibt in seiner Dissertationsschrift
„Sistens vindicias quorundam inventorum meoruin anatomi-
corum a nonnullis celebratissimis anatomicis in dubium voca-
torum", Jenae 1727, eine Zusammenstellung der Anatomen, die sich
um die Entdeckung und Beschreibung der Gehörknöchelchen Verdienste
erworben haben, und bringt eine Tabelle mit neun verschiedenen Ab-
bildungen der Gehörknöchelchen. Teichmeyer teilt die Gehörknöchel-
chen in zwei Gruppen ein, in drei Ossicula majora (Malleus, Incus,
Stapes) und in vier Ossicula minora (Oss. ovale, semilunare, lenticulare,
trianguläre) *).
Das Ossiculum ovale, von Teichmeyer selbst so benannt2), von
Franziscus Sylvius aufgefunden und als Ossic. quartum oder rotundum
bezeichnet, sei in die Sehne des Steigbügelmuskels als Sesamknöchelchen
eingefügt. Von Folius und Vesling werde dieses Knöchelchen
Osseus globus, von Casserio Os. globosum genannt. Von Marchetti
ist sein Vorkommen beim Menschen in Abrede gestellt worden, auch
Schelhammer habe es nicht gekannt.
Der Ruhm der Auffindung des von Teichmeyer als das Ossi-
culum semilunare bezeichneten3) Linsenknöchelchen gebühre dem
Franziscus Sylvius, der es mit Unrecht Ossiculum orbiculare nenne,
während ihm Lindanus den Namen Ossiculum cochleare, Fontanus
den Namen Ossiculum squamosum beilege. Auch dieses fünfte Gehör-
knöchelchen erwähnt Schelhammer nicht.
Die Entdeckung eines sechsten Knöchelchen, des Ossiculum lenti-
culare, vindiziert Teich m eye r sich selbst4), gibt jedoch zu, es nicht
im menschlichen Schädel, sondern im Schädel des Kalbes gefunden zu
haben. Es befinde sich am großen Amboßfortsatze und zwar an der
Stelle, die der Lage des vorher erwähnten Ossiculum semilunare ent-
gegengesetzt sei. Heister und Nicolai hätten das regelmäßige Vor-
kommen dieses Gehörknöchelchens beim Menschen geleugnet und es als
akzessorisches (peculiare) bezeichnet.
Endlich berichtet Teich meyer über ein siebentes Knöchelchen,
das er auch entdeckt haben will und Ossiculum trianguläre be-
nennt. Dieses liege in der an den Sinus stoßenden Wand des Pro-
cessus mastoideus (in pariete sinuositatis mastoidei ossis) und sei ein
Hypomochlion, auf das sich der kurze Amboßschenkel stütze4). Bezüglich
der von Teichmeyer beschriebenen „ossicula minora" ist zu bemerken,
daß es sich mit Ausnahme des Ossiculum semilunare, welches jetzt Ossi-
culum lenticulare, Linsenknöchelchen, genannt wird, nur um akzes-
sorische Befunde von untergeordneter Bedeutung handelt.
J) Tria antea exposita ossicula auditus a me iure meritoque majora vocantur,
et de illorum existentia apud prosectores nulluni amplius est dubium. Quae vero a
Schmidt. 300
me vel primum observata atque inventa, vel ab oblivione vindicata sunt, et respectu
priorum, quae majora dicuntur, minora i-alutantur, magnas inter eruditos excitarunt
controversias et lites.
2) Ut appareat paulo luculentius, quod ossiculum quartum, ovale a me vocatum,
aliis Anatomicis jam dudum innotuerit, operae pretium est, eorum hie proponere verba.
3) Quintuna ossiculum, praesenti seculo magis notum, quam quartum, corumu-
nissime salutatur orbiculare, a me vero semilunare, propter figuram quam possidet,
vocatur. Hocce ossiculum a nemine unquam Anatomicorum, praeter me, vel obser-
vaturn, vel descriptum.
4) Hocce ossiculum , propter figuram ita dictum , reperitur in pariete sinuosi-
tatis mastoidei ossis , estque nihil aliud , quam hypomochlion , vel basis, cui insistit
crus incudis rectum.
Joh. And. Schmidt. Trotz des unwiderlegbar durch Ruysch er-
brachten Nachweises, daß die Gehörknöchelchen ein Periost besitzen, blieb
dies doch noch lange ein strittiger Punkt. Da frühere Forscher wie Du-
verney und Schelhammer ein Periost der Knöchelchen geleugnet hatten,
so stellte J. A. Schmidt in seiner Arbeit „De periostio ossicu-
lorum auditus eiusque vasculis" 1719 sich die Aufgabe, die Be-
weisgründe, welche diese Anatomen für und wider die Annahme eines
Periosts anführten, auf ihre Stichhältigkeit zu prüfen und insbesondere
die Momente anzugeben, die für ein Periost sprechen. Da der mikro-
skopische Nachweis des Periosts damals noch nicht erbracht werden
konnte, suchte Schmidt auf folgende Weise das Vorhandensein des
Periosts festzustellen. Er injizierte in die Carotis interna einer Leiche
eine Flüssigkeit, worauf er zahlreiche zarte Gefäßverzweigungen auf der
Oberfläche der Gehörknöchelchen sah, aus denen er den Schluß zog, daß
diese Gefäße sich nur in einer Membran ausbreiten könnten , die eben
das Periost der Gehörknöchelchen vorstelle 1).
!) Quid vero eorum praesentia aliter indicat, quam omnia haec ossa peculiari
membranae involui. p. 11.
Die Abhandlung des Chr. Em. Wünsch „De auris humani pro-
prietatibus et vitiis quibusdam. Lipsiae 1777" enthält u. a. eine inter-
essante Zusammenstellung von Maßangaben des Verfassers und der hervor-
ragendsten Autoren (Mus che nbro eck, Duverney, Valsalva, Cotugno,
Cassebohm) unter dem Titel: „Machinularum auditus mensura".
Joh. Heinr. Hofmeisters Dissertation „De organo auditus et
eius vitiis. Lugd. Batav. 1741" enthält einen kurzgefaßten Ueberblick
über die Anatomie des Gehörorgans, an die sich eine anatomische Ein-
teilung der Ohrenkrankheiten anschließt.
Von größerer Bedeutung ist das 1795 in deutscher Sprache er-
schienene kompilatorische Werk Wildbergs. „Versuch einer anatomisch-
physiologisch-pathologischen Abhandlung über die Gehörwerkzeuge des
Menschen. Mit Kupfern. Jena". Es bringt die Resultate und Ent-
310 Wildberg.
deckungen, die in Spezialschriften oder in den damals schwer zugäng-
lichen Werken der ausländischen Autoron enthalten sind, in ein ge-
ordnetes übersichtliches Ganze. — Nach Wildberg ist das ganze Laby-
rinth ohne irgendwelchen Unterschied Sitz des Gehörs. Die mannig-
faltigen Krümmungen vergrößern in dein an sich kleinen Raum die per-
zipierende Oberfläche. Der Nutzen der Bogengänge besteht darin, daß
sie mit dem unmittelbaren Gehörwerkzeuge in Verbindung stehen und
die Oberfläche vergrößern, wodurch die Erschütterung, die sich beim
Schalle der Pyramide mitteilt, von ihnen aufgenommen und zu den Am-
pullen und dem gemeinschaftlichen Sacke des Vorhofs geleitet wird.
Den damaligen Anschauungen*) entsprechend, daß die dem Gehirne
eigentümliche Kraft, die Lebenskraft (vis vitalis), die Nervenflüssigkeit
ununterbrochen in alle Nerven enthaltenden Teile fortbewege, nahm Wild-
berg an, daß sich die Nervenflüssigkeit auch durch alle Nerven des
Labyrinthes ergieße und zur Erhaltung einer bestimmten Beschaffen-
heit des Labyrinthwassers diene. Sobald nun eine Bewegung des Laby-
rinthwassers durch den Schall hervorgerufen werde , bewirkt dies einen
Eindruck auf die im Labyrinthe ihrer Scheide entblößten Nerven, in-
dem der gleichförmigen, ununterbrochenen Bewegung der Nervenflüssig-
keit ein Widerstand entgegengesetzt werde. Die auf diese Weise gehinderte
Tätigkeit der „Lebenskraft" teile sich der Seele mit und so entstehe in
ihr eine Vorstellung des Widerstandes, d. h. einer Empfindung des
Schalles. Diese Anschauung Wildbergs über die Theorie des Hörens
ist der interessanteste Teil seiner Arbeit.
Weniger Selbständigkeit beansprucht der anatomische Teil. Die
beigegebenen Kupfertafeln sind teils nach Wildbergs und seines Bruders
Präparaten verfertigt, teils Casse bohms und S c a r p a s Traktaten ent-
lehnt. In der Schneckenwasserleitung bildete er einen Venenkanal der
Schnecke (Canalis venosus Cochleae) ab, unterschied ihn aber von dem
eigentlichen Aquädukt, den er auch in der pyramidenförmigen Knochen-
vertiefung (Aditus ad aquaed. Cochleae) münden ließ. Er erwähnt ein
seltenes Emissarium, das durch den hinteren Anteil der Glaserschen
Spalte hindurchzieht, dann ein anderes, das aus dem Sinus transversus
in die Venen der Schläfe übergeht. Ferner fand er, daß in der Haut
des äußeren Gehörganges das Rete Malpighii sich nicht deutlich erkennen
lasse u. s. w. Der Ansicht einiger Anatomen, daß das runde Fenster bei
alten Menschen enger sei als bei jungen, tritt er entgegen, indem er darauf
hinweist, daß er bei seinen Sektionen von älteren Menschen den Durch-
*) Isenflamm, Versuch einiger praktischen Anmerkungen über die Nerven.
Erlangen 1774.
Arnold, De motu fluidi nervei per fibras nervorum u. a.
Haller. 311
messer stets ebenso groß gefunden habe wie bei Köpfen jüngerer Indi-
viduen, und daß er sogar mehrmals den Durchmesser bei verschiedenen
Köpfen jüngerer Subjekte verschieden groß gesehen habe. Wildberg
scheidet die Zellen des mittleren Ohres in Cellulae tympanicae, die sich
schon beim Fötus im hinteren Teile der Trommelhöhle nach oben zu be-
finden, also zu einer Zeit, in der der Warzenfortsatz noch nicht aus-
gebildet ist, und in Cellulae mastoideae. Die Auskleidung der Trommel-
höhle hält er für eine Fortsetzung der zarten Schleimhaut der Eustachi-
schen Röhre, die sämtliche in der Trommelhöhle befindlichen Gebilde
überkleidet. An der äußeren Fläche des Trommelfelles will er kleine
ceruminöse Drüsen gesehen haben*). Wildberg erklärt es für falsch,
daß die Chorda im stände sei eine Gehörsempfindung zu vermitteln.
Die Physiologie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert findet in
dem genialen Alb recht von H aller ihren würdigsten Vertreter.
Albrecht von Haller, zu Bern am 16. Oktober 1708 geboren, be-
zog, kaum 15 Jahre alt, die Tübinger Universität. Da ihm jedoch die
Art und Weise des dortigen medizinischen Unterrichtes, besonders in
der Anatomie, nicht zusagte, suchte er im Jahre 1725 die Universität
Leiden auf, an der damals Albinus und Boerhaave wirkten. Nach
Erlangung des Doktorgrades 1727 unternahm er Studien halber Reisen
nach London und Paris. Hier hatte er Gelegenheit, die Anatomen Win slow
und Douglas kennen zu lernen, mit denen er in nähere Beziehung trat.
Von Paris begab er sich nach Basel, wo er sich vor allem der dichteri-
schen Tätigkeit und botanischen Studien widmete. In seine Vaterstadt
1729 zurückgekehrt, ließ er sich daselbst als Arzt nieder, erhielt mit
vieler Mühe eine Anstellung als städtischer Bibliothekar und die Er-
laubnis, eine anatomische Unterrichtsanstalt einzurichten. Auf den Wunsch
seiner Freunde veröffentlichte er im Jahre 1732 seine schweizerischen
Gedichte, die ihn mit einem Schlage zum berühmtesten Dichter seiner
Zeit machten. Der Ruf, den Hall er bald als Anatom und Botaniker
genoß, führte 1736 zu seiner Berufung an die neugegründete Universität
Göttingen, wo er als Professor der Anatomie, Chirurgie und Botanik
durch nahezu 18 Jahre seinen wissenschaftlichen Forschungen mit un-
ermüdlichem Eifer oblag. Im Jahre 1753 zog er sich vom Lehramt nach
Bern zurück und verbrachte die meiste Zeit mit fruchtbringender wissen-
schaftlicher Arbeit, ohne die abermalige Berufung nach Göttingen, Berlin
und Halle trotz der glänzendsten Angebote anzunehmen. Sein Tod fällt
auf den 12. Dezember 1777.
Es dürfte sich in diesem Zeiträume kaum ein anderes Werk finden,
in dem die anatomischen und physiologischen Leistungen auf otologi-
*) 1. e. ]). Ififi.
312 Haller.
schem Gebiete in so übersichtlicher und verständnisvoller Weise darge-
llt sind, wie in Hallers „Elementa Physiologiae corporis
humani"*). Obwohl er selbst nicht viel zur weiteren Ausbildung der
Anatomie und Physiologie des Gehörorganes beigetragen hat, gebührt
ihm doch das große Verdienst, ausgerüstet mit einer umfassenden
Literaturkenntnis und Gelehrsamkeit, eine für seine Zeit in jeder Be-
ziehung mustergültige Anatomie und Physiologie des Ohres geschaffen
zu haben.
Was Hallers eigene Untersuchungen anbelangt, so haben wir
nicht viel als wichtig daraus hervorzuheben. Aus dem ersten Ab-
schnitte, der sich „Fabrica organi" betitelt und die Anatomie des
Ohres behandelt, erwähnen wir folgendes: Hall er fand, daß sich die
Ceruminaldrüsen bis in den vorderen Teil des knöchernen Gehörganges
erstrecken , wo die Haut fest und unmittelbar dem Knochen anliegt *).
Vom Trommelfell, das er noch fälschlich aus vier Lamellen zusammen-
gesetzt glaubt, bemerkt er ganz richtig, daß es beim Fötus und Neu-
geborenen nahezu horizontal gestellt ist-). Daß Hall er sich gegen ein
Foramen Rivini ausspricht3), ist an anderer Stelle eingehend dargelegt
worden. Die Spitze des Hammergriffs beschreibt er nach außen und
vorne umgebogen und schaufelförmig plattgedrückt4). Er berichtet ferner
von einem fast dreieckigen Steigbügel mit langen und geraden Schen-
keln , ferner von einem runden unförmigen Stapes mit stark ge-
krümmten Schenkeln5). Der knorpelige Teil der Tube setzt sich nach
Hallers Ansicht aus drei um sich selbst gewundenen Knorpelplatten
zusammen6).
Im zweiten Abschnitte seiner Arbeit behandelt Hall er die Lehre
vom Schalle, „Soni theoria physica". Sowohl dieser als auch der dritte
Abschnitt, „Auditus", welcher der Physiologie des Gehörorgans gewidmet
ist, ist nichts anderes als eine fleißige Kompilation aller interessanten
und bemerkenswerten Ansichten seiner Vorgänger und Zeitgenossen und
als solche kein zu unterschätzendes Hilfswerk für den, der es unter-
nimmt, eine Geschichte der Ohrenheilkunde zu schreiben. Sagt doch
Hall er selbst, daß er sich angesammelter Schätze bediente: „Etiam hie
repeto, non semel a me iteratam confessionem. Utor divitiis collectitiis,
neque in hac theoria proprium habeo inventum" (Sect. II, § 1, p. 249).
Nichtsdestoweniger kann man dem physiologischen Teile einige Selb-
ständigkeit nicht absprechen, und so manche Bemerkung Ha Hers be-
w. ist deutlich, daß er die Physiologie des Hörens richtig erfaßt hat.
Bei der Besprechung der Funktion der Eustachischen Röhre
erwähnt er, daß er während des Gähnens gar nichts zu hören vermöge7)»
) Lausanne 1757—1766.
Haller. 313
eine Beobachtung, die schon vor ihm Aristoteles8) und Du Laurent
gemach hatten. An derselben Stelle hebt Haller auch ganz richtig
hervor, daß auf dem Wege der Ohrtrompete äußere Luft in die Trommel-
höhle gelange, einerseits um die in der Trommelhöhle enthaltene Luft
aufzufrischen, damit sie nicht nach Verlust ihrer Spannung unbrauchbar
werde, anderseits um die äußere und die Trommelhöhlenluft stets in gleicher
Spannung zu erhalten. Schon früher hat Senac, wie Haller bemerkt,
die Behauptung aufgestellt, daß die Tube zur Lüftung der Trommel-
höhle diene , damit die Luft daselbst nicht allzu dünn oder dicht sei °).
Haller ist der erste, der scharf zwischen einer Luftleitung, die durch
die Gehörknöchelchen oder auch durch die Ohrtrompete geht, und einer
Knochenleitung durch die Schädelknochen unterscheidet.
Das größte Interesse beansprucht jedoch eine Stelle10), aus der,
wie auch Fleischl11) dargetan hat, unzweideutig hervorgeht, daß
Hall er s Darstellung der Hörtheorie der jetzt allgemein gültigen
Helmholtzschen Auffassung sehr nahe steht, und daß überhaupt zu
Hall er s Zeiten eine Hörtheorie im Helmholtzschen Sinne allgemein
verbreitet war. Klar und deutlich führt dort Haller mit Hinweis auf
Aussprüche von Boerhaave12) Perrault13) und anderen Autoren
die Schallperzeption auf das Mitschwingen transversal zur Schnecken-
achse gespannter Chorden zurück und begründet die Fähigkeit, Unter-
schiede in der Tonhöhe wahrzunehmen, damit, daß die angeblich längsten
Chorden an der Schneckenbasis mit den tiefsten Tönen , die angeblich
kürzesten, an der Spitze der Schnecke mit den höchsten Tönen mit-
schwingen. Also bis auf den Irrtum von der Abnahme der Chorclen-
länge gegen das Helikotrema zu, eine der Helmhol tz sehen Lehre ent-
sprechende Auffassung. Heute nehmen wir eben an, daß die mit den
tiefsten Tönen mitschwingenden Chorden an die Spitze, die mit den
höchsten Tönen mitschwingenden Chorden an die Basis der Schnecke zu
verleben seien.
>) Vol. V, Lib. XV, Sect. f, § 9, p. 198.
-) § 11, p. 200.
3) § 12, p. 204.
4) § 15, p. 209.
5) § 17, p. 212-213.
c) § 24, p. 223.
7) Sect. III, § r,, ,,. 287.
8) De gener. LV, c. 2. Isagog. c. 54.
9) Mein, de l'Acad. 1724, p. 254.
10) Cum enim ea lamina verum sit triangulum, tantum eonvolutum, rectangulum.
cujus angulus ad verticem Cochleae peracutus fit, continuo viderunt viri ingeniosi,
habere se machinulam, in qua chordae innumerabiles contineantur. . . . Neinpe chordas
longissima-; , ad basin positas, cum sonis gravissimis, brevissimas, quae sunt ad ver-
;',14 Zur Literatur des 18. Jahrhunderts.
ticem, cum acutissimis sonis harmonice coritremiscere et per eos tremores animae eos
sonos distincte repraesentai-e u. s. w. Sect. III, § 7, p. 293 ff.
n) Gesammelte Abhandlungen von Ernst Fleischl von Marxow, herausgeg.
von Dr. Otto Fleischl von Marxow.
,2) Praelect. T. IV, p. 563.
13) Du bruit p. 246 seq.; p. 212 u. 247.
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differentiis. Argent. 1729. — Descriptio anatomica embryonis, observationibus illu-
strata. Gottinar. 1764.
Pathologie und Therapie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert.
Die Erkenntnis der Wichtigkeit der pathologischen Anatomie
für die Begründung einer rationellen Pathologie und Therapie ließ im
18. Jahrhundert trotz der klassischen Arbeiten Morffaffnis nur ge-
ringen Fortschritt erkennen. Spuren der pathologischen Anatomie des
Gehörorgans lassen sich, wie die bisherige Darstellung ergibt, nicht
weit nach rückwärts verfolgen. Meist handelte es sich um zufällige
Befunde, die nur selten mit einer Krankengeschichte in Zusammenhang
gebracht wurden, oder um die im Geiste des Zeitalters liegende Sucht,
Raritäten oder ganz außergewöhnliche Abnormitäten — Lusus naturae
— • zu beschreiben. Von einem tiefer dringenden Nutzen für die Ohren-
heilkunde konnte umsoweniger die Rede sein, als die pathologische
Anatomie als Spezialfach nicht anerkannt wurde.
Trotz der trefflichen Vorarbeiten von Bon et und Morgagni
dauerte das geringe Interesse für die pathologische Anatomie des Ohres
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fort, bis Toynbee mit seinen
bahnbrechenden Arbeiten eine neue Aera der Otiatrie inaugurierte.
Wenn wir von den pathologisch-anatomischen Befunden im Gehör-
organe absehen, die in Bonets „SepulchretunT, in den Traktaten von
Duverney und Valsalva und in Morgagnis „De sedibus et causis
morborum" enthalten sind, so weist die folgende Periode nur Einzel-
beobachtungen auf, von denen wohl manche besonderes Interesse dar-
31 li Pathologische Anatomie des Gehörorgans am Ende des 18. Jahrhunderts.
bieten , die Mehrzahl jedoch keine neuen Gesichtspunkte für die patho-
logisch-anatomische Forschung enthält. Es seien daher im folgenden,
nur im Interesse des historischen Zusammenhanges, die nennenswerten
pathologisch-anatomischen Befunde im Ohre in Kürze skizziert.
Auch in den Memoiren der medizinischen Gesellschaften finden sich verstreute
Notizen über Sektionen Schwerhöriger, so enthalten z. B. die Veröffentlichungen der
medizinischen Gesellschaft von London Sektionsbefunde von Sims, Hougthon,
Zenker und Roslet*).
Uebersicht des Standes der pathologischen Anatomie des
Gehörorgans bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Besondere Beachtung fanden die Mißbildungen des äußeren Ohres,
wie dies aus der reichen Literatur über mangelhafte Bildung der Ohrmuschel,
Fehlen einzelner Teile des Ohres oder Abnormitäten des Situs hervorgeht. So
fand Prochaska bei einer Cyklopenbildung vollständiges Fehlen des äußeren
Ohres, des Gehörgangs und der Trommelhöhle. Es waren in diesem Falle
nur die Bogengänge und die Schnecke erhalten '). Einen ähnlichen Fall beschreibt
Curtius2). Defekt der Ohrmuscheln beobachteten Bartholin3), Fritelli4)
und Oberteuffer5), Dystopie der Ohrmuscheln Sebenezius6), Colomb7) und
Lycosthenes8). Außerdem wären noch zu erwähnen die Arbeiten von Schenk a
Grafenberg9), Haller10), Lachmund u), Stark12), Wedemeier13), Wolf u) und
Löffler15).
Ueber Verlust der Ohrmuschel durch Ulzeration berichten Wepfer16),
Conradi17). Hensler1*), über skirrhöse Entartungen der Ohrmuschel Ch.
Fr. Fischer19), über Atherome und Lipome des äußeren Ohres das Commercium
litterarium Noricum 1732, p. 10.
Der pathologische Befund von Obliteration des äußeren Gehörganges
kehrt in der Literatur sehr oft wieder, Man wußte, daß die Verwachsung angeboren
oder erworben sein könne , daß sie sich bloß auf einen Teil oder auf den ganzen
Gehörgang erstrecke, endlich auch, daß verschiedene Krankheiten zum Verschlusse
des Ganges führen20). Auch wurden Membranbildungen vor dem Trommelfelle.
zu denen die sogen. Duplizität des Trommelfells gehört, beschrieben21), ferner öfters
Anomalien in der Länge, Weite und Richtung des Meatus auditorius externus22),
Duplizität desselben23), endlich steinartige Konkremente24).
Die pathologischen Befunde am Trommelfell weisen keine große Mannig-
faltigkeit auf. Ueber die von Valsalva, Morgagni, Vieussens und zahlreichen
anderen Autoren beobachtete Destruktion des Trommelfells wurde an anderer
Stelle schon berichtet. Häufig fand man Kalkablagerungen, die damals als
Ossifikation gedeutet wurden25). Die Mitteilungen über vermehrte Spannung oder
Erschlaffung der Membrana tympani26) erscheinen weder anatomisch noch
klinisch begründet.
Ueber die pathologische Anatomie der Trommelhöhle liegen eingehendere
Studien vor. Morgagni fand, wie wir gesehen haben, bei seinen Sektionen Eiter-
massen, Blut, seröse Ergüsse, ferner auch zahlreiche Membranen in der Trommel -
) William R. Wilde, Prakt. Bern, über Ohrenheilk. u. die Nat. u. Beh. <1.
Krankh. d. Ohr. Aus d. Engl. Göttinnen 1855.
Pathologische Anatomie des Gehörorgans am Ende des 18. Jahrhunderts. 317
höhle vor. Aehnliche Befunde finden sich im Traktat Yalsalvas erwähnt. Auch
andere Autoren27) berichten über derartige Befunde, Duverney sah Schleim, Otto28)
eine gelatinöse Masse bei Syphilis u. s. w. Lieutauds Sammelwerk „Historia anat.
medica, Paris 1767" enthält unter anderem fünf kurze kasuistische Mitteilungen über
Trommelhöhlenerkrankungen nach fremden Autoren.
Besonderes Interesse wurde den Anomalien der Gehörknöchelchen zuge-
wendet29). So findet man in der Literatur M an gel einzelner Knöchelchen 3n), über-
zählige31) oder abnorme Kleinheit32) oder Größe33) derselben, besonders des
Stapes, erwähnt. Karies der Gehörknöchelchen, deren Verwachsung (Ankylose)
untereinander oder mit den Wänden der Trommelhöhle sind des öfteren beschrieben34),
lieber Trennung der Gehörknöchelchen durch Auseinanderweichen der Schläfenbein-
teile berichtet B lum enbach 35).
Beobachtungen über pathologische Veränderungen der Muskeln der Gehör-
knöchelchen liegen von Morgagni36) vor, der Atrophie und Vertrocknung derselben
feststellte, ferner von Vieussens 37), der sie „korrumpiert" fand.
lieber völlige Ossifikation der St eig büg elm emb r an berichtet Mor-
gagni33), über Verschluß des runden Fensters durch Hyperostose Casseb o hm 39),
über knöcherne Obstruktion des runden Fensters bei Greisen Cotugno40) und
Scarpa (1. c).
Von pathologischen Prozessen in der Ohrtrompete wurde die Verwachsung
der pharyngealen Mündung schon von Tulpius erwähnt; auch bei anderen Schrift-
stellern finden wir Mitteilungen darüber41). Verstopfung durch Schleim beob-
achtete Wathen42) bei der Sektion eines tauben 35jährigen Mannes. Katarrh der
Tubenschleimhaut, der von der Entzündung des Nasen- und Rachenraumes seinen
Ausgang nahm, erwähnte Schneider (S. 222).
Die Varianten des Warzenfortsatzes in Bezug auf Gestalt und Größe
kannten die meisten Anatomen dieser Periode, Mangel der Zellen fiel Murray43)
bei einer Sektion auf (wahrscheinlich ein diploetisoher Warzenfortsatz). Morgagni44)
fand Membranen in den pneumatischen Zellen, A r n e m a n n ' •"•) kreide-
artige Konkremente bei Syphilis.
Sehr dürftig waren die Kenntnisse von pathologischen Veränderungen im Laby-
rinthe. Röderer46) sah in einem Falle von Taubstummheit statt des Labyrinthes
eine Höhle, die keine weiteren Details erkennen ließ. Mundini47) fand bei einem
verstorbenen taubstummen Knaben eine Mißbildung der Schnecke. Eine Windung
derselben fehlte vollständig und die Ausbreitung des Acusticus war mangelhaft.
Außerdem war der Aquaeductus vestibuli abnorm weit und mündete in einen
großen Durasack.
Nach der Entdeckung der Labyrinthflüssigkeit schrieb man der übermäßigen
Ansammlung48) oder dem Mangel lfl) derselben die Ursache von Taubheit zu. So be-
schrieben Haighton und Cline einen Fall, wo bei einem von Geburt Taubstummen
das ganze Labyrinth mit einer käseartigen Masse erfüllt war "'").
Haller fand bei einem Kinde nach schwerer Geburt die Labyrinthflüssigkeit
blutig fingiert'"'1).
Auch die Kenntnisse von der pathologischen Anatomie des Hörnerven und
seiner Ausbreitung im Labyrinthewaren sehr gering und beschränkten sich last aus-
schließlich auf Bildungsanomalien. Einige Beobachtungen rühren von Bonet52)
und Valsalva "• j her. Im oben erwähnten Falle von Haighton war der Eörnerv
nur halb so stark als gewöhnlich, der Gesichtsnerv aber ganz normal. Saudi fort
beschrieb ausführlich einen knorpelharten Tumor, der den Bö r nerv kom-
primierte und Taubheit verursacht hatte. Die gegen die Schädelbasis gerichtete
318 Literatur der pathol. Anatomie des Gehörorgans am Ende des 18. Jahrhunderts.
Fläche des Tumors war uneben, mit kleineren und größeren Höckern versehen. Der
Tumor selbst konnte vom Hörnerven ohne dessen Beschädigung nicht loagelösl
werden, war auch vom For. aud. int. schwer freizumachen, leichter von der Medulla
oblongata, mit der er ebenfalls zusammenhing. Aul' dem Durchschnitte sah man
eine stärkere Rinde und eine weichere Mitte54).
') Zergliederung eines menschlichen Cyklopen mit 1 Kupfertafel, in den Abhand-
lungen d. böhmisch. Gesellsch. d. Wissenschaften für d. Jahr 1788, T. IV, p. 230,
zit. in Nuhn: Commentatio de vitiis, quae surdomutitati subesse solent, p. 4. —
2) Specimen inaugurale medicum de monstro humano cum infante gemello. Lugd.
Batav. 1762. — 3) Acta med. et philosoph. Hafniens. 1671. Vol. I, Obs. 24, p. 53. —
') M eckeis Handbuch d. pathol. Anatomie. Bd. I, p. 400. — 5) Stark s neues Archiv.
Bd. II, p. 638. — c) Diss. physiol. qua respiratio foetus in matre nulla evincitnr.
Venet. 1765. — 7) Oeuvres medico-chirurgicales. Lyon 1798, p. 458. — 8) Progre-
diorum et ostentorum chronica. Basileae 1757, p. 661. — 9) Observ. med. Franco-
forti 1600, p. 248, Obs. 331. — 10) Progr. de monströs, fabr. Gott. 1753, Obs. I. —
") Mise. Nat. Cur. Dec. I, Ann. VI, Obs. 178, p. 235. — ,2) Neues Archiv, Bd. I.
p. 415. — 13) Handbuch der Chirurgie und Augenheilkunde von Gräfe u. Walther.
I. Bd., 1. Heft, p. 112. — 14) Sect. memor., T. II in centen. 16, p. 829. — 1S) Ver-
such einer prakt. Abhandl. über Ohrenkrankh. in Starks Archiv f. Geburtsh. Bd. I.
p. 410. — 16) Med. prakt. Beobachtungen von den inneren und äußeren Krankheiten
des Kopfes. Aus d. Latein. vonWeiz. Leipzig 1787, p. 543. — 1T) Handbuch der
pathologischen Anatomie. Hannover 1799, p. 494. — - 18) Vom abendländischen Aus-
satz im Mittelalter. Hamburg 1790, p. 158. — !9j Abhandlung vom Krebse des
Ohrs, nebst Beschreibung eines merkwürdigen Falles. Lüneburg 1804. — 20) Len-
tilius, Miscellanea medico-practica tripartita. Ulmae 1698, p. 226. — Lachmund
1. c. — Büchner, Miscell. phys. med. 1727. — Wedel 1. c. — Henkel, Neue
mediz. u. chirurg. Anmerk. Berlin 1769, Sammig. I, p. 11. — Bartholin, Hist.
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Obs. anat, chir. med. nov. et rarior. Berol. 1754, p. 24. — Oberteuf fer 1. c,
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sepulchr. 1. c — 33) Cotunni, De aquaed. aur. hum. Neap. 1760, § 72. — Comment,
Bonon. A. VII, Anat. surdi nat., p. 422. — 34) Marchetti, Valsalva, Mor-
Pathologie und Therapie. 319
gagni, Ruysch, Cassebohm 1. c, p. 62 u. a. — Hofmeister, Diss. de organo
auditus et eius vitiis. Lugd. Bat. 1741. — 35) Geschichte u. Beschr. der Knochen
des menschl. Körpers. Göttingen 1786, § 48, p. 140. Anm. 3. — 36) De caus. et sed.
morb. Ep. XIV, 15. — 3T) Traite de la structure de l'oreille. Toulouse 1714, .Part, II,
Chap. 4. - 3S) 1. c. Ep. XIV, 11. — 39) De aure hum. Tr. III, § 95. — 40) 1. c. § 72.
— 41) I. c. ferner Boerhaave in Prelect. acad. ad. Inst. § 850; Valsalva 1. c,
Morgagni. — 42) Philosoph, tiansact. 1755. Vol. 411. Pars I, p. 212. — *3) In d.
K. Schwed. Akad. d. Wissensch., neue Abhandl. aus d. Naturlehre, Haushaltungskunst
u. Mechanik. Aus d. Schwed. übers, v. Kastner u. Brand is. Leipzig 1791, Bd. X.
p. 207. — 44j Epist. anat. V, § 26, p. 108. — 4S) Bemerk, über die Durchbohrung
des Proc. mast in gewissen Fällen von Taubheit. Göttingen 1792, p. 25. — 46) De-
script. foetus in Comment. Societ. Göttingen 1751. T. IV, p. 136. — 47) Comment.
Soc. Bononiens. T. VII, 1791, p. 419. — 4S) Blizard in London med. Journal.
1790, I, p. 31. — 49) Richerand, Eiern, de Pbysiol. T. II. p. 50, IV Ed. — 50) A
case of original deafness in Memoirs of the medical society of London, Vol. III,
p. 1 — 15, ferner in der Sammlung auserlesener Abhandlungen zum Gebrauch prakt,
Aerzte. Leipzig 1792. Bd. XV, p. 585; Philos. Transactions for the Year 1801. P. II,
p. 447. — 5I) Elem. Physiol. T. V, p. 410. — 32) Sepulchr. 1. c. — 53) Mor-
gagni, Ep. 48, § 48. -- 54j Obs. anat, pathol. Hb. I, Cap. IX, p. 116, Tab. VIII,
f. 5, 6, 7. L. 13. 1777. Ad basin encephali cum nervorum originibus examinatos,
corpusculum nervo auditorio dextro adhaerens, tantae duritie, ut ferme cartilaginem
referre perspexi. 1. c. p. 117.
Pathologie und Therapie.
Infolge der unklaren Vorstellungen über die pathologisch-ana-
tomischen Veränderungen im Gehörorgane ist die wissenschaftliche Aus-
beute in der praktischen Otiatrie im 18. Jahrhundert, trotz zahl-
reicher otologischer Publikationen, nur gering. Die Diagnostik ruht noch
auf schwachen Füßen und demgemäß zeigt auch die Therapie keinen
nennenswerten Fortschritt. Die Inspektion des Ohres geschieht noch
immer in der primitiven Weise mit dem Spekulum des Hildanus (S. 152)
bei einfallendem Sonnenlichte.
Die verschiedenen medizinischen Systeme und spekulativen Theorien,
die im 18. Jahrhundert in der Pathologie die reale naturhistorische
Forschung verdrängten, wirkten eher hemmend als fördernd auf jeden
Fortschritt in unserem Fache. Die Methode, die Krankheiten in den Lehr-
büchern nicht wie früher nach den einzelnen Teilen des menschlichen
Körpers, sondern systematisch oder symptomatologisch abzuhandeln, war
die Ursache, daß die Ohrerkrankungen in dieser Periode entweder nur
dürftig besprochen oder auch häufig ganz übergangen wurden. An der
Abnahme des Interesses für die Otiatrie gegen Ende des 18. Jahrhunderts
trägt ferner noch der Aufschwung schuld, den die Chirurgie um diese
Zeit nahm. Da die chirurgische Encheirese bei der Therapie der Ohr-
affektionen bis dahin sich nur auf einige Eingriffe an der Ohrmuschel
und dem äußeren Gehörgange beschränkte , mußte sich bei dem Auf-
320 Systematiker des 18. Jahrhunderts.
schwunge der Chirurgie auf anderen Gebieten das Interesse an den
Ohren erkrankungen abschwächen.
Erst gegen die Mitte und am Endo des Jahrhunderts werden in
kurzer Reihenfolge drei in die Praxis tief eingreifende operative Methoden,
der Catheterismus tubae, die Perforation des Trommelfells und die Er-
öffnung des Warzenfortsatzes, bekannt, von denen jedoch nur die eiste
lasch Aufnahme fand, während die beiden anderen infolge mißbräuch-
licher Anwendung der Vergessenheit anheimfielen, um erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller, ihrem Werte entsprechender Gel-
tung zu gelangen.
Von den System atikern des 18. Jahrhunderts kommen für unser
Fach nur wenige in Betracht, so der Begründer des mechanisch-dynami-
schen Systems Friedrich Hoffmann aus Halle und die Vertreter der
älteren Wiener Schule, Gerhard van Swieten aus Leiden und Anton
de Haen aus dem Haag. Welch geringer Einfluß der Anatomie und
Physiologie von den größten Aerzten der damaligen Zeit auf den Fort-
schritt der praktischen Medizin beigemessen wurde, beweist ein von
Sprengel citierter, auf das Gehörorgan bezüglicher Ausspruch*) des
Systematikers Georg Ernst Stahl, der als einer der bedeutendsten
Vertreter dieser Richtung gilt.
Friedrich H. Hoffmann. Unter den Systematikern des 18. Jahrhunderts war
es vornehmlich Friedrich H. Hott' mann (1660 — 1742), der in seiner Pathologie
auch die Ohrenheilkunde berücksichtigte '). Seine Theorien, die uns heute absonder-
lich erscheinen, haben bei den Zeitgenossen großen Beifall gefunden. Seinem be-
kannten Systeme entsprechend führte er auch die Affektionen des Gehörorgans auf
Abnormitäten des Tonus, auf zu heftige oder zu träge Bewegung, auf übermäßige An-
spannung oder Atonie zurück, welche sich hier speziell als Schmerz. Entzündung,
Ohrentönen resp. Schwerhörigkeit, Taubheit äußert. Der Heilsehatz, den er zur Be-
hebung der krampfhaften Anspannung oder zur Beseitigung der Abspannung ver-
mittels lebhafteren Zuströmens des Nervenäthers empfiehlt, umfaßt die meisten der
von den Vorgängern verwendeten Mittel, nur daß ihre Wirkungsart in neuem Lichte
erscheint. Im allgemeinen ist er der Ansicht, daß die Ohraffektionen, die teils idio-
pathischer, teils sympathischer Natur sind, nur im Beginne heilbar seien, später aber
höchstens gebessert werden könnten.
Schwerhörigkeit und Taubheit könne durch Bildungsfehler verursacht sein
oder durch Verletzung und Erschütterung des Organs, durch Verhärtung des Trom-
melfells, Verstopfung des Tubenkanals, „Spasmus" und Trockenheit des Ohres, Er-
schlaffung der akustischen Teile etc.
Der Hau der mäandrischen Gänge im obre, des Amboßes, Hammers, Steig-
bügels und (welche herrliche Erfindung!) des runden Knöchelchens, würde, wenn er
nicht bekannt wäre, die physische Kenntnis des Körpers sein- mangelhaft machen.
Aber der Medizin nützt die se K enn tn is gerade soviel, als die Kunde
von dem vor zehn Jahren gefallenen Schnee." Propempt. inaug. , quis
bonus theoreticus, malus practicus, ad Rhetii diss.de morbis habitualibus, Hai. 1798.
Zit. bei Sprengel, Vers, einer pragm. Gesch. der Arzneik. IM, V, p. 1">.
Systematiker des 18. Jahrhunderts. 321
Ohrentönen entstehe, wenn von den Gefäßen zu viel Feuchtigkeit abgesondert
werde, die sich in Dämpfe umwandle und so eine tremulierende Bewegung im Gehör-
nerven errege.
Bemerkenswert ist, daß Hoff mann den häufigen Zusammenhang der Gehörs-
affektionen mit Störungen des Nervensystems besonders hervorhebt. Seine Kur-
methode verfolgt den Zweck , die Materia peccans zu temperieren , zu korrigieren
und durch die Auswurfsgänge fortzuleiten , die Spannung der Fasern zu beseitigen,
das Einströmen des Nervensaftes zu begünstigen und auf diese Weise wieder den
alten, normalen Tonus herzustellen.
Die Therapie war teils allgemein: Venäsektion, Laxantia, Fußbäder, Blasen-
pflaster, Diaphoretika, interne Reizmittel (Bals. vit. Hoffin., Spir. Minderen etc.), Kau-
und Niesemittel (Verstopfung der Tuben), teils lokal, Dämpfe (Tabakrauch), Einträufe-
lungen (Skorpionenöl , Kellerasselöl. Kantharidenöl), Pflaster (Mastix, Galbanum, Sa-
fran, Muskatöl, Bibergeil, Opium etc.), Räucherungen mit aromatischen und harzigen
Stoffen. Bei Reizzuständen (Otalgie) empfahl er Salpeteremulsionen, Liquor anodynus,
Opium etc.
') Medicina consultatoria. Halae 1721—1739, T. XI, p. 269. Medicina rational,
systematica. Halae 1726, T. I, p. 29 u. 289. Med. rat, syst. Halae 1732—1737,
T. IV, P. IV, Cap. VI, p. 149—174; P. II, Sect. II. Cap. 10. p. 489—500.
Bei Gerhard vanSwieten (1700—1772)*) finden wir die Erkrankungen des
Gehörorgans nicht mehr als ein abgeschlossenes Gebiet behandelt. Nur hie und
da kommt er bei Besprechung anderer Erkrankungen auch auf eine Ohraffektion zu
sprechen. So führt er als Symptom der „angina inflammatoria" heftigen Schmerz
im inneren Ohre und in der Tube an. Wenn sich nämlich die Schleimhaut des
weichen Gaumens und des Zäpfchens entzünde, pflanze sich diese Entzündung leicht
auf die Schleimhaut der Tube und der Trommelhöhle fort. Da ferner die Hammer-
muskeln, welche das Trommelfell nach innen ziehen und den Trommelhöhlenraum
verkleinern, sich an den Tuben inserieren und diese zu gleicher Zeit erweitern,
damit die in der Trommelhöhle komprimierte Luft auf diesem Wege nach außen
gelangen könne, so lasse sich leicht einsehen, warum eine Krepitation im Ohre ver-
nommen werde, sobald jene entzündeten Teile durch den Schluckakt in Bewegung
versetzt werden. Wenn nun die angeschwollene Tubenschleimhaut das Lumen der
Tube verschließt, kann die Luft nicht heraus und vollständige Taubheit ist häufig
die Folge ')■ Nach Aufhören der Entzündung stellt sich das Gehör wieder ein.
van Swieten erwähnt ferner Verwachsung und Ulzeration der Tuben bei Lues.
Obwohl Cleland den Katheterismus durch die Nase bereits propagiert hatte,
empfiehlt van Swieten noch die von Guyot erfundene Methode, die Einführung
einer Röhrensonde vom Munde aus, und zwar in dem Momente, wenn der Patient
kräftig exs2>iriert.
!) Ubi ergo velum pendulum palatinum et uvula, harum tubarum aperturis
adeo vicina, inflammantur, facile patet ratio, quare et malum ad has partes pertingat,
et dolor acutus in aure interna et toto tractu tubae Eustachianae percipiatur. Cum
autem et musculi mallei, quorum ope membrana tympani introvsum trahitur, et
cavum tympani minuit, his tubis inserantur, illasque eodem tempore dilatent, ut
compressus in cavo tympani ae'r libere hac via exire possit, patet, quare crepitatio
*) Commentaria in Herrn. Boerhaave aphorismos de cognoscendis et curandis
morbis. Lugd. Bat. 1745, T. II, p. 666.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 21
322 Jean Louis Petit.
in aure interna percipiatur, dum deglutitionis actione moventur partes illae inflam-
matae. Ubi autem membrana interna harum tubarum inflamrnata sie turnet, ut
cavitas obturetur, vel vicinus tubai-um orifieiis tumor illa sie compresserit, ut liber
aeri transitus denegetur, surditas saepe perfecta oritur. 1. c. p. 607.
Noch weniger Interesse bieten für uns die Arbeiten des Wiener Klinikers
Anton de Haen (1704 — 1776). Die in seinen von Maximilian Stoll heraus-
gegebenen „Opuscula quaedam inedita"*) enthaltenen Krankheitsgeschichten über
Ohrerkrankungen sind gänzlich wertlos, da die Schilderung der Symptome ober-
flächlich ist, über eine objektive Untersuchung des Gehörorganes nichts berichtet
wird und Obduktionsbefunde vollkommen fehlen.
Wichtiger für den Fortschritt innerhalb unseres Faches sind Ver-
treter der Chirurgie, so vor allem Jean Louis Petit, Lorenz
Heister und der Däne Georg Heu ermann. Vorher noch einiges über
den Chirurgen Stephan Biancaard, dessen Wirken wohl dem 17. Jahr-
hundert angehört, der sich aber mit seinem aus dem 18. Jahrhundert
datierenden Werke hier anreibt.
Stephan Biancaard (1650 — 1702) aus Amsterdam trat mit seinen „Opera
medica, theoretica, practica et chirurgica" Traj. ad Rhen. 1714 in die Fußstapfen
seiner Vorgänger. Neue Erfahrungen über Operationen am Ohre enthält sein Werk
nicht. Zu erwähnen wäre vielleicht bloß, daß er bei Angina und anderen Er-
krankungen, welche die Respiration erschweren, beobachtete, daß die Exspirationsluft
mit einer solchen Gewalt in die Tube gepreßt werde, daß hierdurch das Trommelfell
leicht zerreiße. Biancaard fand ferner oft die Trommelhöhle, den Vorhof, die
Bogengänge und die Schnecke „sordibus spissis et incrassatis" angefüllt, was nach
seiner Ansicht vielleicht „ab abscessu" der diese Hohlräume auskleidenden Mem-
branen herrührt. Da die „materia peecans" keinen Ausweg hat, sei Taubheit die Folge.
J) Quodque etiam in sternutatione observatur, ubi sentimus aerem, per meatum
subito redeuntem, membrana tympani extrorsum expellere et tensionem efficere non
sine dolore: quod et in Angina aliisque respirandi difficultatibus facile fit, in quibus
fundus palati et nasi intumeseunt, vel per inflammationem per alias: quando enim
aer ex pulmonibus propulsus libere non egrediatur, tanto impetu fertur in meatum
ab aure ad palatum tendentem, ut membrana tympani facile rumpatur. 1. c. p. 274.
Jean Louis Petit (1674 — 1750) zählt zu den bedeutendsten fran-
zösischen Chirurgen des 18. Jahrhunderts, dessen Ruhm von seinen
besonders als Feldärzte sehr geschätzten Schülern durch ganz Europa
getragen wurde. Seine Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie und
Chirurgie zeichnen sich durch Gründlichkeit und scharfe klinische Beob-
achtung aus.
In seinem dreibändigen posthumen, mit zahlreichen Tafeln aus-
*) Accedunt Historiae morborum a Stollio in Collegio clinico Haenii annis
1770—1772 consignatae. Vindobonae 1795, P. II. S. I: Historia morbi XXVII.
Surditas. XXXV. Otalgie. XLV. Otalgie. S. II : Historia morbi VII. Auditus gravis.
Jean Louis Petit. 323
gestatteten Werke „Traite des maladies chirurgicales et des Operations
qui leur conviennent", Paris 1774, werden in dem IV. Kapitel: ..Des
tumeurs", die entzündlichen Erkrankungen des Warzenfortsatzes
eingehend erörtert.
Dieser Abschnitt des Werkes nimmt unser Interesse besonders des-
halb in Anspruch , weil hier zuerst die chirurgische Behandlung der
kariös-nekrotischen Prozesse im Warzenfortsatze nach durchaus rationellen
Prinzipien besprochen wird.
Gestützt auf reiche Erfahrung spricht sich Petit am Eingang des
Abschnittes dahin aus, daß Abszesse im Warzenfortsatze, die zu ihrer
Reifung lange Zeit brauchen, viel langsamer heilen, als rasch reifende.
Man dürfe jedoch die spontane Reifung nicht abwarten, sondern müsse
den Abszeß eröffnen, sobald Fluktuation fühlbar werde. Wenn auch vor
der Operation nicht immer Karies nachweisbar sei, so finde man doch
öfters beim Freilegen des Warzenfortsatzes den Knochen vom Periost ent-
blößt. Die Karies zeigt hier nach der Dauer des Abszesses verschiedene
Stadien. Sie kann auf die Diploe allein beschränkt sein oder schon auf
die mediale Lamelle des Warzenfortsatzes („seconde table" ) übergegriffen
haben x).
Die Konstatierung der Fluktuation ist oft sehr schwierig. Täu-
schungen in dieser Richtung können nur durch große Uebung vermieden
werden. Petit illustriert dies durch einen Fall seiner Praxis, bei dem
von den Aerzten die Eröffnung des Abszesses beschlossen, dann aber
verschoben wurde, weil die früher nachweisbare Fluktuation wieder ver-
schwunden war. Petit riet trotzdem zur Eröffnung, ließ aber vorher
den Valsalvaschen Versuch ausfuhren, wodurch der Abszeß über dem
Warzenfortsatze sofort zu seiner früheren Größe anschwoll. Bei der
Eröffnung fand sich fast doppelt soviel Eiter in der Abszeßhöhle, als
nach der Größe der Geschwulst zu erwarten war,
Dieser Fall ist auch insoferne von Interesse, als vor der Bildung'
des Periostalabszesses der Eiter das dünne Tegmen der mittleren Schädel-
grube („table interne") durchbrochen und zu einer Eiteransammlung
zwischen Dura und Tegmen (Extraduralabszeß) geführt hat. Auf letztere
führt Petit die monatelang bestehenden Kopfschmerzen zurück.
Bei der Eröffnung des Abszesses ging Petit in der Weise vor,
daß er mit einer myrthenblattförmigen Pinzette die Knochenränder der
kleinen Fistel in der Corticalis stückweise abbrach, bis diese Oeffnung
dem Knochendefekt im Tegmen gleich war. Hierauf legte er wie nach
der Trepanation einen regelrechten Verband an. Nach Abstoßung des
kariösen Knochens erfolgte in einem Monate vollständige Heilung 2).
Die Epikrise dieser Krankengeschichte zeigt, daß Petit nicht nur
ein glänzender Chirurg, sondern auch ein scharfer Beobachter und aus-
324 Jean Louis Petit.
gezeichneter Patholog war. Solche Eiterungen führen, wie er richtig
bemerkt, zum Tode entweder durch Zerstörung lebenswichtiger Organe
oder durch Pyämie, deren Symptome er ausgezeichnet schildert3).
Dringt der Eiter durch Zerstörung des Knochens bis an die Dura,
so bestehen dumpfe Kopfschmerzen, die an Heftigkeit zunehmen, wenn
sich der Eiter nach dem Durchbruch der Tabula externa unter das Periost
des Warzenfortsatzes ergießt. Petit hält das Periost für viel empfind-
licher als die Dura.
Treten Entzündungserscheinungen auf, die auf Eiteransammlung im
Warzenfortsatze schließen lassen, so dürfe man den Durchbruch der
„Tabula externa" nicht abwarten, sondern müsse sogleich zur Eröffnung
des Warzenfortsatzes mittels Exfoliativtrepans schreiten. Die Eröffnung sei
selbst dann gerechtfertigt, wenn man keinen Eiter finde, denn in diesem
Falle kürze man die Krankheit wenigstens um soviel ab, als der Eiter
zum Durchbruch der Tabula externa brauche 4).
In der Epikrise bespricht er ferner das oben erwähnte Symptom,
daß die Fluktuation oft nur zeitweilig tastbar sei, zeitweilig wieder ver-
schwinde. Er führt diese Erscheinung darauf zurück, daß der Eiter
durch den Verband oder das Liegen auf der kranken Körperseite gegen
die Schädelbasis gedrängt werde 5). Als diagnostisches Hilfsmittel ver-
wendet er in solchen Fällen, wie gesagt, den Valsalvaschen Versuch.
Einer eingehenden Erörterung unterzieht er auch die Frage, wes-
halb nach Eröffnung des Warzenfortsatzes oft schon nach kurzer Zeit
die Exfoliation des erkrankten Knochens erfolge, während die Abstoßung
eines kariösen Knochens an anderen Körperteilen sehr lange dauere, ja
bei spongiösem Knochen erst dann vor sich gehe, wenn man alles Kariöse
bis zum Gesunden, sei es durch Medikamente, sei es durch Glüheisen,
Feile, Trepan oder Hammer und Meißel entfernt habe. Die rasche Ex-
foliation des nekrotischen Knochens bei Karies des Warzenfortsatzes
habe ihren Grund darin, daß schon während der Abszeßbildung die
Demarkation eingeleitet wird.
Bemerkenswert sind die Beobachtungen Petits über eine Erkran-
kung, die wir heute als Peritonsillarabszeß bezeichnen. Wenn der hintere
Teil der Tonsille, der unmittelbar an die Mündung der Ohrtrompete
stößt, vereitert, so erkennt man dies an dem Schwinden der Entzündungs-
symptome und an dem Erscheinen von Eiter im Sputum und im Nasen-
sekret. Hierbei wird nicht selten das Ohr in Mitleidenschaft gezogen,
entweder weil der Eiter in die Tube eindringt, oder weil die Tube durch
die Eiterung zerstört wird, oder endlich weil der Abszeß auf den äußeren
Gehörgang übergreift6). Nach dem Durchbruch des Abszesses erlangt der
Kranke das Gehör wieder, was Petit durch die Krankengeschichte eines
ca. 12jährigen Knaben erhärtet. Bemerkenswert ist Petits Ansicht, daß
Heister. 325
die Ohreiterung nie primär im Cavum tympani entsteht, sondern von der
Tube oder vom äußeren Gehörgang ausgeht 7).
') Si on ne trouve point Tos carie, il est au moins denue de son perioste: s'il
y a carie, eile penetre ordinairment jusqu'au diploe, quelquefois meme jusque ä la
second table, p. 155. — 2) Car on trouva la table externe percee par im trou qui
n'avoit qu'une ligne de diametre pendant que le diploe et la table interne etoient
uses de l'etendue d'une piece de douze sols. p. 157. — 3) Les depots qui suppurent
ne causent la mort que par les douleurs qu'ils causent, ou parce qu'ils detruissent
de parties necessaires ä la vie, ou enfin parce que le pus qu'il renferment, etant
abondant, et n'etant pas evacue assez tot, rentra dans la masse du sang et cause des
frissons, de fievres on de depots dans quelques visceres. p. 158. — 4) On y decouvrira
l'os et on appliquera le trepan exfoliatif jusqu'a ce qu'on ait detruit la premiere
table et qu"on soit parvenu au diploe. S'il y a de la niatiere formee eile s'evacuera,
et s'il n'v a pas point, on aura beaucoup fait d'enlever la table externe ; on gagnera
tout le tems que le pus auroit ete ä la percer. p. 159. — 5) Ce qui vient de ce que
la tumeur a ete pressee, soit par le bandage et les compresses, soit parce que le
malade se couche du cöte de sa tumeur, et que la compression dans Tun ou dans
l'autre cas a fait rentrer la niatiere sous le cräne. p. 161. — 6) Veut-on encore s'assurer
mieux de ce fait, c'est que, lorsqu'on cesse de la sentir, on n'a qu'ä faire souff lei-
te malade en lui serrant les marines, dans l'instant la tumeur se rernplit de pus, et
la fluctuation reparoit. — 7) Ils affectent l'oreille, soit parce que le pus y entre par
le canal d'Eustache, soit parce que le canal meme se trouve detruit, soit enfin parce
que le canal exterieur de l'oreille se trouve compris dans l'abces. p. 139.
Lorenz Heister (1683—1758), der nach Fabricius Hildanus
der Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland genannt
wird, gibt in seinem Hauptwerke „Institutiones chirurgicae, Leyden 1739" *)
eine zusammenfassende Darstellung der otochirurgischen Erfahrungen
seiner Vorgänger, die sich nur auf die Technik der mehr oder minder
groben operativen Eingriffe am äußeren Ohre beschränkt. Von den zu
dieser Zeit noch wenig bekannten Operationen am Warzenfortsatze und
am Trommelfelle ist in dem Werke Heisters keine Rede.
In sechs Kapiteln (LXIL— LXVII.) des fünften Buches**) behandelt
er die „Operationes, an den Ohren". Wenn eine widernatürliche Haut
im vordersten Teile des Ohr ganges vorhanden sei, empfiehlt er Kreuz-
schnitt und Einlegen einer Wieke. „Ist dergleichen Haut tief im Ohr-
gang, und also nahe bei dem Trommelhäutlein, u so warnt er, nicht zu tief
zu schneiden, um das Trommelfell nicht zu verletzen, „welches sonderlich
bey jungen Kindern leicht geschehen kann, weil der Ohrgang sehr kurtz
ist." Im nächsten Kapitel bespricht er die Methoden, „Ins Ohr gefallene
Sachen heraus zu nehmen" nach alt bewährten Mustern. Kompilatorischer
Natur und ohne eigene Gedanken sind auch die Kapitel, die „Von den
*) Erschien zuerst unter dein Titel „Chirurgie", Nürnberg 1718. Wir benutzten
die zweite Ausgabe vom Jahre 1724.
**) p. 533—539.
326 Heuermann.
Gewächsen im Ohrgang*, „Von Brennung des Ohrs gegen Zahnschmerzen"
und von ..Löchlein in die Ohren zu stechen" handeln. ..Von den Instru-
menten zum schwachen Gehör dienlich", wie z. B. die Hörrohre von
Nuck und Dekker, hält er nicht viel. Sie sollen nach seiner eigenen
Erfahrung und der anderer „gar wenig Effekt prästieren '*.
Heister bringt bei einer 43jährigen Frau die Schwerhörigkeit mit
dem Aufhören der Menstruation im Klimakterium in Verbindung*).
Daß damals die Ansicht, Taubheit könne infolge der Unterdrückung der
Menses (a mensium suppressione) entstehen, allgemein verbreitet war,
beweist ein von Ebersbach**) mitgeteilter Fall von einem 17jährigen
Mädchen, das bei dem Aussetzen der Menstruation beinahe nichts hörte,
bei deren Rückkehr aber wieder in den Besitz ihres Gehörs kam.
Im Anschlüsse an seine Bemerkungen über Ohrerkrankungen erwähnt Heister
ein von ihm noch nicht versuchtes Instrument, das von einem gewissen Reusner
gegen Schwerhörigkeit, subjektive Geräusche und Ohrenschmerzen warm empfohlen
wurde***). Es bestand aus einem vergoldeten Silberröhrchen von einer Spanne Länge,
das täglich zwei- bis dreimal in den Gehörgang angesetzt wurde, „um die Lufft oder
Wind, welche in selbem enthalten, und das Klingen verursachen soll, herauszusaugen ".
Merkwürdigerweise hat sich diese Methode der Luftverdünnung im äußeren Gehör-
gange, die schon früher einigemal propagiert wurde, trotz ihres sicherlich vorzüg-
lichen therapeutischen Wertes, nie recht in die Therapie der Ohrerkrankungen ein-
bürgern können. Erst in den letzten Dezennien ist sie zur vollen Geltung gelangt.
Der dänische Chirurg Heuermann f) will die Schwerhörigkeit
alter Leute von einer Verwachsung des Hammermuskels mit seiner
Knochenrinne herleiten: „weil bei ihnen die Rinne in der wenig ver-
tieften Höligkeit, wodurch das eine Mäußlein des Hammers gehet, ge-
meiniglich verwachset, und den Muscul zu seiner Würckung ungeschickt
machet". Eine anatomische Begründung dieses Befundes vermissen wir in
dem Werke. Um Medikamente in die Ohrtrompete einzutreiben, bedient
sich Heuermann einer hohlen Sonde, ,.die fast wie die Sonde ,en femme'
beschaffen, allein nur nach vorne mit einer Oeff'nung und kleinen Biegung
*) Med. u. Chir. Wahrnehmg. 2. Bd. n. 381.
**) Annal. Wratisl. 1725.
***) Ueber Luftverdünnung im äußeren Gehörgange findet sich in den Ephe-
meriden der Act. nat. curios. Acad. Caesareo-Leopold vom Jahre 1717 unter Observat. VI
folgende Mitteilung von Christ. G. Reusner: Instrumentum acusticum novum in
tinnitu aurium et otalgia proficuum. Est tubulus quidain argenteus deauratus spithamae
longitudine, iste tubulus bis vel ter de die applicatur auri dolenti et sugendo aer
extrahitur, vel si mavis . . . novum appello instrumentum quoniam nemo autorum
(quantum ego scio) huius mentionem fecit. (Vergl. die im Mittelalter von Simeon
angegebene Saugmethode bei Schwerhörigkeit, S. 61.)
t) Georg Heuermanns Abhandlungen der vornehmsten chirurgischen Opera-
tionen am menschlichen Körper. 3. Bd. Kopenhagen und Leipzig 1757. Cap. 48.
„Von den Ohrenkrankheiten, wobei zu Zeiten ein Wundarzt erfordert wird."
Die Perforation des Processus mastoideus. 327
versehen" ist. Diesen Katheter führte er durch den Mund hinter dem
weichen Gaumen ein, drehte ihn dann ein wenig zur Seite und konnte
so angeblich leicht die Mündung der Tube erreichen. Um die ent-
sprechende Uebung in dieser Operation zu erlangen, müsse man sie vorher
an Kadavern üben. Er berichtet ferner von einer Fistel hinter dem
Ohre, „die weder durch die Speichelkur noch reinigende Einspritzungen
oder das akkurateste Verbinden" geheilt werden konnte. In die Fistel
eingespritzte Flüssigkeit floß teils durch die Tube zum Munde, teils
durch den äußeren Gehörgang aus dem Ohre heraus. Heuermann hält
diese Art von „Ohrengeschwüren" für die „allerschlechtesten" ; bei ihnen
lasse sich keine vollkommene Heilung nach innen erwarten, da der
Warzenfortsatz zu locker und schwammig sei, und der Eiter sich deshalb
zu leicht dort aufhalten könne. Als einzige Therapie empfiehlt er Er-
weiterung der Fistel, um den Ausfluß des Eiters zu befördern, ferner
kleine Einbohrungen mit dem Perforativtrepan , damit aus den Gefäßen
der Warzenfortsatzzellen und ihrer Membranen eine Verwachsung der
äußeren Oeffnung umso eher stattfinden könne.
Im Anschlüsse an die hier mitgeteilten Ergebnisse chirurgischer
Eingriffe am Warzenfortsatze soll im folgenden in einer übersichtlichen
Skizze die Geschichte dieser Operation mit ihren wechselnden Phasen
geschildert werden.
Die Perforation des Processus mastoideus.
Im letzten Dezennium des 18. Jahrhunders erregte eine Operation,
die jetzt nur unter bestimmten Indikationen ausgeführt wird, allgemeines
Interesse. Verleitet durch einseitige Berücksichtigung einzelner mit gün-
stigem Erfolge operierter Fälle glaubte man ein Heilmittel gefunden zu
haben, das auch bei nichteitrigen Prozessen jede Art von Taubheit
zu beseitigen vermöchte. Es handelte sich um die Durchbohrung
des Warzenfortsatzes, in der Absicht, die Kommunikation der
Trommelhöhle mit der äußeren Luft herzustellen. Sie wurde von dem
preußischen Regimentschirurgen J asser unternommen, der die schon
100 Jahre früher empfohlene, dann aber in Vergessenheit geratene
Operation als ein völlig neues Heilverfahren hinstellte.
Die Geschichte der Operation reicht bekanntlich bis auf Riolan
den Jüngeren zurück, der, wie wir bereits früher (S. 216) erwähnten, in
seinem „Encheiridium", und anderweitig1) in Fällen von Taubheit und
Ohrensausen, die durch Verstopfung der Tuben bedingt sind, die Durch-
bohrung des Warzenfortsatzes und Einspritzung durch denselben vor-
schlug. Riolan sagte im Opusc. anat. : Ideoque defectu hujus canali-
culi, tubae scilicet, pervii ad evacuationem flatuum quid ni conferret,
328 Die Perforation des Processus mastoideus.
stylo tenuissimo pertusa apophysis mastoideae cavernosa substantia, quae
communicationem habet cum concha (p. 318)*).
Dies blieb zunächst nur ein Vorschlag, den allerdings bald auch
Rolfin ck2) unterstützte.
Anders sind die Fälle zu beurteilen, bei denen wegen Karies
und Fistelbildung operative Eingriffe am Warzenfortsatze vor-
genommen wurden3). Die ersten Chirurgen, die rationell vorgingen,
waren J. L. Petit und Heuermann, ersterer führte die Trepanation bei
fluktuierendem Periostalabszeß aus, letzterer bei Fistelbildung hinter dem
Ohre. — Aehnliche auf Karies bezügliche Fälle teilten noch Morand4),
Martin, Bourienne und Bertrand-') mit. Aber keiner kam auf die
Idee, die bei Karies so wirksame Operation auch zur Behebung der Taub-
heit auszuführen. Diesen unglücklichen Gedanken faßte zuerst der schon
erwähnte Jas s er, der, veranlaßt durch einen glücklich operierten Fall
von Karies des Warzenfortsatzes (1776) 6), die Frage aufwarf: ..Könnte
durch diese Operation nicht manche, bis jetzt für unheilbar
gehaltene Taubheit geheilt werden?" 7) Dieser Satz gab durch
seine unklare, allgemein gehaltene Formulierung des Begriffs „Taubheit"
den Anlaß, die Trepanation des Warzenfortsatzes bei allen möglichen
Formen der Taubheit ohne Indikationsstellung zu versuchen. Der Vor-
schlag Jassers fand bald nach seinem Bekanntwerden Bestätigung im
günstigen Sinne. J. G. H. Fielitz8) berichtete über 5 glückliche Fälle,
ohne aber die Aetiologie, Symptomatologie und selbst die Operation
genauer zu beschreiben. Weitere günstige Berichte folgten von A. F.
Löffler9), die zeigten, daß schon die bloße Perforation ohne Einspritzung
durch die hergestellte Passage für die Trommelhöhlenluft manche Taub-
heit heilen könne. Weniger ermutigend mußte eine Krankengeschichte
A. J. Hagströms 10) wirken, der die Operation beiluetischer Taubheit ohne
jeden Erfolg vollzog. Hagström selbst fühlte sich durch die schlechte Er-
fahrung, die er gemacht hatte, dazu gedrängt, Indikationen aufzustellen, was
seine Vorgänger unterlassen hatten. Auch beschrieb er genau die Operations-
*) Nach einer Mitteilung von Haller (Bibl. med. pract. I, II, Bas. 1777, p. 39)
könnte es zwar scheinen, als ob Alois Mundella diese Operation bereits 1556
empfohlen hätte, da Hall er berichtet, daß Mundella bei Schwerhörigkeit zu einer
Perforation des Schädels riete. Doch ist diese Stelle Mundellas nicht richtig ausgelegt
worden. Bei ihm heißt es nämlich: „ut forata media auris funiculo aliquo ita trajecta
longo tempore servetur." (Epistolae medic. divers, autorum. Lugd. 1556. In epistolis
Aloisii Mundellae. p. 357.) Hieraus geht deutlich hervor, daß Mundella nicht die
Absicht haben konnte , eine Schnur durch das durchbohrte Mittelohr zu stecken,
sondern daß mit , media auris" zweifellos der mittlere Teil der Ohrmuschel gemeint
ist, eine Interpretation, die noch dadurch gestützt wird, daß Munde IIa an derselben
Stelle außer dem Durchstecken einer Schnur durch die Mitte des Ohres das An-
legen einer Fontanelle hinter dem Ohre empfiehlt.
Die Perforation des Processus mastoideus. 329
technik. Einen sehr ungünstigen Fall teilte Proet11) mit, und bald
schien die große Begeisterung einer völligen Verwerfung zu weichen, als
der sensationelle Todesfall des dänischen Leibarztes Johann Gust.
v. Berger 12), der sich der Operation behufs Behebung eines langwierigen
Ohrenleidens unterzogen hatte, bekannt wurde. Berger litt seit Jahren
an heftigem Schwindel, Kopfschmerz und Sausen in beiden Ohren, wobei
das Gehör allmählich abnahm. Er ließ sich von Kölpin und Callisen
operieren und starb unter meningitischen Erscheinungen nach 12 Tagen.
Aber auch dieses Ereignis, das allerdings auf die mangelnde Asepsis
zurückzuführen ist, damals aber der Operation als solcher zugeschrieben
wurde, schien noch nicht als abschreckendes Beispiel zu wirken, da noch
nachher von manchen die Operation gegen Taubheit angepriesen wurde.
Der Nutzen aber, der der Wissenschaft hieraus erwuchs, war der,
daß man einerseits dazu gedrängt wurde, die Anatomie des Warzen-
fortsatzes genauer zu studieren, und daß man andererseits darauf be-
dacht war, durch schärfere Indikationsstellung die für die Operation
geeigneten Fälle auszuwählen.
Die Anatomie des Warzenfortsatzes wurde um diese Zeit vornehm-
lich von Murray 1;i), Arnemann14) und Hagström gefördert. Ihr
Verdienst bestand darin, daß sie nicht bloß die Zellen des Warzenfort-
satzes, sondern die Kommunikation der Zellen untereinander und mit der
Trommelhöhle und die vielfachen Varietäten der pneumatischen Warzen-
fortsätze genauer beschrieben. Nähere Angaben über das häufige Vor-
kommen zellenloser, diploetischer Warzenfortsätze im normalen Zustande
(von Zuckerkandl in 20°/o) vermissen wir in diesen Arbeiten. Nur
Murray erwähnt einen Fall, in dem sämtliche Warzenzellen fehlten und
das Gehör dennoch in keiner Weise gestört war.
Während J. Arne mann in weitgehendster Weise bei jeder „gänz-
lichen Taubheit überhaupt, oder einer Harthörigkeit, die immer zunimmt
und wogegen alle anderen Mittel vergebens gebraucht sind", die Operation
anwenden wollte, ja sogar bei „lange anhaltenden Ohrenschmerzen und
Brausen in den Ohren" oder „wenn die Eustachische Trompete durch
Schleim oder andere stockende Feuchtigkeiten verstopft ist", die Trepa-
nation des Warzenfortsatzes empfahl, beschränkten andere Autoren, wie
Herholdt1"') und Callisen16), ihre Anwendung auf ein kleineres Gebiet.
Herholdt, durch einen ungünstig verlaufenen Fall gewarnt, schied mehrere
Formen von Taubheit, wie die durch Akustikusaffektionen bedingten aus,
wobei er sich diagnostisch besonders auf die Prüfung der Schallperzeption
durch die Zähne stützte, und ferner die ätiologischen Momente und
gewisse Symptome wie Schwindel, Kopfschmerz, Blindheit und andere
Cerebralerscheinungen berücksichtigte. Kontraindiziert war die Trepa-
nation des Proc. mast. außerdem bei Taubheit infolge von Erkrankungen
330 Die Perforation des Processus mastoideus.
des äußeren Gehörgangs und endlich bei Schwerhörigkeit, die durch dia-
gnostizierbare Affektionen des Trommelfells, der Trommelhöhle, des
Rachens, der Tubenöffnungen veranlaßt wird. Als Hauptindikation der
Jasserschen Operation stellt Herholdt in erster Reihe die Karies des
Warzenfortsatzes auf.
Ebenso vorsichtig bestimmt H. Callisen die Indikation der Operation ;
er kommt in Erwägung der anatomischen und praktischen Schwierig-
keiten zum Schlüsse, daß sie lediglich bei Karies und Eiteransamm-
lungen im Warzenfortsatz e und in der Trommelhöhle, vielleicht
auch bei Verstopfungen der Tube behufs Zufuhr der Luft von außen von
Nutzen sein kann. Diese Bemerkungen stehen im Gegensatz zu Hag-
ströms Abhandlung17), der, obwohl er einen selbstoperierten, un-
günstig verlaufenen Fall mitteilt, die Operation auch bei Affektionen der
Trommelhöhle anriet, sie sogar den Injektionen durch die Eustachische
Röhre vorzieht.
Ausführliche Schilderungen der Jasserschen Operation finden sich
ferner bei Bernstein und Weber18), durch einige eigene Beobachtungen
vervollständigt.
Unter dem Einfluß der französischen Otiatrie, namentlich durch die
weitere Ausbildung des Katheterismus tubae und der Luftdousche, deren
Geschichte wir hier folgen lassen, wurde die Eröffnung des Warzenfort-
satzes später ausschließlich bei Karies unternommen.
l) Opusc. anat. Lond. 1649, p. 218; Anthropologia Lib. IV, cap. 5. — 2) Diss.
anat., Jenae 1656, Lib. II, cap. 15, p. 279. — 3) Vergl. die Beobachtung Valsalvas
S. 240. Daß manchmal durch Warzenfortsatzkaries bedingte Kopfschmerzen und
Hörstörungen durch spontane Ausstoßung nekrotischer Knochenstücke heilen können,
wußten bereits Duverney (1. c. p. 183), Cassebohm (1. c. Tract. IV). — 4) Verm.
chirurg. Schriften. Aus d. Franz. Leipzig 1774, p. 4 sq. — 5) Journal de medeeine
et Chirurgie T. XXX, T. XLI, T. XLII. — 6) Krankengesch., zit. bei Lincke II, 82.
oder in Hagströms Abhdlg., Lincke, Sammig. IV, p. 20, vide Lincke Sammig. IV,
p. 195 (wo die Krankengesch. von Jasser, Fielitz und Löffler enthalten sind). —
7) Schmuckers Verm. chirurg. Sehr. Berlin 1782, III, p. 113—125. — 8) Richters
chir. Bibl. VIII, S. 324, IX, S. 355, Göttingen 1785—1790. — 9) Richters chir.
Bibl. X, S. 613. — 10) Neue Abbandlungen der Königl. Schwed. Akad. 1789, Bd. X,
184—194, vide Lincke Bd. IV, S. 20 ff. — »') Todes Arzneikundige Annalen XII.
— 12) Quellen zu Bergers Krankengeschichte; Todes Arzneikundige Annalen XII,
S. 52, Kopenh. 1792; Salzburg, med. chir. Ztg. 1791. II, S. 366. — Conferenceraad
von Bergers siste Sygdom of Hr. Institsraad Kölpin . . . Copenhag. 1792. — 13) Neue
Abh. der K. Schwed. Acad. d. Wissensch. Bd. X, 1789, S. 197, in Linckes S. IV,
p. 33. — 14) Bemerkungen über die Durchbohrung des Proc. mast. in gewissen Fällen
der Taubheit. Göttingen 1792. — 15) J. C. Todes Arzneikundige Annalen XII,
S. 18 — 51, vd. Lincke S. IV, p. 44 S. — I6) Commentatio de fatis atque cautelis
injeetionis cavitatis tympani per processum mastoideum ossis temporum Act. reg.
societ. med. Hafniens III. Hauniae 1792, p. 435-456, Lincke S. IV, p. 59 ff. —
]7) Andr. Job. H. über die Durchbohrung des Warzenfortsatzes etc. in Linckes
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 331
S. IV, p. 20 ff. aus Königl. Schwed. Acad. d. Wiss. 1789. — 18) Gesch. einer durch
Perforation des Warzenfortsatzes bewerkstelligten Entleerung einer Eiterablagerung etc.
Lincke S. IV, p. 96 ff.
Der Katheterisinus der Eustachischen Ohrtrompete.
Der Katheterismus der Ohrtrompete, die erste reelle Bereicherung
der Otiatrie, wurde im Jahre 1724 von dem Postmeister Guyot in Ver-
sailles zur allgemeinen Kenntnis gebracht. Er hatte gegen sein Gehör-
leiden bei Aerzten vergeblich Hilfe gesucht und wurde, wie Sabatier
berichtet, durch seine Not getrieben *) der Erfinder eines Heilverfahrens,
das bei den reichen anatomischen Erfahrungen seines Zeitalters schon
längst aus theoretischen Erwägungen hätte abgeleitet werden müssen.
Guyot teilte seine Methode der Pariser Akademie mit2), fand hier
jedoch wenig Glauben, da man der Ansicht war, daß lediglich die
Schlundmündung der Trompete, nicht aber sie selbst instrumenteil zu-
gänglich sei. Er bediente sich einer zinnernen, knieförmig gebogenen
Röhre, die er durch den Mund hinter dem Gaumensegel nach oben
schob und in die Tubenmündung einführte. Das äußere Ende der Röhre
war mit einem für die Injektion dienenden Apparat verbunden, der aus
einer Doppelpumpe mit einem gemeinschaftlichen Reservoir bestand, die
durch zwei entgegengesetzte Kurbeln in Bewegung gesetzt wurde. Ein
mit dem Reservoir zusammenhängender Lederschlauch stand mit dem
äußeren Katheterende in Verbindung.
Die Schwierigkeit der Prozedur hätte die ganze Frage des Ka-
theterismus wieder von der Tagesordnung verschwinden lassen, hätte
nicht nach Guyot, wahrscheinlich unabhängig von ihm, der englische
Militärarzt Archibald Clelancl empfohlen, den Katheter durch die
Nase einzuführen. Cleland3) veröffentlichte sein Verfahren im Jahre
1741, ohne Guyot zu nennen. Nach Cleland ist in allen Fällen von
Schwerhörigkeit, die von einer Verstopfung der Ohrtrompete herrühren,
das Ausspülen mit lauem Wasser angezeigt. Zu diesem Zwecke führe
man eine dünne, biegsame silberne Röhre durch die Nase in die,
in der Nähe der hinteren Nasenöffnung (Choane) und des Gaumenbogens
befindliche Tubenmündung ein. An dem vorderen Ende überziehe man
sie vorher mit einer Harnröhre vom Schafe, während das hintere Ende
mit einem elfenbeinernen Ansätze zur Aufnahme einer Spritze versehen
sein müsse, um laues Wasser oder Luft in die Eustachische Röhre
eintreiben zu können. Presse man nun Luft forciert in die Trommelhöhle
ein, so werde der Tubenkanal hinlänglich erweitert und die verstopfende
..Materie" entleert.
Cleland s Abhandlung entging der Aufmerksamkeit seiner Zeit-
genossen beinahe gänzlich, was in Anbetracht der mangelhaften Kom-
332
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete.
munikationsmittel jener Zeit nicht befremden kann. Wie er selbst
Guyots nicht gedacht, so schrieben Antoine Petit und Jonathan
Wathen sich die Erfindung des Katheterismus durch die Nase zu, ohne
Cleland zu nennen.
Petit, der in seiner Ausgabe der Palfyn sehen Anatomie Guyots
Verfahren kritisiert, behauptet als erster den Katheterismus tubae durch
die Nase empfohlen zu haben1).
Wathen zitiert wohl Guyot und Petit, nicht aber Cleland; er
gibt vielmehr an, sein Lehrer J. Douglas, der in seinen anatomischen
Fig. 15. Erste Abbildung des Katheterismus tubae von Jonathan Wathen. Ver-
kleinerte photogr. Reproduktion aus dem 49. Bande der Philosophical Transactions 1756.
Vorlesungen die Möglichkeit der Ausführung des Katheterismus durch
die Nase demonstrierte, habe ihn auf den Gedanken gebracht, dieses
Verfahren am Lebenden zu versuchen5). Die Methode Guj^ots hält
Wathen für unausführbar6). Nachdem er sich an Leichen hinläng-
lich eingeübt, erzielte er eine wesentliche Hörverbesserung durch Ein-
spritzungen in den Tubenkanal. Wathen beschreibt sein Verfahren
folgendermaßen7): „Die Röhre von Silber hat ungefähr die Länge und
Dicke einer gewöhnlichen Sonde und ist an ihrem Ende ein wenig ge-
bogen. Man füllt eine elfenbeinerne Spritze mit einer Flüssigkeit, z. B.
einer Mischung von warmem Wasser und etwas Rosenhonig, fügt die
Spritze an das äußere Ende der Röhre und führt sie zwischen Nasen-
flügel und Nasenscheidewand so ein, daß die Krümmung anfangs nach
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 333
oben, in der Tiefe jedoch etwas nach unten gekehrt ist, bis sie in die
Nähe der Mündung der Eustachischen Röhre kommt. Hierauf schiebt
man die Röhre, die Konvexität gegen die Nasenscheidewand hin ge-
richtet, in die Eustachische Röhre vor. Ist dies geschehen, spritzt
man die Flüssigkeit durch sie in die Tube ein, wodurch Unreinlichkeiten
verdünnt und ausgespült werden und die injizierte Flüssigkeit durch Mund
oder Nase oder durch beide ausfließt."
Bevor wir die Fortschritte schildern, die Cleland- Wathens Ver-
fahren namentlich durch französische Otologen machte, müssen wir noch
einer in der Zeit zwischen Clelands und Wathens Publikation er-
schienenen Dissertationsschrift Jul. Bussons gedenken, deren Titel
lautet: Quaestio medico-chirurgica : An absque membranae T^mpani
apertura topica injici in concham possunt? (Paris 1748). In dieser Schrift
findet sich der beachtenswerte Vorschlag, bei eitrigen Prozessen in der
Trommelhöhle Dämpfe in die Eustachische Röhre zu bringen. Das
Mittel, wodurch dies gelingen soll, bestehe darin, daß man erweichende
Dämpfe einatmen, Mund und Nase verschließen und dann starke Ver-
suche zum Ausatmen anstellen lasse (Valsalva scher Versuch), wo-
durch die Dämpfe in die Tube gelangen, ein Verfahren, das heute in
England zum Einbringen von Salmiakdämpfen mehrfach Verwendung
findet.
Obzwar die Methode des Katheterismus durch die Nase bald
die allein herrschende wurde und der größte Teil der Aerzte den Ka-
theterismus durch den Mund als unausführbar verwarf, bemühten sich
anfangs doch manche, die Methode Guvots auszubilden. Zu diesen
zählt besonders van Swieten, Gisbert ten Haaf8) u. a.
Die beste Ausbildung erfuhr die Cleland sehe Methode zunächst
in Frankreich, wo Sabatier1') einen geeigneteren Katheter konstruierte
und dadurch die Applikation wesentlich erleichterte. Er war aus Silber
gefertigt, besaß eine Krümmung von 130 °, war 4" lang, 1'" dick. An
seinem Ende befand sich ein Schraubengang zum Aufschrauben einer
Spritze. Um die Lage des in die Nase eingeführten Instruments sofort
zu erkennen, trug der Katheter am hinteren Ende eine kleine Platte,
die mit der Biegung des Rohres korrespondierte.
In Deutschland erschien 1786 eine Uebersetzung der Abhandlung
Wathens unter dem Titel: „Wiederherstellung des Gehörs durch
eine leichte chirurgische Operation" (Altenburg 1786). Obwohl
der Verfasser, gestützt auf mehrere höchst instruktive Fälle, den Ka-
theterismus eindringlichst empfahl, kam das Verfahren doch nur sehr
langsam in Aufnahme, da der größte Teil der Aerzte infolge anatomi-
scher Unkenntnis und abgeschreckt durch die Abneigung der Patienten,
es vorzog, bei dem alten Schlendrian zu bleiben, d. h. bei therapeutischen
334 Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete.
Maßnahmen, die sich lediglich auf rohe Empirie, nicht aber auf rationelle
anatomisch-physiologische Grundlagen stützten. So kam es, daß man zu
einer Zeit, als der Katheterismus längst bekannt war, noch immer wahl-
los zu den eingreifendsten Operationen, zur Trommelfellperforation oder
zur Durchbohrung des Warzenfortsatzes griff. Selbst in England empfahl
Sims, der manche interessante Beobachtung über die durch Erkran-
kungen der Ohrtrompete verursachten Hörstörungen machte, alles eher als
den Katheterismus. Die wichtigsten Heilmittel waren ihm Gurgelwässer,
Blasenpflaster, Schröpfen, Purgiermittel, Fontanellen oder der einfache
Valsalvasche Versuch. In seiner Abhandlung .,Observations on deaf-
ness from Affections of the Eustachian tube"10) sagt er über den Ka-
theterismus: „Durch den Mund scheinen die Einspritzungen beinahe gar
nicht möglich zu sein, durch die Nase hingegen sind sie bisweilen ge-
glückt. Die zu den Einspritzungen verwendete Flüssigkeit kann in die
Luftröhre fallen und einen heftigen Husten erregen, oder, Avas von
größerer Wichtigkeit ist, es kann selbst der geschickteste Wundarzt nie
gewiß sein, ob er die Spitze der Spritze wirklich in die OefFnung der
Eustachischen Röhre eingebracht hat." Viele andere bedeutende
Männer hielten die Ausführung des Tubenkatheterismus für undurch-
führbar oder für unsicher in der Ausführung, so der berühmte Chirurg
Benjamin Bell aus Edinburg11) und der Franzose Portal12).
Solche absprechende Urteile sonst trefflicher Autoren können umso
weniger befremden, wenn man erwägt, daß der Katheterismus der Ohr-
trompete infolge der unvollkommenen Instrumente jener Zeit nur den ge-
schicktesten Händen zugänglich war. Es bedurfte erst der Erkenntnis,
daß der Tubenkanal die Haupteingangspforte für therapeutische Agenzien
in das Mittelohr bilde, um der Ohrtherapie einen wissenschaftlichen Hinter-
errund zu verleihen. Diese Erkenntnis war das Verdienst der französischen
Otologen aus dem Anfange des 19. Jahrhunderts, eines Saissy, Itard,
Deleau. Der letztgenannte namentlich bahnte durch die Einführung der
elastischen Katheter und der Luftdusche die weitere Vervollkommnung
dieses wichtigen therapeutischen Eingriffes an. — In Deutschland hat sich
später W. Kr am er um die Ausbildung der Technik des Katheterismus
verdient gemacht.
') Dictionnaire des sciences mddicales 1819. 38. p. 102. — 2) Histoire de
l'Academie Royale des sciences 1724. p. 37. Les Anatomistes ne croyoient point que
cette Trompe put etre seringuee par la bouche; cependant M. Guyot Maitre de la
Poste ä Versailles a trouve pour cet usage un Instrument que l'Academie a juge
tres ingenieux. La piece principale en est un Tuyau recourbe, que Ton insinue au
fond de la bouche, derriere et au dessus du Palais, ä dessein de l'appliquer au
Pavillon de la Trompe qu'on veut-injecter. On en lave au moins l'embouchure ce
qui peut Stre utile en certains cas! — 3) Phil. Transact. Vol. 41, P. 2, for the years
1740, 1741, erschienen 1744. The following Instruments are made to open the
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 335
Eustachian Tube: If, upon Trial. it should be found to be obstructed, the Passage
is to be lubricated by throwing a little warm water into it by a Syringe to a
flexible silver Tube, which is introduced through the Nose into the oval opening of
the Duct at the posterior opening of the Nares, towards the Arch of the Palate. The
Pipes of the Syringe are made small, of Silver, to admit of bending them, as occasion
offers ; and for the most part remsemble small Catheters : they are mounted with a
Sheep's Ureter ; the other End of which is fixed to an Ivory Pipe ; which is fitted to
a Syringe, whereby warm Water may be injected : or they will admit to blow into
the Eustachian Tube, and so force the Air into the Barrel of the Ear, and dilate
the Tube sufficientely for the Discharge of the excrementitious Matter that may be
logded there; the Probes which are of the same Shape with the Pipes, have small
Notches near the Points, which take in some of the hardened and glutinous Matter,
that is contained in those Tubes, which is distingueshed by the fetid Smell, when the
Probes are withdrawn. There is another Kind of Deafness, which proceeds from a
violent Clap of Thunder, Noise of Cannon, or the like. In this case, it is probable, that
the Position of the Membrana Tympani is altered, being forced inwards upon the
small Bones, and so becomes concave outward ly. In this case no Vibration of Sounds
will be communicated to the Drum, until the Membrane has recovered the normal
Position. The Means, proposed to remedy this Disorder, are first (if the Person heard
very well before; and it be not too long after the Accident has happened) to oblige
the Patient to stop his Mouth and Nose, and force the Air through the Eustachian
Tube into the Barrel of the Ear, by several strong Impulses. But if, by any Accident,
the Excrement is hardened in the Tube, or the Orifice of it, which opens into the
Barrel of the Ear, should be stopped up, so as that no Air can be forced that Way,
the second method proposed, is to introduce into the meatus auditorius externus an
Ivory Tube, as near to the Drum can be done, and so exactly fitted, that no Air
can go in or out, between the Skin of the external Meatus and the Tube. When it
is thus fixed, I take the further small End in my Mouth, and by degrees, draw out
what Air is contained; and I believe it will act like a Sucker upon the Membrane,
and draw it back to its natural State ; and then the Person will hear as before.
(Phil. Trans. Vol. 41, Pt. 2, p. 848 ff.) — 4) Anatomie chirurgicale, Paris 1753, Tome II,
p. 472. — 5) A Method proposed to restore the Hearing, when injured from an Ob-
struction of the Tuba Eustachiana, Phil. Trans, read (May 1755) for the year 1755,
Vol. 49, Lond. 1756. — 6) Convinced of this Monsieur Petit proposed, and that
learned and skilful Mr. John Douglas first demonstrated the possibility of passing
the probe etc., through the nose into the Eustachian tube : and this he has constantly
shown to those who have attended his public lectures; and to him I freely aeknow-
ledge myself indebted for the hint, by which I was incited to make trial on the
living of an Operation of so much importance to mankind. — 7) The pipe is made
of silver, about the size and length of a common probe, and a little bent a the
end: this being fixed to an ivory syringe. füll of liquor (a little mel rosarum in
warm water) must be introduced between the ala and septum of the nose, with its
convexity towards the upper part of the aperture of the nares; and thus continued
backwards, and a little downwards, tili it comes near the elliptic orifice; then its
convexity is turned toward the septum, by which the inflected extremity enters the
tuba Eustachiana with ease; the liquor is then impelled through it into the tube,
by which the sordes, if any, being diluted, is washed out, and regurgitates through
the nose, or mouth, or both with the injection. — 8) Verhandelten van het Cataafsch
Tenootschap der proefenden vindelyke Wysbeg eerte te Rotterdam. Deel V. p. 216, 1780.
— 9) Diction. des sciences medicales. T. 38, p. 106. — 10) Memoirs of the Medical
336 Die künstliche Perforation des Trommelfells.
Society of London 1787. Vol. I, p. 94—117. — n) A System of Surgery, 7<* ed.
Edinb. 1801. Vol. V, p. 105 u. 106. — 12) Precis de Chirurgie pratique. Paris 1768,
Vol. II. p. 481.
Die künstliche Perforation des Trommelfells.
Um die Wende des 18. Jahrhunderts wurde die praktische Ohren-
heilkunde durch ein Verfahren bereichert, das ursprünglich ganz rationell
ersonnen, infolge planloser, mißbräuchlicher Anwendung bald wieder in
Mißkredit kam. Wir meinen die zuerst von Astley Cooper in größerem
Maßstabe ausgeführte Durchbohrung des Trommelfells.
Bevor wir auf die Geschichte dieser Operation eingehen, müssen
wir auf mehrere Vorläufer Coopers, vor allem auf den bereits ge-
nannten Riolan den Jüngeren hinweisen.
Zunächst sei auf die Experimente verwiesen, die Valsalva in Nach-
prüfung der Versuche des Th. Willis an Hunden anstellte, um zu er-
forschen, ob sie infolge der Perforation des Trommelfells das Gehör ver-
lören. Solche auch von anderen Anatomen und Physiologen wiederholte
Experimente brachten Cheselden (1688 — 1793) ]), den Vater der eng-
lischen Chirurgie, auf den Gedanken, hierüber auch am Menschen zu
experimentieren. Die sich einmal bietende Gelegenheit, die Operation an
einem zum Tode Verurteilten vorzunehmen, konnte jedoch aus äußeren
Gründen nicht ausgeführt werden. Cheselden vermochte daher, nur auf
theoretische Argumente gestützt, den Rat zu erteilen, die Perforation in
Fällen zu machen, wo die Schallfortpflanzung durch eine Affektion des
Trommelfells behindert ist.
Den Einschnitt in das Trommelfell bei Eiterungsprozessen
der Trommelhöhle riet schon Julius Busson im Jahre 17482) an*). Im
Jahre 1760 soll bereits ein in Frankreich herumziehender Kurpfuscher,
namens Eli, wie in Hallers (junior) Briefen3) zu lesen ist, die Operation
mit Erfolg an tauben Menschen vorgenommen haben. In England war
es der Edinburger Professor Peter Degravers (1788), der in roher
Weise die Operation versuchte, indem er in einem Falle von Schwer-
hörigkeit zweimal das Trommelfell einschnitt und wieder zuheilen ließ.
Portal4) warf die Frage auf, ob es nicht vorteilhaft sei, bei
starker, unheilbarer Verdickung des Trommelfells eine Oeffnung in das-
selbe zu machen, im Gegensatze zu Sabatier, der vorschlägt, bei Er-
schlaffung dieser Membran das gleiche zu tun. Der Italiener Monteggio5)
brannte mit Höllenstein ein Loch ins Trommelfell, welches jedoch nach
*) Dieselbe Indikation, nämlich bei eitrigen Mittelohrerkrankungen die Para-
centese auszuführen, stellten auch später Alard (Essai sur le catarrhe de l'oreille,
I. ed. 1803. — II. ed. 1807. Paris) und Yearsley.
Die künstliche Perforation des Trommelfells. 337
wenigen Tagen zuheilte, ohne daß eine Besserung der Schwerhörigkeit
eintrat.
In Deutschland war es der berühmte Göttinger Okulist K. HirnlyG),
der auf Grund von Experimenten an Hunden und gestützt auf Versuche
am Trommelfelle von Leichen, schon 1797 — 99 die Operation bei Ver-
schließung der Tuba empfahl, wenn der Tubenverschluß durch andere
Mittel nicht behoben werden könne.
Astley Cooper7), der in den Phil. Trans, der Jahre 1800, 1801 von
Erfolgen berichtete, die er mittels der Trommelfelldurchbohrung erzielt
hatte, begründete sein Verfahren durch die Annahme, es könnte hiedurch
eine Art von Substitution für die undurchgängige, verstopfte Eustachische
Röhre geschaffen werden. Da die Perforation an sich das Gehörvermögen
nicht beeinträchtige, so werde sie in allen Fällen, wo die Wegsamkeit
der Ohrtrompete aufgehoben sei, von Nutzen sein. In der Tat konnte er
von einer völligen Restitution des Gehörs in drei Fällen berichten, in
denen die Perforation vorgenommen worden war. Sehr bald jedoch
schwand seine Siegesgewißheit; denn nachdem er das Verfahren bei-
läufig 50mal versucht hatte, mußte er infolge ungünstiger Erfahrungen den
optimistischen Erwartungen des Publikums und der Aerzte offen ent-
gegentreten und erklären , daß die Operation nutzlos sei , da es kein
Mittel gebe, die künstliche Oeffnung offen zu erhalten, und nach der
Verwachsung der Lücke die Schwerhörigkeit meist noch hochgradiger
sei als vor der Operation.
Trotz der Resignation ihres Erfinders wurde die Operation noch
lange übt und alle Mühe daran gesetzt, das Instrumentarium zu ver-
bessern*). In Frankreich waren es vornehmlich Trucy8), Ribes, Du-
bois, Celliez9), Alard, Parois und Maunoir 10), die die Perforation
meist mit ungünstigem Erfolge ausführten. Auch die Resultate Itards
und Deleaus, die auf die schon fast vergessene Operation die Auf-
merksamkeit lenkten, waren nichts weniger als ermunternd. Itard hat
die Paracentese bloß zweimal mit günstigem Erfolg ausgeführt, einmal
bei Verschluß der Tube, das andere Mal bei einem Taubstummen,
bei dem die Trommelhöhle mit Schleim erfüllt war, den er durch
wiederholte Einspritzungen entfernte. In England wendeten u. a. Saun-
ders und Yearsley die Operation an, letzterer nur in Fällen von eitriger
Otitis. Saunders hält die Operation auch bei Empyem der Trommel-
höhle indiziert. Bei den vielen Operationen konnte er nur von einem
glücklichen Fall Mitteilung machen, in dem es sich um Tubenverschluß
*) Verbesserungen des Perforationsinstruments nahmen vor: Himly, Saissy,
Asbury, Lang, Rust, Celliez, Paroisse, Fuchs, Travers, Itard,
Maunoir, Arnemann, Richerand. Deleau, Graefe, Fabrizi, Lincke.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 22
338 Die künstliche Perforation des Trommelfells.
infolge eines syphilitischen Rachengeschwüres handelte. In den Niederlanden
handhabten der Utrechter Nieu wenhuis ir) und die beiden Brüsseler
Aerzte Andre und Neuburg12) das Verfahren und berichteten ins-
besondere bei Taubstummen über glänzende Erfolge. Hendriksz 13), Vor-
stand der Taubstummenanstalt in Groningen, sah sich sogar veranlaßt, nach
Brüssel zu gehen, um sich von den Resultaten zu überzeugen, teilte aber
durchaus nicht den Enthusiasmus der beiden Genannten. In Deutschland
wurde die Perforation bei den verschiedenartigsten Fällen mit vorwiegend
ungünstigem Ausgange ausgeführt. Wir verweisen auf die einschlägigen
Schriften von Himly, Neuß11), Michaelis15), Hunold16), Rust17),
Trosiener 18), Lang, de Graefe, J. S. Beck19), Kaverz20),
Nasse21) etc.
Fabrizi-Lincke22) erklären die Operation auch zu lediglich dia-
gnostischen Zwecken zulässig, eine Ansicht, der eine gewisse Berechtigung
nicht abgesprochen werden kann. In dem Maße, als die Technik des
Katheterismus Fortschritte machte, wurde die Trommelfellperforation in
ihren Indikationen eingeschränkt.
Die Indikationen, wie sie anfangs gestellt wurden, waren in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle vollkommen verfehlt; die verschiedensten Arten von Hörstörungen,
Taubheit, Taubstummheit, Verdickung des Trommelfells und vor allem Tubenver-
schluß galten als Anlaß, die Trommelfellparacentese durchzuführen. Nur wenige
(wie Alard, ßusson und Yearsley) wollten die Operation auf eitrige Mittelohr-
erkrankungen beschränken.
Was die Technik der Operation anlangt, so machten Astley Cooper u. a. die
einfache Perforation im unteren Abschnitte des Trommelfells mittels Troikart (der
nicht über l'/2 Linien vordringen sollte, um Verletzungen zu vermeiden). Himly u. a.
nahmen mit einem Hohl- oder Locheisen ein Stückchen der Membran heraus (Trepa-
nationsmethode). Richerand empfahl die Kauterisation (Aetzmittel). Behufs Ver-
meidung der Wiederverwachsung legte man Darmsaiten oder Metallröhrchen ein.
Im Jahre 1843 tauchten wieder Mitteilungen über die einst so häufig
ausgeführte Operation auf. Hubert-Valleroux erklärt sich in diesem
Jahre als ihr entschiedenster Gegner, indem er auf zwei Todesfälle hin-
weist, die angeblich nach der Paracentese eingetreten sein sollen. Einige
Zeit später wurden auch von einem englischen Arzte zwei tödlich ver-
laufene Operationen mitgeteilt. Die Berichte Valleroux' und des eng-
lischen Arztes sind jedoch so ungenau, daß ihren Angaben wenig Wert
beigemessen werden kann.
Obwohl von den verschiedensten Seiten über Mißerfolge berichtet
worden war, sehen wir auch hier das traurige Schauspiel in der Otologie
sich wiederholen, daß nutzlose und aufgegebene Methoden nach Ablauf
einer Reihe von Jahren wieder als neu auftauchen, daß die Menge, ohne
Kenntnis der früheren Mißerfolge, durch angeblich glänzende Resultate
verblüfft wird, bis sich nach abermaligen Enttäuschungen wieder die
Die künstliche Perforation des Trommelfells. 339
Wertlosigkeit der Methode herausstellt. Wir meinen die bis über die
Mitte des 19. Jahrhunderts reichenden fruchtlosen Versuche Deleaus,
Bonnafonts, Philippeaux' und Joseph Grubers, die Operation
wieder in die Praxis einzuführen.
]) Anatomy of human body. Lond. 1756, p. 306; übers, von Wolf, Götting.
1790, p. 296. — 2) Quaestio an absque membranae tympani apertura topica in
concham injici possint. Parisiis 1748. — 3) Epist. ad Hall, script. 1760, Vol. IV,
p. 320. — 4) Precis de Chirurgie pratique. Paris 1768, Vol. II, p. 480. — 5) Instit.
chir. Ticinenses 1798, T. VII. — 6) Com. societ. Götting. 1809, Vol. XVI. — 7) Ob-
servation on the Effects which take place from the Destruction, of the Membrana
Tympani of the Ear. Phil. Trans. 1800, P. I, p. 151. — Further Obs. on the Effects
which take Place from the Destruction of the Membr. Tymp. of the Ear, with an
Account of an Operation for the Removal of a particular Species of Deafness.
Ibid. 1801, Vol. XIX, p. 435—450. — Dictionary of practical surgery. Lond. 1825. —
8) Considerations sur la Perforation de la membr. du tymp. Paris 1802. — 9) Obser-
vation sur une maladie de l'organe de l'ouie guerie radicalement par la Perforation
de la membran du tympan. Im Journal de med. chir. pharm, etc. par Corvisart,
Leroux et Reyer. T. IX, p. 106. — 1P) Ibid. — u) Diss. med. inaug. sist. momenta
quaedam de surditate per puncturam membr. tymp. curanda. Traj. ad. Rh. 1807.
12) Memoirea et observations sur la perfor. de la membr. du tymp. Bruxelles 1827.
— l3) Diss. de perfor. membr. tymp. Groening. 1825. — 14) Diss. de perf. membr.
tymp. Goett. 1802. Gott. Anz. 1802, p. 2085. — 15) Michaelis und Himly, Weitere
Untersuchungen u. Verh. über den Paukenfellstich (Bibl. f. Ophth. T. I). — 16) Ueber
die Durchl. d. Trommelf. Rudolst. 1810. — l7) Salzb. med.-chir. Ztg. 1813, Bd. III.
— 1S) Ueber d. Taubh. u. ihre Heilung mitt. der Durchstech, d. Trommelf. Ber-
lin 1806. — 29) Diss. de tymp. perf. in surditatis cura cautius rariusque adhibenda.
Erlang. 1806. Salzb. med.-chir. Ztg. 1807, II, p. 218. — 20) Diss. de perf. tymp.
Argentorati 1807. — 21) Bern, über A. Coopers Durchb. des Trommelf. Hufelands
Journ. der prakt. Heilkunde. Berlin 1807. — 22) Ueber die am Ohre vorkommenden
Operationen. Leipz. 1842, p. 115.
Dissertationen über Pathologie und Therapie des Gehörorgans
im 18. Jahrhundert.
Es würde zu weit führen, hier auf die zahlreichen die Pathologie
des Ohres behandelnden Schriften und Dissertationen dieser Periode näher
einzugehen. Wir beschränken uns deshalb auf die Inhaltsangabe einiger
Publikationen, die ein anschauliches Bild der Ansichten zeitgenössischer
Aerzte über die Erkrankungen des Ohres liefern.
Martin Naboth. De auditu difficili, Halle 1703. In den ersten Kapiteln
dieser Dissertationsschrift, die ein Jahr vor Valsalvas Tractatus de aure humana
erschien, beschäftigt sich der Autor eingehend mit den Ursachen der Schwerhörigkeit.
Er führt als Grund von Hörstörungen an: Veränderte Form der Ohrmuschel, voll-
kommener Mangel derselben, Zeruminalpfropf im äußeren Gehörgange; Verengerung
desselben durch Tumoren der Parotis; Excreszenzen, die vom Trommelfelle aus-
gehen. Fremdkörper im äußeren Gehörgange, ferner Spannung, Schlaffheit, Ver-
340 Rivinus.
Inirtung, Verdickung, Perforation und Abschürfung des Trommelfells. Wie irr-
tümlich die Krankheitssymptome damals gedeutet wurden, beweist die Annahme
Naboths, daß infolge übermäßiger Sekretion seröser Flüssigkeit durch die Zeruminal-
drüsen das Trommelfell erschlaffe '). Als Beweis hierfür werden Fälle angeführt, bei
denen nach einem heftigen Schlag auf den Kopf eine reichliche Ausscheidung seröser
Flüssigkeit aus dem Ohre eintrat, ein Symptom, welches annehmen läßt, daß es sich
in den zitierten Fällen um Austritt von Zerebrospinalflüssigkeit durch den äußeren
Gehörgang nach vorangegangener Basisfraktur des Schädels gehandelt haben dürfte.
Was die Therapie der Ohrerkrankungen anlangt, so steht Naboth noch ganz im
Banne des 17. Jahrhunderts.
J) § VI: quam laxitatem inferunt glandulae aurium cerumen separantes, si
loco ceruminis humorem limpidiorem eumque satis copiose secernunt, non minus
miseri damnum experiuntur.
Joh. Aug. Rivinus. Von größerem Interesse ist die Dissertations-
schrift „De auditus vitiis" (Lipsiae 1717) von Joh. Aug. Rivinus
hauptsächlich deshalb, weil Rivinus im Korollarium den Nachweis zu
erbringen sucht, daß das normale Trommelfell am vorderen oberen Pole
eine Oeffnung besitzt, eine Behauptung, die keineswegs neu war, hier
aber wieder von neuem als These aufgestellt wurde und noch lange
nachher ein Streitobjekt der Anatomen bildete. Des historischen In-
teresses halber soll die zusammenfassende Darstellung des langen Streites
über das Foramen Rivini später ihren Platz finden.
Was den sonstigen Inhalt dieser Dissertationsschrift anlangt, so gilt im großen
und ganzen von ihr dasselbe wie von der Naboths, wie überhaupt alle Dissertations-
schriften über das Gehörorgan in diesem Zeiträume nur eine Kompilation dessen
darstellen, was in vergangener Zeit von älteren Autoren über die Krankheiten des
Ohres mitgeteilt wurde. Dessenungeachtet wollen wir einiges herausgreifen , dem
vielleicht historisches Interesse innewohnt. Rivinus weiß bereits, daß Ansammlung
von Schleim in der Trommelhöhle die Ursache von Schwerhörigkeit sein kann, und
zwar, wie er meint, aus demselben Grunde, aus dem bei Schnupfen, wo Schleim die
Nasenhöhle erfüllt , der Geruchsinn verloren geht '). Das Symptom der Parakusis
Willisii versucht Rivinus dadurch zu erklären, daß ein schlaffes Trommelfell durch
eine heftige Erschütterung der Luft stärker gespannt wird , wodurch ein leiserer
Ton wahrgenommen werden kann2). Das Ohrenklingen führt er auf eine kon-
vulsivische Bewegung der Muskeln der Gehörknöchelchen und des Trommelfells zurück.
') § XXIX. Profecto in subjectis pituitosis necessum est perire auscultandi
facultatem, si tota cavitas repleatur muco viscido, quemadmodum observamus ol-
factum extingui , si talis pituita nares obstruat. — 2) § XLI. Quorum ratio procul
dubio fuit, quod vis laxior tympani membrana validiore aeris motu et soni vehemen-
tioris impulsu aliquantum et eo usque tendebatur, quo lenioris soni vibrationem
suscipere potuerit.
Der Streit über das Foramen Rivini.
Vom Ende des 17. bis tief hinein ins 18. Jahrhundert war die Frage, ob das
Trommelfell überall geschlossen sei oder im normalen Zustande eine Oeffnung besitze,
Foramen Rivini. 341
Gegenstand einer scharfen Kontroverse. Veranlassung hierzu gab eine 1689 gemachte
vermeintliche Entdeckung des Quir. Rivinus, die er 1691 dem holländischen Anatomen
Anton Nuck brieflich mitteilte. Rivinus glaubte nämlich im Trommelfell des
Schafes und Kalbes nahe dem Kopf des Hammers einen Hiatus mit fibrösem Sphinkter
aufgefunden zu haben, der in der Dissertation seines Sohnes Joh. Aug. Rivinus
ausführlich beschrieben ist.
Quirinus Rivinus forderte Nuck auf, den erwähnten Hiatus auch beim Men-
schen aufzusuchen und bekannt zu machen, weil man in Deutschland den Entdeckungen
größere Anerkennung zolle, die von ausländischen Forschern publiziert würden.
Schon vor Rivinus hatten Colle, Marchetti und Valsalva ähnliche
Befunde konstatiert, doch verschieden gedeutet. Diese, sowie die von Schel-
hammer. Vesling, Riolan, Cheselden u. a. gemachte Beobachtung, daß
es Individuen gebe, die im stände sind Tabakrauch durch das Ohr zu pressen, trugen
dazu bei, eine normale Oeffnung im Trommelfelle anzunehmen. Der erste, der das
Foramen schon vor Rivinus beim Menschen gefunden und als solches erkannt haben
soll, war Joh. Munniks. (De re anatom- Utrecht 1697, p. 195.)
Die Anhänger des Foramen Rivini differieren aber nicht unwesentlich in ihren
Angaben. Munniks hielt es für eine Art Duplikatur, Rivinus beschrieb einen
Spalt, Valsalva wollte das Foramen stets offen, Rivinus der Jüngere stets ge-
schlossen gefunden haben, Cheselden und andere Autoren nahmen an, es sei durch
eine Klappe verschließbar.
Auch über die Lage des Foramen gehen die Ansichten der Autoren weit aus-
einander. So sucht es Rivinus „prope mallei caput", Munniks „sub chorda",
Cheselden „ubi circulus osseus est", Teich mey er „ubi manubrium mallei desinit
et cervix incipit".
Zu den eifrigsten Verteidigern gehörten unter den Deutschen 0. P. Schott
(Diss. de aure humana, Straßburg 1719), J. A. Kulm (De auditu, Danzig 1724, Exer-
citatio physica de auditu, Sedani 1724—1728), Teichmeyer 1. c, Hofmann u. a.,
unter den Engländern Drake und Cheselden, unter den Franzosen Maloet.
Win slow und Valsalva drücken sich skeptisch aus und insbesondere Valsalva
hält es für nicht ausgeschlossen, daß es sich um ein Artefakt handle, womit er dem
wahren Sachverhalte nahe kam.
Widerspruch gegen die Annahme des Foramen erhoben zunächst Schneider,
der die Erscheinung des Tabakblasens aus dem Ohre ganz richtig auf das nicht
seltene Vorkommen pathologischer Perforationen im Trommelfelle zurückführte.
Schließlich erklärten auch die größten Anatomen der damaligen Zeit, Morgagni,
Ruysch, Cassebohra, Heister, Walther und schließlich Haller das Foramen
für einen pathologischen Befund. Morgagni bezweifelt auf Grund eigener Unter-
suchungen die Existenz des Foramen. Seine Versuche, die Oeffnung im normalen
Trommelfelle durch hohen Quecksilberdruck vom äußeren Gehörgang oder von der
Trommelhöhle aus nachzuweisen, ergaben stets ein negatives Resultat. Durch
ähnliche Versuche kam Walther (1. c.) zu demselben negativen Ergebnisse. Erst
Haller brachte durch seine gewichtige Stimme den Streit für einige Zeit zum Ver-
stummen, doch gab er zu, daß eine unvollkommene Bildung des Trommelfells (Collo-
boma) eine Spalte bedingen könne.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entbrannte der Streit abermals, als Boch-
dalek die Existenz eines Rivini sehen Loches in der Nähe des kurzen Hammer-
fortsatzes verfocht. Doch gelang es Schmiegelow (Z. f. 0. Bd. 21) durch mikro-
skopische Serienschnitte nachzuweisen , daß im normalen Trommelfelle weder ein
Rivinisches Loch, noch ein mit Epithel ausgekleideter Kanal bestehe.
342 Hofmeister. Gniditsch.
Joh. Heinr. Hofmeister befaßt sich im ersten Teile seiner Dissertationsschrift
„De organo auditus et eius vitiis" (Lugduni Batavorum 1741) mit der Ana-
tomie und Physiologie des Gehörorgans (De structura organi auditus et eius usu),
•wobei ihm die einschlägigen Arbeiten Valsalvas, Duverneys und Cassebohms
als Vorlage dienen. Er hält noch an der alten Hypothese vom „Aer innatus" fest.
Was den zweiten Teil seiner Arbeit, „De niorbis auditum adficientibus", be-
trifft, so wollen wir daraus bloß hervorheben, daß ihm die Ankylose der Gehör-
knöchelchen als Ursache von Taubheit bereits bekannt war. Ebenso wußte er
auch, daß große Tumoren des Gaumens und der Uvula, sowie große Polypen der
Nasenhöhle das Gehör beeinflussen können, und bezog dies richtig darauf, daß diese
Geschwülste den Zugang zur Ohrtrompete verlegen und den Eintritt von Luft in die
Trommelhöhle verhindern. Hofmeister nimmt nun an, daß die hier eingeschlossene
Luft sich infolge der Wärme ausdehne, eine Auffassung, die unserer heutigen ent-
gegengesetzt ist. Ferner ist er noch in dem Glauben, daß in der Trommelhöhle
normalerweise fortwährend Flüssigkeit sezerniert werde. Die Tatsache, daß bei
Zahnschmerzen oft der Schmerz in das innere Ohr lokalisiert wird, erklärt er aus
der Anastomose des V. mit dem VII. Hirnnerven in der Chorda tympani. Von In-
teresse ist die von ihm vertretene Ansicht über die Entstehung einer Labyrinth-
eiterung, die er darauf zurückführt, daß der in der Trommelhöhle sich stauende Eiter
nach Arrodierung des ovalen und runden Fensters über die beiden Treppen in die
Schnecke ') gelange.
Zum Schlüsse wollen wir noch erwähnen, daß Hofmeister eigene von ihm
ersonnene Instrumente in Vorschlag bringt und zwar das eine zur Exstirpation von
Polypen des Ohres 2) und ein anderes (eine gekrümmte Pinzette) zur Entfernung von
Fremdkörpern aus dem äußeren Gehörgange 3).
In der kurzen Schrift „Casum aegroti auditu difficili ex colluvie
serosa laborantis sponte sanato" (Argentorati 1768) erörtert der Verfasser
Georg Daniel W i b e 1 im Anschlüsse an eine uninteressante Krankengeschichte
einige anatomisch-physiologische und pathologisch-therapeutische Details des Gehör-
organs und zitiert hierbei ausführlich Valsalva, Duverney, Schelhammer,
Willis, Hai ler u. a., ohne aus Eigenem Beobachtungen hinzuzufügen.
Bei Besprechung der Therapie erwähnt er zum ersten Male als Heilagens die
Elektrizität, welche, wie zahlreiche von ihm erzielte Erfolge beweisen, bei der
Heilung von Schwerhörigkeit und Ohrensausen eine große Rolle spiele (s. Actis
Suecicis 1752, Vol. XIII, p. 305; Vol. XV, p. 141; Vol. XXVII, p. 207. Philosoph.
Transact. L. 697. Comm. Bonon. Tom. III. p. 460). Demgegenüber behauptet Linnäus
in den „Consectariis electricomedicis Upsaliae 1754", daß die Elektrizität bei durch
Katarrh des Mittelohrs bedingter Schwerhörigkeit unwirksam sei.
') § LXI. Puri in tympano stagnanti, consumpta vel ovalis vel rotunda fenestrae
membrana, facilis datur per scalas ad cochleam via. — 2) § LXXII. — 3) § LXX\.
Auf etwas höherem Niveau steht die Dissertation „De morbis membranae
tympani" (Lipsiae 1780) des Peter Gniditsch, aus der wir als erwähnenswert
hervorheben, daß der Autor für die Unbeweglichkeit des Trommelfells zwei Um-
stände verantwortlich macht: 1. Fremdkörper, die längere Zeit im äußeren Gehör-
gange verweilt haben, und 2. Verschluß der Ohrtrompete. Da hiebei der Ein- und
Austritt von Luft verhindert sei, so verbleibe das Trommelfell, fortwährend in der-
selben Stellung, wodurch die Gehörknöchelchen fixiert werden J). Bei Retraktion des
Trommelfells empfiehlt Gniditsch, wohl nicht als erster, vom Patienten auszu-
führende kräftige Respirationsbewegungen bei Verschluß von Mund und Nase (Val-
Trampel. 343
s alva 'scher Versuch) und ferner das Ansaugen von Luft aus dem äußeren Gehörgange
mittels eines Rohres 2) (s. Simeon, Reusner).
*) § IX. — 2) § X. Ad membranam autem, quae ad inferiorem cavitatem
recessit, in suam planitieni restituendam, proficit interdum exspiratio violentius acta,
quam dum aeger intendit, oportet eum ceteras vias per quas aer egredi solet, claudere;
id quod praestatur immisso in aeris meatum tubo, cuius alterum ostium ad mem-
branam adplicatur, alterum ore firmiter continetur aeris attrahendi et exsugendi causa.
Erwähnung verdient hier ferner Wildberg, der im dritten Bande seines oben
besprochenen Werkes die Pathologie des Ohres behandelt und sich außer durch die
Ueberlieferung der Leistungen seiner Vorgänger nur durch die Aufstellung einer
schärfer charakterisierten Einteilung der Ohraffektionen verdient machte. Für die
Hyperästhesie, Hypästhesie schlägt er die Benennungen Oxycoia und Dysecoia vor,
während Parakusis die Gehörstäuschungen bezeichnen soll.
Trampels umfassende populäre Abhandlung*), an der Wende des Jahr-
hunderts publiziert, ist noch ganz vom alten Geiste durchweht. Sie enthielt kaum
etwas Neues, obwohl ihr ein praktischer Wert für ihre Zeit nicht abgesprochen
werden kann. Das Verdienst ihres Verfassers liegt lediglich darin, daß er gegen die
unvernünftige planlose Empirie auftrat, die vorschnelle Anwendung der Durchbohrung
des Warzenfortsatzes widerriet, resp. lediglich auf die Karies beschränkte und daß
er einige allerdings höchst verfehlte Versuche machte , die Diagnostik zu erweitern.
Trampel meinte, aus dem Verhalten des Kranken auf den Sitz des Leidens
schließen zu können. Bei denen, die durch Hörrohre deutlicher hören, liege die
Ursache der Schwerhörigkeit entweder im Trommelfell allein oder in den Hammer-
muskeln oder in beiden zugleich. Helfe das Hörrohr nichts und höre der Kranke
nur bei geöffnetem Munde, dann liege die Ursache im Trommelfell und allen mit
ihm in Verbindung stehenden Werkzeugen. Zur Behandlung nervöser Taubheit
empfahl er eine Art von Luftdusche durch den Gehörgang, da er sich vorstellte, daß
das Trommelfell und die mit ibm in Konnex stehenden Teile durch abwechselnde
An- und Abspannung an Tonus gewännen.
Besonders ausführlich verbreitet sich Trampel über die Folgen, welche die
übermäßige Ansammlung des Ohrschmalzes mit sich bringt. Zur Beseitigung be-
diente er sich der Einspritzung von wässeriger Kochsalzlösung.
In gleichem Geiste wie die Schriften der genannten Autoren sind auch die
mit großem Fleiße und oft mit scharfsinniger Kritik zusammengestellten, das ganze
Gebiet der Otiatrie umfassenden Abhandlungen gehalten, deren Literatur wir im
Anschluß an diesen Abschnitt folgen lassen. In keiner findet sich eine auch nur
geringfügige Erweiterung des Wissensgebietes.
Nicht unbeträchtlich ist auch die Zahl der Schriften, die nur einzelne
Kapitel der Ohrenheilkunde zum Gegenstand ihrer Darstellung haben. Unter
diesen ragen die Arbeiten von Adolf Murr ay1), Joh. Fr. Cartheuser2) und
Job. Gottl. Leidenfrost3) hervor. Murray beschrieb einen Fall von Karies
des Felsenbeins und Warzenfortsatzes mit Sektionsbericht. Die beiden anderen
Autoren bemühten sich , die Ursachen der subjektiven Gehörsempfindungen zu er-
gründen. Nach Cartheuser wird das Ohrenbrausen durch Bewegung der Trommel-
höhlenluft bei verstopfter Tuba Eustach., das pfeifende Ohrpochen durch erhöhte
) Wie erhält man sein Gehör gut und was fängt man damit an , wenn es
fehlerhaft geworden ist? Hannover 1800 , 1808. 1821, 1822. Als zweite Ausgabe
mit Zusätzen von Chr. J. Menke . Hannover 1824 u. 1832. Mit 2 Abb. Wien 1832.
344 Leschevin. Lentin.
Pulsation der dem Ohre naheliegenden Gefäße, sowie der Trommelf'ellarterien bedingt.
Die Pulsation der Arterienzweige in der Schnecke und den Bogengängen soll das
Ohrklingen veranlassen. Leidenfrost gab eine andere Erklärung. Nach ihm be-
ruht das Ohrenpfeifen auf einem Fehler der Ohrtrompete, das Ohrenklingen auf
Nervenreiz oder abnormer Pulsation der Arterien des Gehörorgans; das Ohrenbrausen
werde am häufigsten durch Gleichgewichtsstörungen der Gehörgangs und Trommel-
höhlenluft, Venenpulsation oder bisweilen durch Atrophie des Kinnbackengelenks
hervorgerufen.
') Abscessus auris intern, observatio. Upsal. 1796. Anatomische Bemerkungen
über die Durchbohrung der Apophysis mastoidea als Heilmittel gegen verschiedene
Arten von Taubheit. In der K. Schwed. Akad. d. Wissenschaft, neuen Abhandlungen
aus der Naturlehre. 1789. — 2) Diss. d. susurratione et tinnitu aurium. Francof. ad
Viadr. 1770. — 3) Diss. de tinnitu aurium. Duisb. 1787. Diss. de susurru aurium.
Duisb. 1785.
Leschevin und Lentin. Von größerem Werte sind die Abhand-
lungen Leschevins und Lentins, obwohl sie auch an dem großen
Fehler laborieren, daß die mangelnde diagnostische Kenntnis durch theo-
retische Erörterungen verdeckt wird. Am besten sind noch die Krank-
heiten des äußeren Gehörgangs dargestellt.
Leschevin (1732 — 1788), der eine anatomische Einteilung der
Ohraffektionen gibt, empfahl in seiner von der französischen Akademie
der Chirurgie im Jahre 1763 preisgekrönten Abhandlung *) zur Beseitigung
der häutigen Atresie an der äußeren Mündung des Gehörgangs kreuzweise
Durchschneidung mit einer Lanzette und Offenhalten mittels einer Wieke.
Sein Troikart zur Operation des häutigen Verschlusses des Gehörgangs
wurde noch von Velpeau empfohlen und verwendet*). Tieferliegende
Verschließungen, die sich durch Taubheit und Stummheit (!) manifestieren,
sollen aufgeschnitten und durch eingebrachte Körper offen gehalten
werden. In anderen Fällen wandte er Aetzungen mit Höllenstein, Ein-
lagen von Darmsaiten etc. an; zur Entfernung der Polypen verwendete
er die Ligatur, das Messer, das Glüheisen und Aetzmittel.
Leschevin sieht als Ursache der Parakusis Willisii die Er-
schlaffung des Trommelfells infolge einer Lähmung des Hammermuskels an,
sei es durch Zerreißung der Sehne bei heftiger Erschütterung des Trommel-
fells, wie z. B. beim Niesen mit verschlossenem Mund und Nase, sei es
durch Zerstörung dieses Muskels infolge Trommelhöhleneiterung. Ein
Beweis für diese Annahme fehlt.
Charakteristisch für diese Zeit ist seine Behauptung, daß Zer-
reißungen des Trommelfells unheilbar seien und unheilbare Taubheit be-
wirkten. Daß er zum ersten Male ein künstliches Trommelfell in Vor-
schlag gebracht hat, wie Meyer**) behauptet, läßt sich aus seiner Arbeit
*) Bonnafont, Traite des malad, d, l'oreille. Paris 1860, p. 150.
**) Wilh. Meyer in Schwartzes Handbuch d. Ohrenheilk. II. Bd.
Leschevin. Lentin. 345
nicht entnehmen. Leschevin meint nur, daß das Trommelfell, falls es
bloß zur Abhaltung der äußeren Schädlichkeiten dienen würde, durch
eine künstliche Membran ersetzt werden könnte. Da aber das Trommel-
fell auch anderen wichtigen Zwecken diene, so wären diese Bemühungen
fruchtlos.
Die subjektiven Geräusche bei Tubenverschluß erklärt Leschevin
aus der Verdünnung der Trommelhöhlenluft, nimmt jedoch merkwürdiger-
weise an , daß hierdurch das Trommelfell in den Gehörgang hinein-
getrieben werde. Die Behauptung Meyers, Leschevin hätte das Ein-
sinken des Trommelfells bei Tubenverschluß schon gekannt, ist somit
unrichtig. Er wußte, daß venerische Geschwüre des Rachens und der
Nasenhöhle durch die Tube die Trommelhöhle infizieren können. Die
damals schon längst bekannten Einspritzungen durch den Tubenkanal
machte er mit einem gekrümmten anatomischen Tubulus bloß an Leichen.
Die größte Schwierigkeit bei Trommelhöhlenerkrankungen besteht nach
ihm darin, eine bestimmte Diagnose aufzustellen und überhaupt zu er-
kennen, ob die Trommelhöhle affiziert sei. Interessant ist, daß Lesche-
vin die Vermutung ausspricht, bei Ausfall der tiefen Töne sei die Basis
der Spiralplatte, bei Ausfall der hohen Töne die Spitze erkrankt. Wenn
wir auch heute gerade das Umgekehrte annehmen, so hatte doch Lesche-
vin als erster die Idee, diesen Ausfall der Töne verschiedener Höhe für
die Diagnose von Labyrintherkrankungen zu verwerten. Uebrigens hielt
sie Leschevin für eine Hypothese, die durch keine auch noch so genaue
Beobachtung bewiesen werden könne.
Akute Ohrenkrankheiten konnten noch symptomatisch durch all-
gemeine oder lokale antiphlogistische Prozeduren behandelt werden. Der
Mangel rationeller Diagnostik verriet sich aber sofort, wenn es sich um
chronische Ohraffektionen handelte. Recht deutlich zeigt sich dies in
der preisgekrönten Abhandlung2) Lentins, der sich sogar zu Hypothesen
über die krankhaften Veränderungen der Aquula Cotunni und deren
Heilung verstieg. Gurlt zählt Lentin zu den ersten Förderern der
wissenschaftlichen Ohrenheilkunde in Deutschland, weil er in richtiger
Einsicht eine enge Anlehnung an die Errungenschaften der Anatomie und
Physiologie inaugurierte. Doch verdient Lentin dieses Lob in keiner
Weise. Seine Theorien galten ihm als Grundlage für die Verwendung
der schon von Fonseca (Consult 58, Tom. II) und Laz. Rivieri (Prax.
med. Lib. III, c.) empfohlenen Merkurialsalbe. — Als ein Kuriosuni unter
den von Lentin aufgestellten Hypothesen sei seine Erklärung der Para-
kusis Willisii erwähnt, nach der die Ampullen durch die Erschütterung
mit der knöchernen Labyrinthwand in Berührung kommen und den vom
Knochen zugeleiteten Schall besser aufnehmen.
In der Benützung der Methoden und Operationen Wathens, Cle-
346 ^ur Literatur des 18. Jahrhunderts.
lands, Jaspers u. a. zeigt Lentin sich sehr zaghaft; zur Reinigung
der verstopften Tube verwendete er eine silberne Sonde , die in eine
kleine, mehrfach durchlöcherte Platte auslief. Sie wurde mit einem
Stück Schwamm oder magerem Kalbfleisch armiert und an die Mün-
dung der Tube gebracht. Indem er das Schwammstückchen mit Seifen-
tinktur, Spießglanzwein oder Quecksilberauflösung durchtränkte, konnte
er die Tubenöffnung reizen und von angesammeltem Schleim befreien.
Er benützte ferner den Ohrkatheter zum Eintreiben von erwärmter Luft,
was immerhin hervorgehoben zu werden verdient, weil seine Vorgänger
und unmittelbaren Nachfolger, Cleland ausgenommen, ausschließlich
Flüssigkeiten zu ihren Injektionen verwendeten.
Schließlich sei mitgeteilt, daß Lentin durch folgende Experimente,
den Verschluß der Tube festzustellen suchte. Er füllte den äußeren Gehör-
gang mit lauwarmem Wasser, ohne daß etwas überlief. War eine Per-
foration im Trommelfell vorhanden, so sickerte das Wasser nach einiger
Zeit durch. War ein Loch im Trommelfell und die Tube nicht ver-
stopft, so sah er Luftblasen aufsteigen, wenn der Patient bei Verschluß
von Mund und Nase kräftig ausatmete. War das Trommelfell unverletzt
und die Tube durchgängig, so lief durch die in die Trommelhöhle ein-
gepreßte Luft ebensoviel von dem eingefüllten Wasser aus dem Gehör-
gange über, als das Trommelfell nach außen getrieben wurde. War aber
die Tube verschlossen, so blieb das eingefüllte Wasser unbeweglich stehen.
*) Memoire sur la theorie des nialadies d. l'oreille, et sur les ruoyens, que la
Chirurgie peut employer pour leur curation Memoires sur les sujets proposes pour
les prix de l'Academie Royale de Chirurgie. Nouv. edit. Tome IV, p. 67 sqq. (1776).
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348 Die Ohrenheilkunde bei den Chinesen und Japanern.
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Anhang.
Die Ohrenheilkunde bei den Chinesen und Japanern.
China.
Der Versuch, eine Geschichte der Ohrenheilkunde der Chinesen zu schreiben,
stößt schon deshalb auf nicht geringe , man könnte sagen , fast unüberwindliche
Schwierigkeiten, weil uns nur spärliche Quellen (vor allem keine chinesisch ge-
schriebenen) zur Verfügung stehen. So ist uns weder das noch erhaltene älteste
medizinische Werk Nuy-kim (Neiszin, Heidsin) zugänglich, das dem chinesischen
Kaiser Huang-Ti (2637 v. Chr.?) zugeschrieben wird, wahrscheinlich aber Jahrtausende
später entstanden sein dürfte, noch die pharmakologische Arbeit des Kaisers Chin-
nong (2699 v. Chr.?), noch sind es die unter der D-zuwidynastie (610 n. Chr.) er-
schienenen medizinischen Lehrbücher.
Die bloß auf Ueberlieferung beruhende Anatomie des menschlichen Körpers
ist verworren und unrichtig, da die Chinesen eine unüberwindliche Scheu vor der
Leicheneröffnung hatten. Allgemein war die Annahme verbreitet, daß das Ohr zum
Blutgefäßsystem , den Brust- und Baucheingeweiden , vor allem dem Urogenital-
system in näherer Beziehung stehe, eine Annahme, die sich nur dadurch erklären
läßt, daß die Chinesen nicht einmal von den grobanatomischen Organen und ihren
Funktionen richtige Vorstellungen besaßen. Aus dem Wust der Mitteilungen jener
europäischen Autoren, die über China und seine Medizin schrieben, lassen sich
nur spärliche Stellen herausfinden , die für den Otologen von Interesse wären.
Kinige absonderliche Notizen finden sich zerstreut in dem von Cleyer (1862) ver-
öffentlichten Traktat*), dem wir folgendes entnehmen. Wenn bei lebensgefährlichen
Erkrankungen in Ohren, Augen, Mund und Nase eine schwarze Färbung (?) ge-
funden wird, so entrinnt dem Tode keiner von zehn. Ferner: „Ist das untere
Augenlid bläulich gefärbt und werden es auch Ohren und Nase, so zeigt dies den
*) Andr. Cleyer. Specimen medicinae Sinicae, sive opuscula medica ad
mentem Sinensium, Francof. 1682 in dem Abschnitte „Ex examine colorum apparentium
de morbis vitae et mortis indiciis Carmen", p. 46.
Die Ohrenheilkunde bei den Chinesen.
349
Tod an," und an anderer Stelle: „Aegroti aures, oculi, nares, os si sint nigra et
nigredo linguani inficiat, omnino moritur" (p. 56), oder eine Stelle in dem oben
zitierten Kodex Nuy-kim, wo eine Beziehung der fünf Hauptorgane (Leber, Herz,
Milz, Lunge, Niere) mit den fünf Elementen (Wind, Wärme, Feuchtigkeit, Trockenheit,
Kälte) hergestellt wird, in der es heißt, daß die Nieren über die
Ohren herrschen (renes dominantur auribus, Cleyer, 1. c. p. 87)
und daß die Ohren die Fenster der Nieren sind (fenestrae sunt aures,
1. c. p. 87). Ebenso dunkel ist folgende Stelle in der Beschreibung der
Zirkulation des Blutes und „Spirituum devehentium humidum radicale
et calorem primigenium" : „Ramus hujus a pericardio sursum pergit,
ad colli juncturam cum humeris et inde ad aurium posteriorem
partem et genus et caput. At alter ramus ex loco aurium posteriori
jam dicto intrat ipsam aurem et prodit ad partem aurium an-
teriorem etc." oder „Fellis via diminuti caloris initium ducit ab
oculis sursum ad caput ascendens, inde descendens post aures ad
guttur et humeros". (Nach den latein. Uebersetzungen Cleyers aus
dem Chinesischen, 1. c. p. 97.) Diese Ansicht von einer Beziehung der
Galle zum Ohre*), wie sie im letzten Satze ausgesprochen wird, ist
auch im Altertum bei den indogermanischen Yölkerrassen zu finden und
hat sich im ganzen Mittelalter bis in den Beginn der Neuzeit erhalten.
Die Behandlung der Ohraffektionen erhebt sich nicht über die
bei den Naturvölkern übliche (S. 10). In den „Medicamenta sim-
plicia, quae a C'hinensibus ad usum Medicinae adhibentur" (Cleyer,
1. c.) wird das Mittel „M-äm" oder „Muon kirn cü" zur Schärfung
des Gehörs empfohlen. Dasselbe gilt von der Pflanze Kin-the-Goil
(saxifraga sarmentosa) , deren Saft nach Mitteilung des Missionärs
Abbe Hui als Einträufelung angewendet wird.
Einen interessanten ethnographischen Beitrag zur Geschichte
der Ohrenheilkunde in China liefert H. Sloane in den „Philo-
sophical Transactions, Vol. XX, p. 389—392", indem er an der Hand
einer beigegebenen Tafel eine Reihe von in China gebrauchten In-
strumenten beschreibt.
Sloane bemerkt einleitend, daß diese Instrumente teils zur
Entfernung einer „Substance" (Cerumen?) aus dem Ohre, teils zum
Kitzeln und Kratzen, einem bei den Chinesen sehr beliebten Ver-
gnügen, dienen ').
Die abgebildeten Instrumente sind : Eine Perle an einer
Schweinsborste befestigt; eine kleine Schlinge aus gewundenem Silber-
drabt, ein abgeplatteter Silberdraht, alle an zierlichen Handgriffen
aus Schildkrot befestigt. Ferner Pinsel aus Schweinsborsten oder
Eiderdunen, endlich die beiden abgebildeten scharfen Häkchen aus
Silber (Fig. 16), an Griffen aus Schildkrot befestigt, von denen
Sloane sagt, daß sie den in Europa gebrauchten Ohrhäkchen sehr
nahe kämen2). Auf der beigegebenen Tafel befindet sich auch die
Abbildung eines Chinesen, der sich mit einem solchen Instrument im
Ohre kitzelt und dessen Wohlbehagen sich in seiner Miene aus-
drückt (Fig. 17).
*) Vielleicht ist diese Relation dadurch entstanden, daß so-
wohl Gallen- und Ceruminalsekret einen bitteren Geschmack besitzen.
Fig. 16.
350 Die Ohrenheilkunde bei den Japanern.
Sloane fügt hinzu, daß diese Gewohnheit sehr schädlich sei und die Disposition
zu Ulzerationen und Exsudationen gebe.
') Those contrived for the taking any Substance out of the Ears, or for the
skratching or tickling them , which the Chinese do account one of the greatest
pleasures. 1. c. p. 391. — 2) Very much resembling our common European Ear-pickers,
being of Silver set in Tortois-Shell. ibid.
Japan.
Viel besser unterrichtet sind wir über die Ohrenheilkunde bei den Japanern, was
wir vor allem dem Professor der Ohrenheilkunde an der Universität in Fukuoka
(Japan), Dr. Ino Kubo, verdanken, der eingehende Studien über die alte Ohren-
heilkunde in Japan unternommen hat. Nachstehende Mitteilungen stützen sich
vornehmlich auf Kubos einschlägige Arbeit, die er mir in liebenswürdigster Weise
zur Verfügung stellte. Sie beziehen sich auf einen Zeitraum, der bis an das Ende des
17. Jahrhunderts hineinreicht. Die älteste japanische Medizin, somit auch die Otiatrie,
war unleugbar von den chinesischen medizinischen Lehren abhängig. Europäischer
Einfluß machte sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts geltend.
Mangels jeder anatomischen Zergliederung menschlicher Leichen war die
Kenntnis vom Bau des Gehörorganes recht dürftig. Die Japaner unterschieden ein
„ äußeres Ohr", ein „Ohrloch" (äußerer Gehörgang) und einen „Ohrgrund", worunter
sie die im Schädel verborgenen Partien des Gehörorgans verstanden. Am äußeren
Ohre, das sie am besten kannten, wendeten sie dem Tragus (Kornimi = Oehrchen),
der als Austrittsstelle des Gesichtsnerven angesehen wurde, und dem Ohrläppchen
(Mimitabu), das ebenso wie der Tragus eine große Rolle in der Phrenologie spielte,
ihr besonderes Interesse zu. Später lernten sie auch das Trommelfell (Jji-shogen)
kennen , das sie als eine dünne, einem Bambushäutchen ähnliche , bloß beim Hören
gespannte, sonst aber erschlaffte Membran beschrieben.
Als ätiologische Momente der Ohrenkrankheiten galten den alten Japanern
die Affektionen des Urogenitaltraktes (an dessen Zusammenhang mit dem
Ohre sie glaubten, „Jinkyo"theorie), ferner allgemeine Erschöpfungszustände, hervor-
gerufen durch Exzesse in venere , alle akuten fieberhaften Erkrankungen , und Er-
kältungen, bei denen die Kälte den Gefäßen entlang ins Ohr eindringen soll. (Ohren-
sausen entsteht dadurch, daß diese eingedrungene Kälte mit dem „Lebenssäfte" in
Kampf gerät.) Itasaka*) hielt auch noch Blutstauung im Kopfe für ein ursäch-
liches Moment und betrachtete als Ursache mancher Otorrhöen bei Säuglingen das
Zurückbleiben schmutzigen Bade wassers im Ohre**). Sö-ke-tei erwähnte in seinem
um das Jahr 1700 n. Chr. erschienenen Lehrbuche „Jji sho-gen" auch die habituelle
Obstipation in der Aetiologie der Ohrerkrankungen.
Als Hauptsymptom der Ohrenleiden galt die Schwerhörigkeit oder Taubheit,
die man mit dem Namen „Mirni-shii" oder „Tsumbo" (wörtlich Gehörlosigkeit) be-
zeichnete. Dazu gesellten sich als weitere Symptome: Ohrenschmerzen, Ohren-
sausen, Sekretausfluß, Fieber, Kopfschmerzen, Schweiß, Polypenbildung, Funkensehen,
Schwindel etc.
Das Symptomenbild des Schwindels war schon frühzeitig (Kushi-moto in seinem
Buche Okugi-shu 1534) genau beschrieben worden und man unterschied zwei Arten:
1. „Fu-gen" (Luftschwindel), bei welchem ein Gefühl der Schwere im Kopfe und
*) Eine Kinderheilkunde vom Jahre 1700.
**) Vergl. Pins, Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 26.
Die Ohrenheilkunde bei den Japanern.
351
Schwindelerseheinungen, wie bei Schiff- und Wagenfahrten und 2. „Kikyogen" (Er-
schöpfungsschwindel), bei dem Bewußtseinsverlust eintrat.
Seisen*) unterschied zwischen klarer und eitriger Sekretion. Es scheint
jedoch, daß man damals die wirklichen Mittelohreiterungen mit der Furunkulose
des Gehörgangs und mit der Ohrenschmalzsekretion zusammenwarf. Allerdings hatte
man schon im Jahre 1300 nach
Chr. die Ohrenschmalzsekretion,
so lange sie keine Gehörsstörung
hervorrief, als einen physiologi-
schen Vorgang erklärt.
Die pathologische Eiter-
sekretion wurde als „Grund-
eiter" bezeichnet, indem man an-
nahm, daß der Eiter vom Ohr-
grunde komme. Auch der blutige
Eiter war bereits bekannt. Ueber-
haupt wurde die Farbe (weiß, rot
und gelb) und der Geruch des
Sekrets genau beobachtet. Ebenso
waren Fälle von Mastoiditis mit
Fistel bildung hinter dem Ohre,
speziell bei Säuglingen, beschrie-
ben. Der berühmte Manasse
Dos an hatte ferner in seinem
Buche „Ten-sho-ki" (erschienen in
Jedo 1583) das Retentionsfieber
bei eitrigen Otitiden genau ge-
schildert**).
Gut beobachtet waren die
verschiedenen Abarten des Ohren-
sausens, das man mit dem
Rauschen fließenden Wassers, mit
dem Zirpen der Zikaden oder mit
Glockenschlägen verglich. Auch
kannte man die Polypenbildung
im Ohre und nannte die Polypen
„Ohrenpilze'' („Mimitake ")***)
oder „Ohrenhärnorrhoid" („Ji-
ji")t>.
Obgleich in der alten Zeit die einzelnen Symptome vielfach als Krank-
heiten sui generis betrachtet wurden , so begann man schon damals verschiedene
Krankheitsbilder auf Grund ihres Symptomenkomplexes mehr oder weniger scharf
*) „Man-an-po" (1315 n. Chr. erschienen).
**) Der betreffende Passus lautet: Ein 12jähriger Page litt an Ohrenschmalz-
und eitrigem Ausfluß. Wenn der Eiter auszufließen aufhörte, so stieg das Fieber
gegen Abend und der Patient bekam heftige Kopfschmerzen und Schweißsekretion.
***) In „Kaminei-Ikoku".
f) Zur Entfernang von Nasenpolypen wurden Schnurschlingen verwendet
(„Kato-oka").
osj2 Die Ohrenheilkunde bei den Japanern.
zu sondern; so z. B. brachte Tamba Jasuori*) mit Berufung auf einen alten
chinesischen Arzt namens „Kato" die Taubheit (besser gesagt die Ohrerkrankungen)
in 5 verschiedene Kategorien und unterschied: 1. „Fu-ro" (Erkältungstaubheit) mit
heftigen Schmerzen, 2. „Ro-ro" (Erschöpfungstaubheit) mit gelbem Eitersekret und
hochgradiger Erschöpfung, 3. „Kan-rou (trockene Taubheit) mit Ohrenschmalzpropfen,
4. „Kyo-ro" (leere Taubheit) mit Ohrensausen („Shu-shu"), 5. „Te-ro" (eitrige Taubheit)
mit Eitersekretion. Diese verschiedenen Kategorien lassen sich annähernd mit ver-
schiedenen heute gut charakterisierten Krankheitsbildern in eine Parallele bringen.
So darf man vermuten, daß „Fu-ro" die Otitis media acuta bezeichnet, „Ro-ro* die
Otitis media tuberculosa, „Kan-ro" Ceruminalpfropfen , „Kyo-ro" vielleicht die Oto-
sklerose oder auch verschiedene primäre Erkrankungen des schallperzipierenden
Apparates, und „Te-ro" die chronischen eitrigen Mittelohrentzündungen, möglicher-
weise auch die Otitis externa circumscripta.
Die Furunkulose des Ohres wurde damals mit den Eiterungen des Mittelohres
zusammengeworfen ; doch wußten die alten japanischen Aerzte, daß manche mittels
Tamponade behandelten Ohreiterungen dann eine günstige Prognose geben , wenn
ein „weißer Wurm" (der Eiterpfropf des Gehörgangsfurunkels) abgehe. Das Krank-
heitsbild der chronischen polypösen Mittelohreiterung scheint damals bereits bekannt
o-ewesen zu sein, wie sich aus der Schilderung eines Symptomenkomplexes im Buche
„Sen-kin-po" (1315 n. Chr.) ergibt. Es handelt sich dort um hohes Fieber, heftige
Schmerzen, blutig-eitrigen Ausfluß, Schwerhörigkeit und Polypenbildung.
Als prognostisch günstig betrachtete man die Ceruminalansammlungen,
Fremdkörper, Hörstörungen bei wahrscheinlich hysterischer Ohrerkrankung und Ge-
hörgangsfurunkulose, als prognostisch ungünstig die durch Körpergifte (Lues?) hervor-
gerufenen Ohraffektionen.
Die große Menge der therapeutischen Methoden beruhte auf bloßer Empirie.
Daneben existierte eine Art kausaler Behandlung, die aus der oben erwähnten
„Jinkyo"theorie hervorgegangen war. Man bekämpfte nämlich die Erkrankungen
des Urogenitaltraktes, durch die man sich die Hörstörungen hervorgerufen dachte.
Außerdem wurden zahlreiche innere Mittel angewendet, wie Abführmittel, Eisen-
präparate, Magnesiumnitrat, verschiedene Pflanzendroguen wie Zwiebel, Pfingstrose,
Datteln, Glycyrrhiza glabra (Linne) , Ingwer (Zingiber officinale), Dioscorea japonica
(Thumb.), Acorus calamus, Aralia quinquefolia, Rhabarber, Bambusblätter etc., ferner
Schafnieren und Karpfenhirn.
Bei eitrigen Erkrankungen des Ohres wurde das Sekret mit dem weichen
japanischen Papier abgetupft und sodann das kranke Ohr entweder mit Tampons
oder mit Instillationen oder endlich durch Einblasen verschiedener Pulver und durch
Anwendung von Dämpfen (Vaporisation) behandelt. Zur Tamponbehandlung wurden
kleine, nach Art von Suppositorien geformte Einlagen verwendet, die aus einer
teigigen Masse verfertigt waren. Sie bestanden gewöhnlich aus Wachs, Kieferharz,
Wildschweinspeck, Hanföl, Krotonöl und Essig**). Diesem Teige wurden verschiedene
gepulverte Substanzen beigemischt, z. B. Mandelkerne, Pfirsichkerne, Kochsalz, Magnet-
eisen, Brassica cernua Thumb., Acorus calamus, Haarasche, Rhus etc. Die so be-
reiteten Suppositorien wurden dann mit Watte umwickelt und in den Gehörgang
eingeführt. War die Masse zu hart geworden, so wurde sie vor dem Gebrauche
erwärmt. Außer den beschriebenen Suppositorien wurden auch einfache Watte-
i „I-shein-po" (erschienen 982 n. Chr.).
**) „Senkinpo" : Hier wird eine Teigmasse angegeben, die aus gleichen Teilen
Acorus calamus und Brassica cernua oder aus Brassica cernua mit Milch besteht.
Die Ohrenheilkunde bei den Japanern. 353
tampons verwendet, die entweder in drei Jahre altern Essig oder in öligen Lösungen
verschiedener Medikamente getränkt waren. Diese Methode ähnelt sehr der auch
heute noch bei der Furunkulose geübten.
Zu Instillationen wurden verschiedene flüssige Substanzen verwendet, so z. B.
Lösungen von Moschus in Hanföl, der Preßsaft von Radix acori gravinei mit Moschus-
zusatz, reines Hanföl und warmer Essig. Bei eitrigen Erkrankungen wurden auch
vielfach Pulvereinblasungen nach dem Abtupfen des Sekretes gemacht, eine Methode,
die man etwa mit der heute üblichen Trockenbehandlung der Mittelohreiterungen
vergleichen darf. Von derartigen Pulvern sind zu erwähnen: Alaunpulver, eine
Mischung von Schwefel und Alaun („Kwa-ta-ho"), Knochenasche (besonders von Fischen),
eine Mischung von Steinsalz, Alaun und Blütenstaub. Diese Pulver wurden mit dem
Munde durch ein Bambusröhrchen eingeblasen.
Umschläge scheint man damals nicht gekannt zu haben. Dagegen hat man
die Behandlung des Ohres mit Wasserdämpfen vielfach geübt und merkwürdiger-
weise wurde dem kochenden Wasser Karpfenhirn zugesetzt. In dem Buche „Sen-
kin-ho" wird auch eine besondere Behandlung mit Schlammkuchen angegeben, die
etwa der heutigen Fangotherapie vergleichbar ist. Man bereitete aus einem
Schlammteig eine kleine Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Diese Scheibe wurde
in feuchtem Zustande auf das kranke Ohr gelegt und über dem Loche 100 Stück
Moxen abgebrannt. Sobald die Schlammscheibe trocken war. wurde sie durch eine
frische ersetzt.
Ueber Kältebehandlung findet sich in der alten japanischen Literatur keine
Angabe. In fast allen alten Handbüchern wird eine spezifische Methode für die
Beseitigung von verhärteten Ceruminalpfröpfen erwähnt. Es wurde nämlich zu
deren Erweichung der Preßsaft von Regenwürmern oder eine mittels eines besonderen
Verfahrens aus Regenwürmern extrahierte Flüssigkeit in das Ohr eingeträufelt.
Im „Sen-kin-ho" wird eine interessante Magnettherapie mitgeteilt, die ebenso
wie die heutige Metallotherapie bei hysterischer Taubheit nur suggestiv gewirkt zu
haben scheint. Ueber eine sogenannte magnetische Durchleitungsmethode („Tsu-ji-ho")
berichtet auch der berühmt»' Manasse Dosan*),
Vor der Einführung der Elektrizität in die Therapie kam der Moxen-
behandlung eine sehr große praktische Bedeutung zu. Sie wurde in Japan vor-
züglich bei funktionellen Ohrerkrankungen angewendet und hat, wie es scheint, in
vielen Fällen gute Erfolge erzielt. Die Moxen waren kleine Kegel, oder Zylinder
aus leicht brennbaren Pflanzenfasern, die auf der Haut abgebrannt wurden. Als
Wirkung dachte man sich eine Ableitung von den tiefer gelegenen Organen nach
der Oberfläche. Mit großer Sorgfalt berücksichtigte man bei der Indikationsstellung
für die Moxenbehandlung den Ort der Applikation der Moxe. der für die ver-
schiedenen Formen der subjektiven Geräusche und der Schwerhörigkeit ein ver-
schiedener war
Zur Entfernung in das Ohr eingedrungener Insekten, wie Mücken, Ameisen,
Schnecken, wurden verschiedene Mittel angewendet, die den Zweck hatten, die In-
sekten herauszutreiben oder anzulocken. Die beliebtesten derartigen Medikamente
waren neben warmem Wasser, der Preßsaft verschiedener Pflanzen, wie Allium odorum
(„Mira"), Ingwer. Lactuca Thumbergiana maxima („Migana"). Zwiebelsaft, ferner
) .Manasse Dosan: „Kei te-ki-shu" 1573.
Larrey (Recuil de mein, de Chir. 1821) will durch Anwendung japanischer
Moxen in der Umgebung des Ohres bei rheumatischen Fazialislähmungen gute Er-
folge erzielt haben.
Politzer, (M'sehidilr der ( ihrenhcilkuinle. 1. 23
354 Die Ohrenheilkunde bei den Japanern.
warmer Essig, Hanföl, Quecksilber, Menschenharn. Eselsmilch, Kuhmilch, das Blut
aus Hahnenkämmen etc. . . .
Zum Anlocken der in den Gehörgang eingedrungenen Tiere wendete man
allerhand sonderbare Methoden an, wie z. B. das Vorhalten eines Lichtes vor das
Qhr, das Aneinanderschlagen von Messerklingen oder die Einführung verschiedener
Riechstoffe (Sesamium indicum L.). Zur Entfernung unbelebter Fremdkörper übte man
einen Kunstgriff, den schon die Araber kannten und auch heute noch in manchen
Fällen benützt wird (L.). Es ist dies das Ankleben des Fremdkörpers mittels eines
Klebestoffes und das nachträgliche vorsichtige Extrahieren, nachdem der Klebestoff
trocken geworden ist. Auch wurden mitunter die Fremdkörper mittels eines Bambus-
rohres herausgeblasen, ein Verfahren, das sich etwa der heute geübten Ausspritzungs-
methode vergleichen läßt.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Das 19. Jahrhundert eröffnet der medizinischen Wissenschaft eine
neue Aera, die sie der induktiven Forschungsmethode verdankt, die
auf allen Gebieten der Naturwissenschaft zum Durchbruch gelangt. Zu-
nächst sind es die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Anschluß
an die Fortschritte der technischen Untersuchungsmethoden eine rapide
Entwicklung erkennen lassen. Dank der verbesserten mikroskopischen
Technik wird die Anatomie den Anregungen Bichats folgend durch die
Histologie bereichert. Die Zellenlehre, die Embryologie und vergleichende
Anatomie nehmen einen ungeahnten Aufschwung. Die Lehre von den
Lebensvorgängen, die biologische Forschung, wird von hervorragenden
Forschern durch das Experiment begründet. Magen die, Flourens,
Ch. Bell, Marshall Hall, den Brüdern Weber und vor allem Johannes
Müller gebührt der Ruhm, die Physiologie auf experimenteller Grund-
lage neu aufgebaut zu haben.
Die Medizin im engeren Sinne erhebt sich erst im vierten Dezennium
des Jahrhunderts auf ein streng naturwissenschaftliches Niveau , nach-
dem durch die pathologisch-anatomischen Leistungen Cruveilhiers,
Rokitanskys und Virchows das Fundament für die, durch Corvisart,
Laännec und vor allem durch Skoda inaugurierte physikalische Dia-
gnostik geschaffen worden war.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt be-
dauerlicherweise nicht gleichen Fortschritt mit den übrigen Disziplinen
der Medizin. Wohl eröffnen auch hier die anatomischen und physiologi-
schen Leistungen Soemmerrings, Breschets, Huschkes, Flourens'
und Johannes Müllers neue Perspektiven, allein mangels einer grund-
legenden pathologischen Anatomie verharrt die Otiatrie noch lange auf
dem Standpunkte der empirischen Symptomatologie. Man würde aber
zu weit gehen, wollte man jeden Fortschritt in der Otiatrie in dieser
Periode in Abrede stellen. In erster Linie ist es Frankreich, wo sich
die Ohrenheilkunde zuerst zum Spezialfach entwickelte, welches durch
den verdienstvollen Itard, durch Saissy, Deleau u. a. Autoren
vertreten wird. Die französischen Ohrenärzte pflegen die
klinische Beobachtung, bilden den' Katheterismus und die Luftdusche
weiter aus und bereichern durch die Auskultation die Untersuchungs-
356 Soemmeri-ing.
methoden. Die Engländer widmen sich vorzugsweise der klinischen
Symptomatologie und Praxis. In Deutschland verwertet wohl Kramer
die neuen physikalischen Untersuchungsniethoden für das Spezialgebiet,
aber er haftet in Ermanglung pathologisch-anatomischer Studien an der
empirischen Symptomatologie, ohne bis zu einer rationellen Begründung
der Pathologie und Therapie vorzudringen. Diese große Lücke auszu-
füllen, die Otiatrie auf Grundlage der pathologischen Anatomie zu einem
den übrigen Spezialfächern der Medizin ebenbürtigen Wissenszweige aus-
zubilden, war erst den Forschern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
vorbehalten.
Stand der Ohranatomie in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts.
Durch Cotugnos und Scarpas epochale Leistungen waren der
Ohranatomie neue Wege gewiesen worden. Man erkannte, daß ein
Aveiterer Fortschritt auf diesem Gebiete nur durch eingehende For-
schungen in der vergleichenden Anatomie, Embryologie und
Histologie des Gehörorgans zu erzielen sei. In der Tat sehen
wir gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zahlreiche Forscher bemüht, diese bisher vernachlässigten Gebiete zu
bearbeiten und namentlich die embryologischen und vergleichend- anato-
mischen Kenntnisse über das Gehörorgan Avesentlich zu erweitern. Eine
festere Grundlage erhielt dieses Forschungsgebiet durch die Arbeiten
Soemmer rings, der es verstand, die bisherigen Leistungen in der Ohr-
anatomie mit einer Reihe eigener Befunde zu einer übersichtlichen,
klaren und formvollendeten bildlichen Darstellung der Anatomie des Ge-
hörorgans auszugestalten.
Samuel Thomas Soemmerring, eine der interessantesten Gestalten
am Eingange des 19. Jahrhunderts, wurde am 25. Januar 1755 zu Thorn
in Westpreußen als der Sohn eines Arztes geboren. Nach 4 1 j jährigem
Hochschulstudium zu Göttingen wurde er im Jahre 1778 auf Grund
seiner Dissertation: De basi encephali et originibus nervorum cranio
egredentium libri V, Avelche die Aufmerksamkeit der Fachkreise auf den
jungen Gelehrten lenkte, zum Doktor promoviert. Durch Vermittlung
seines Landsmannes Georg Forster, den er auf seiner 1779 unter-
nommenen wissenschaftlichen Reise durch Norddeutschland, Holland und
England in London traf, erhielt er eine Lehramtsstelle für Anatomie und
Chirurgie am Carolineum in Kassel, von avo er nach fünfjähriger Lehr-
tätigkeit als Professor der Anatomie und Physiologie an die Mainzer Hoch-
schule berufen Avurde. Hier war er mit einigen Unterbrechungen 12 Jahre
Tafel XVIII
SAMUEL THOMAS SOEMMERRING
Soemmerring. 357
hindurch tätig. Nach seiner Entlassung im Jahre 1797 unterbrach ei-
serne akademische Laufbahn, um in Frankfurt als vielgesuchter praktischer
Arzt zu wirken. Erst nach dem Tode seiner Frau folgte er einem Rufe
nach München (1804), wo er Mitglied der Akademie der Wissenschaften
wurde. Hier beschäftigte er sich viel mit physikalischen Studien und
erfand den elektrischen Telegraphen, dessen allerdings primitiven Apparat
er am 27. August 1809 der Akademie demonstrierte. Historisch ist dem-
nach Soemmerring als der Erfinder des elektrischen Telegraphen anzu-
sehen. Im Jahre 1820 verließ er München und suchte Frankfurt wieder
auf, wo er den Rest seines Lebens in ununterbrochener Avissenschaft-
licher Tätigkeit verbrachte. Zwei Jahre nach seinem 50jährigen Doktor-
jubiläum, das unter anderem durch Stiftung eines Soemmerringschen
Preises für die besten Leistungen in der Physiologie gefeiert wurde, starb
er am 2. März 1830.
Zu den hervorragendsten Werken Soemmer rings zählt der unter
dem Titel „Icones organi auditus humani" 1806 in Frankfurt erschienene
Atlas zur Anatomie des Gehörorgans*), mit vortrefflichen, auch noch heute
mustergültigen Abbildungen. Den Anstoß zu diesem Werke gab ihm die
Aufforderung seines Freundes, des Hofrates Lichtenberg zu Göttingen,
für dessen Vorlesungen über die Naturlehre die menschlichen Hörwerkzeuge
vergrößert nachzubilden. Von dem Grundsatze ausgehend, daß man bei
anatomischen Abbildungen nicht genug genau und gründlich sein könne,
um sie möglichst der Natur nahezu bringen, stellte Soe mm erring die
eingehendsten Untersuchungen über den Bau des Gehörorgans an und
wählte nach Vergleichung der eigenen Präparate mit den vorzüglichsten
Abbildungen anderer Autoren wie Valsalva, Duverney, Brendel,
Cassebohm, Albinus, Cotunni, Meckel, Monro, Comparetti,
Scarpa, Wildberg diejenige Form für seine Abbildungen, die ihm
für das Studium der Ohranatomie und den Lehrzweck als die geeignetste
erschien. Nicht zum geringsten unterstützten ihn bei seinen schwierigen
Arbeiten das reichhaltige anatomische Theater in Mainz und die Beihilfe
des von ihm geschulten vortrefflichen Künstlers, des Professors Christian
Koeck, der die Modelle und Abbildungen unter der unausgesetzten Auf-
sicht und Leitung Soemmerrings verfertigte. Als endlich nach 13jährigem
rastlosen Fleiß die Abbildungen bei Var rentrapp und Wenner in
Frankfurt a. M. 1806 erschienen, fand das Meisterwerk die ungeteilt«'
Bewunderung aller Fachkreise.
Sämtliche Abbildungen, für die Soemmerring ausschließlich das
*) Das Werk erschien auch deutsch: Abbildungen des menschlichen Hör-
organes, Frankfurt a. M. 1806. — Ferner gab J. F. Schröter nach dem Vorbilde
Soemmerrings „Das menschliche Ohr nach Abbildungen des Herrn Geheimen Rates
Soemmerring. mehr vergrößert dargestellt und beschrieben" (Weimar 1*11) heraus.
358 Huscbke.
linke Ohr benützte, sind auf 5 Tafeln in anatomischer Reihenfolge ver-
teilt. Die erste Tafel enthält die Abbildung des äußeren Ohres,
der Muskeln und des Zusammenhanges des äußeren Ohres mit dem Ge-
hörgang, den Gehörknöchelchen und dem Labyrinthe. Auf der zweiten
Tafel findet sich die Darstellung der in der Trommelhöhle enthal-
tenen Gebilde, sowohl in ihrer natürlichen Verbindung als auch einzeln
außerhalb derselben. Auf Figur 21 dieser Tafel erscheint das Liga-
mentum incudis posterius gut abgebildet. Ferner ist hier zum ersten
Male das obere Hammerband beschrieben (Fig. 20 a und b und S. 14).
Auf der dritten Tafel folgen dann vorzügliche Abbildungen des Laby-
rinthes. Die vierte Tafel liefert die minder wesentlichen Teile, die
Arterien des Gehörorgans, die Hautnerven des äußeren Ohres, Profil-
durchschnitte der Schnecke etc. Fig. 4 dieser Tafel zeigt bereits einen
wertvollen Abguß des äußeren Gehörgangs und seiner spiraligen Form,
wie sie später in ausführlicher Weise von Hyrtl und Bezold beschrieben
wurde. Hervorzuheben ist auch noch Fig. 3, welche die Krümmung des
äußeren Gehörgangs im horizontalen Durchschnitt in einer Richtigkeit
demonstriert, wie man es auch in den Werken jüngeren Datums nicht
besser findet. Hier sieht man ferner bereits die später von Troeltsch
hervorgehobene Tatsache, daß sich die Ceruminal- und Balgdrüsen des
Gehörgangs vom Knorpelteile gegen die hintere obere Wand des knöcher-
nen Gehörgangs in Form eines dreieckigen Zwickels fortsetzen. Endlich
ist in Fig. 14 der später von Rosenthal beschriebene Schraubenkanal
der Spindel (Can. spir. s. ganglionaris) in seiner unteren Hälfte dar-
gestellt. Die fünfte Tafel zeigt die festen knöchernen Hauptteile des
Gehörorgans so, wie sie sich nach vollkommener Ausbildung des Schädels
am Erwachsenen hinsichtlich ihrer Lage und Größe zum ganzen Schädel
verhalten.
In Soemm er rings „De corporis huniani fabrica"*) vermissen wir eine zu-
sammenfassende Bebandlung der Ohranatomie. Das Werk enthält in den verschie-
denen Abschnitten nur eine kurze Beschreibung einzelner Teile des Gehörorgans. So
finden wir im ersten Bande die „Organa auditus ossea", im zweiten die „Ligamenta
ossiculorum auditus", im dritten die Muskeln des Ohres, im vierten den Hörnerv und
im fünften die Gefäße des Gehörorgans beschrieben. Interessant ist sein Verfahren
zur anatomischen Darstellung der Verzweigung des Schneckennerven in der Schnecke.
Nach roher Präparation der Knochen und des Nerven wird das Präparat in verdünnte
Salpetersäure gelegt, wodurch die Knochensubstanz erweicht und abgelöst wird und
der Nervenverlauf im Modiolus und in der Lamina spiralis klar zu Tage tritt. Es
isi dies unseres Wissens der erste Kall einer chemischen Vorbehandlung des Gehör-
organs behufs anatomischer Untersuchung.
Emil Huschke. Einen würdigen Nachfolger in der Erforschung
des Gehörorgans fand Soemmerring in dem Jenaer Professor Emil
*) Traj. ad. Moen. 1794.
Tafel XIX
EMIL HUSCHKE
Huschke. 359
Husclike (1797 — 1858). Wir verdanken ihm nicht nur die Entdeckung
der nach ihm benannten Zona dentata in der Schnecke und anderer
anatomischer Details, sondern auch eine vorzügliche, durchwegs origi-
nelle Beschreibung des menschlichen Gehörorgans. Wir lernen in
Huschke einen feinen, selbständigen Beobachter kennen, dessen Neu-
bearbeitung des Soemmerringschen Handbuches als eine ganz mo-
derne Arbeit bezeichnet werden kann*). Diesem Werke entnehmen wir
die folgenden uns interessierenden Daten : Der Winkel, den das Trommel-
fell mit der Axe des Gehörgangs bildet, beträgt 55 °. Die Fasern der
Substantia propria des Trommelfells sind weder elastischer noch mus-
kulöser Natur (E. Home und J. Fr. Meckel), sondern sehnig. Die
konzentrischen (zirkulären) Fasern sind an der Peripherie am zahl-
reichsten, die radiären überschreiten den Hammergriff, sich unter spitzem
Winkel kreuzend. Außerdem gibt es noch schräge Fasern. Nicht nur
die Epidermis, sondern auch die übrigen Schichten der Haut gehen in
die äußere Lamelle des Trommelfells über, die frei von Drüsen ist; die
innere Schichte ist von einem Plattenepithel überzogen und enthält Blut-
gefäßnetze und Nervenschlingen.
Am vorderen, spitzeren, etwas nach abwärts geneigten Ende des
ovalen Fensters fand er eine kleine Furche, die gegen den Zwischen-
raum der ersten und zweiten Schneckenwindung und dem Halbkanal
des Trommelfellspanners gerichtet ist; ein Befund, den er durch die von
ihm angenommene Entstehung des Fensters als fontanellenartiger Rest
der Intervertebralspalte des vorderen und hinteren Felsenbeinteiles zu
deuten versucht. Der obere und hintere Rand des ovalen Fensters ist am
breitesten. Da sich die Steigbügelplatte bei der Kontraktion des Stapes-
muskels auf den hinteren und unteren Rand des Fensters stützt, wird
die Stapesplatte oben und vorn am stärksten nach außen gezogen. Die
innere, dem Vorhof zugewandte Fläche der Stapesplatte ist leicht ge-
wölbt.
Die Ohrtrompete fand Huschke doppelt gekrümmt. Von oben
betrachtet, bildet sie ein flaches S. Die Konkavität des knorpeligen
Teiles richtet sich nach innen und hinten, während die der knöchernen
Tube sich nach außen, vorn und unten kehrt. Gleichzeitig erscheint die
Tube dadurch um ihre Achse gedreht, daß die untere Fläche des knöchernen
Teiles beim Uebergange in den knorpeligen zur vorderen äußeren und die
obere zur hinteren inneren wird. Diese Formverhältnisse lassen sich nur
durch Korrosion der Tube mit Wachs oder leichtflüssigem Metall, nicht aber
am Mazerationspräparate feststellen. Die Oberfläche der Tube ist an der
*) S. Th. Soemmerring, Lehre von den Eingeweiden und Sinnesorganen des
menschlichen Körpers. Umgearbeitet und beendigt von E. Huschke, Leipzig 1844.
360 Huschke.
Mündung von Flimmerepithel überzogen, im knöchernen Teile von Pflaster-
epithel.
Huschke leugnet das von Pappenheim beschriebene elastische
Kapselbändchen zwischen Amboß und Linsenbein und hält letzteres bloß
für einen Fortsatz des Amboßes. Die drei Hammerbänder, die richtig
beschrieben werden, bewirken, daß der Hammer weder nach vorwärts,
noch mit seinem Kopf nach abwärts, sondern bloß an seinem Griffe
gleichmäßig gegen die innere Trommelhöhlenwand gezogen werden kann.
Der Muse, tensor tympani spannt einerseits durch Zug am
Manubrium das Trommelfell an, andererseits drückt er den Hammerkopf
auf den Amboß und somit den Steigbügel in das ovale Fenster, wodurch
eine Spannung der Vorhofsteile eintritt. Durch die Kontraktion
des M. stapedius wird nicht nur die Stapesplatte nach außen bewegt,
sondern auch gleichzeitig der absteigende Amboßschenkel nach rückwärts
gezogen ; wodurch der Amboßkörper und mit ihm der Hammer ebenfalls
nach außen rücken und das Trommelfell erschlafft wird*).
Die muskulöse Beschaffenheit des sogenannten M. laxator tym-
pani major (vorderes Hammerband) stellt er in Frage, für noch proble-
matischer hält er den kleinen Trommelfellerschlaffer. Er hat an seiner
Stelle bloß Bindegewebsfasern und gegen den Hammergriff absteigende
Blutgefäße gefunden, nie aber quergestreifte Muskelfasern.
An den Bogengängen, die er in einen oberen, einen hinteren
und einen äußeren teilt, beschreibt Huschke eine dreifache Krümmung,
eine Randkrümmung und eine doppelte Flächenkrümmung. Sie wenden
sich teils mit einer Fläche beider Schenkel nach derselben Seite hin
(C-förmige Flächenkrümmung), teils mit jedem Schenkel nach entgegen-
gesetzter Richtung (spiral- oder S-förmige Schenkelkrümmung), wo-
durch eine nach zwei entgegengesetzten Richtungen spirale oder viel-
mehr windschiefe Stellung der beiden Schenkel gegeneinander entsteht.
Außerdem wird jeder Bogengang für sich in ausführlichster Weise be-
schrieben und die Maße nach gelungenen Korrosionspräparaten mitgeteilt.
Auch die beiden Aquädukte werden nicht übergangen.
An der Schnecke beschreibt Huschke unter anderem ein Neben-
spiralblatt (Lamina spiralis accessoria) als sehr schmale Leiste,
*) Schon Bonnafont beschrieb im Jahre 1834 im Journal de Montpellier
(s. Schmidts Jahrbücher Bd. 8, S. 276) den Trommelfellspanner und den Steigbügel-
muskel als Antagonisten. Der Musculus stapedius zieht den Steigbügel nach
hinten und etwas nach außen. Dabei werden Amboß und Hammer mitbewegt und
zwar der Kopf des Hammers nach vorn, der Griff nach hinten und außen. Es ent-
spricht dies vollständig unserer heutigen Anschauung über die Mechanik der Binnen-
muskeln des Ohres. Huschke scheint aber von Bonnafonts Mitteilung keine
Kenntnis gehabt zu haben.
Huschke. 361
die in der ersten Hälfte von der äußeren Wand der ersten Windung
dem knöchernen Spiralblatt entgegenkommt. Genaue Messungen der
Höhe und Breite beider Schneckentreppen vervollständigen die deskriptive
Anatomie der Schnecke.
Nach Huschke ist das ganze knöcherne Labyrinth an seiner
inneren Oberfläche von einem zarten Häutchen überzogen, das aus zwei
Lagen besteht, einem äußeren periost- und einem inneren serosaähnlichen
Blatte, welch letzteres, von einem Pflasterepithel bedeckt, die Labyrinth-
flüssigkeit absondert. Die häutigen Bogengänge schweben frei in der
Rohre des knöchernen und werden an diese bloß durch zarte Fäden aus-
gespannt und festgehalten. Er weiß, daß die Vorhofsäckchen und Bogen-
gänge (Ampullen?) bloß zum Teil aus Nervensubstanz bestehen und
meint, daß sie als ektodermatische Bildungen anzusehen sind, keineswegs
aber als seröse Häute, für die man sie früher gehalten hat. Die an der
Eintrittsstelle der Nerven gegenüber den Siebflecken befindlichen Oto-
lithen hält er für eine Metamorphosierung der Oberhaut an dieser
Stelle. Sehr ausführlich ergeht er sich in der Beschreibung der Ohr-
kristalle. Am weichen Spiralblatt der Schnecke unterschied
Huschke eine knorpelige und eine häutige Zone. Die der Vorhofstreppe
zugewendete Fläche der knorpeligen Zone besitzt in der Nähe ihres
äußeren Randes eine hakenförmig nach außen gekrümmte Spiralleiste
(Crista spiralis acustica). An einem feinen Durchschnitt des knorpeligen
Spiralblattes sieht man demnach am äußeren Rande zwei Lippen und
zwischen beiden eine tiefe Furche (Sulcus s. Semicanalis spiralis), die
der Vorhofstreppe angehört. Von der Paukenlippe (Labium tympanicum)
geht die häutige Zone ab. Die nicht so weit vorspringende Vorhofs-
lippe, die frei in der Vorhofstreppe endigt, zeigt parallel nebeneinander-
stehende Zähne oder Warzen (Huschke sehen Zähne), die mit ihren
stumpfen Enden vorragen und von Treviranus irrtümlich für die als
Papillen endenden Nerven angesehen wurden. Huschke ist der An-
sicht , daß in der Vorhofslippe die eigentliche Tätigkeit der Schnecke
und des Spiralblattes ihren Hauptsitz hat.
Die häutige Spiralmembran zerfällt nach Huschke in einen
inneren, glatten, ungefalteten und einen äußeren, gefalteten oder ge-
faserten Teil. An der äußeren Grenze des ungefalteten Teils läuft
ein Streifen (Vas spirale) der Länge nach fort vom Anfang des Spiral-
blatts bis zum Trichter, weiter nach außen parallel mit ihm eine oder
mehrere Reihen gelblicher, unregelmäßiger Körperchen (C ortisches
Organ?)*). Der gefaserte Teil besteht aus durchsichtigen, von innen nach
*) Corti und Reisner weisen darauf hin, daß die Arbeiten Huschkes als
Vorstufe ihrer späteren Entdeckungen anzusehen sind.
362 Ev. Home.
außen ziemlich parallel nebeneinander nacli der Schneckenwand ver-
laufenden Fasern, die Huschke an die Fasern eines Zahnschliffs er-
innerten. Das membranöse Spiralblatt hat nach Huschke drei Lagen,
von denen die zwei oberflächlichen Fortsetzungen des Epithels, die
mittlere fibröse eine Fortsetzung des Periosts der Sckneckenwindung ist.
Die Membra n a t y m p a n i s e c u n d a r i a setzt sich aus drei
Schichten zusammen, von denen die äußere eine Fortsetzung der Trommel-
höhlenschleimhaut, die innere eine Fortsetzung der Trommelhöhlentreppen-
bekleidung und die mittlere fibrösen Charakters ist, eine Schilderung, die
mit der früheren von Ri'oes und und unserer heutigen Auffassung voll-
kommen übereinstimmt.
Huschke lokalisiert die Endolymphe bloß in die beiden Vor-
hofsäckchen und in die Bogengänge mit ihren Ampullen. Die Endo-
lymphe enthält nach seinen Untersuchungen mehr feste Bestandteile als
die Perilymphe. Merkwürdigerweise fand Huschke im Schnecken wasser
einzelne Kristalle, Würfel mit vierflächiger Zuspitzung.
Den Schluß der trefflichen Schilderung der Ohranatomie bildet die
Beschreibung der Blutversorgung des Labyrinths. Huschkes ent-
wicklungsgeschichtliche und vergleichend-anatomische Arbeiten werden
später berücksichtigt werden.
Besonderes Interesse erwecken jene Arbeiten dieses Zeitraums,
die nur einzelne Abschnitte des Gehörorgans und dessen feinere
Strukturverhältnisse betreffen. Aus der großen Anzahl der Spezial-
Schriften sollen im folgenden nur die wichtigeren erwähnt werden.
Ein spezielles Studium Avurde der Erforschung des Trommelfells ge-
widmet. Wir verweisen auf die Arbeiten von Home, Shrapnell, Cor-
nelius, Pappenheim u. a., die die Kenntnis von dem Baue dieser Mem-
bran wesentlich erweiterten.
Everard Home ( 1763- — 1832), entdeckte bei der Zergliederung von
Elefantenschädeln an der Innenseite des Trommelfells eine schon mit
freiem Auge sichtbare Anordnung radiärer Fasern. Denselben Befund
ergab die Untersuchung am menschlichen Trommelfelle mit Hilfe einer
-Stächen Vergrößerung. Von der fast gleichzeitigen Entdeckung der
radiären und zirkulären Faserschichte des Trommelfells durch Leop.
Caldani (p. 274) hatte Home offenbar keine Kenntnis. Home hielt
irrtümlich die radiären Fasern für einen Muskel des Trommelfells *). Der
mikroskopische Befund dürfte wohl kaum überzeugend gewesen sein, sonst
hätte Home nicht die folgende Hypothese zur Stütze seiner Ansicht
herangezogen. An einem gelungenen Injektionspräparate Dr. Bailles
fand Home, daß die Verlaufsrichtung der Blutgefäße am Trommelfelle
mit der der Iris übereinstimmt. Daraus schließt er, daß das Trommel-
fell gleich der Iris einen Muskel (Iiadiärfasern) besitzen müsse 2). Seine
Shrapnell. 363
genaue Beschreibung der Anordnung der radiären Faserschichte und der
Blutgefäße am Trommelfelle ist nicht neu, da wir sie in gleicher Ausführ-
lichkeit schon beim jüngeren Caldani (1. c.) und bei Ruysch (1. c.) finden.
Home verrät überhaupt eine erstaunliche Unkenntnis der Leistungen
seiner Vorgänger. So führte er — ohne Cotugno zu erwähnen — zum
Beweise, daß das Labyrinth mit Flüssigkeit gefüllt sei, in Gemeinschaft
mit einem Mr. Clift einen Versuch aus, den schon lange vor ihm Meckel
angegeben hatte, und es ist als verwunderlich zu bezeichnen, wenn er am
Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Ansicht, daß eine Kommunikation
zwischen Labyrinth und äußerer Luft bestehe, längst als irrtümlich ab-
getan war, sich noch zu folgender Aeußerung veranlaßt sieht: ..These
cavities (das Labyrinth) are filled with a watery liquor, and have no
communication (as the tympanum has) with the external air".
') When viewed in a microscope rnagnifying 23 times, the muscular fibres are
beautifully conspicuous, and appear unifornily the saine throughout the whole surface,
there being no central tendons, as in the diaphragm ; the muscular fibres appear
only to form the internal layer of the membrane, and are niost distinctly seen when
viewed on that side. Lecture on the structure and uses of the membrana tympani
of the ear. Philosophical Transact., London 1800, Part. I, p. 5. — 2) This corre-
spondence, in the number and distribution of bloodvessels, between the membrana
tympani and the iris, is a strong circumstance in confirmation of that membrane
being endowed with muscular action. 1. c. p. 6.
Henry John Shrapnell. Fast gleichzeitig mit der Arbeit Home s
erschien in den ..Philosophical Transactions'' eine wertvollere Unter-
suchung des Trommelfells von Henry Jones Shrapnell*). Er ver-
gleicht die Form des Trommelfells, wie sie sich nach sorgfältiger Ent-
fernung der Knochenrinne präsentiert, mit der Gestalt eines Hufeisens.
Drei Viertel des Umfanges bilden ein richtiges Oval, von dem das letzte
Viertel gleichsam abgeschnitten ist. Am Umrisse der Membran unter-
scheidet er einen vorderen oberen Winkel in gleicher Höhe mit der Basis
des Jochbeinfortsatzes und einen hinteren mehr nach auswärts geneigten
Winkel unter dem Niveau des vorderen. Shrapnell war der erste, der
auf die Verschiedenheit in der Struktur der Membrana tympani hinwies.
Er unterschied einen zur Schallfortpflanzung geeigneten Teil von ge-
spannter Elastizität, der aus elastischen, strahlen artig angeordneten
Fasern, die sich einerseits in der Knochenrinne, andererseits in der Mitte
des Hammerstieles befestigen, besteht (Membrana tensa), und einen zur
Schallfortpflanzung ungeeigneten Teil von schlaffer Elastizität, der den
über dem kurzen Hammerfortsatze befindlichen li i vi ni sehen Ausschnitt
| Geber die Form und Struktur der Membrana tympani in Frorieps Notizen,
Bd. 34, 1882, S. 18, übers, aus The London Medical Gazette Vol. X, 183'2: On the
form and structure of the membrana tympani of the ear. Phil. Trans. 1800.
3G4 Shrapnell.
ausfüllt (Membrana flaccida, auch Membrana Shrapnelli genannt). Shrap-
nell beobachtete, daß beim Einblasen von Luft in die Trommelhöhle
durch die Eustachische Röhre die Membrana flaccida sich ausbaucht,
während die Membrana tensa des Trommelfells verhältnismäßig unver-
ändert bleibt. Die einzelnen Details der Membrana tensa werden in ein-
gehendster Weise mitgeteilt.
Aus der eigentümlichen Konstruktion folgert Shrapnell, daß die
Fasern der Membrana tensa, deren muskulöse Beschaffenheit er in Ab-
rede stellt, krummlinige Formen in jeder Richtung darbieten, die nach
seiner Ansicht gerade am besten geeignet zu sein scheinen, eine Mannig-
faltigkeit feiner Bewegungen je nach der Schwingungskraft der Töne
hervorzubringen. Die Arterien des Trommelfells stammen vom
Ramus stylomastoideus der Arteria facialis und verlaufen von der Peri-
pherie und längs des Hammerstieles konvergierend gegen die Mitte der
Membran.
Die Membrana flaccida unterscheidet sich von der M. tensa
außer durch ihren schlaffen Zustand auch noch dadurch, daß sie nicht
in einer Knochenrinne befestigt ist, und daß die Fasern und Blutgefäße
in ihr unregelmäßig verteilt sind, daß sie selbst eine veränderliche Gestalt
besitzt, daß ihre innere Oberfläche durch Schleim schlüpfrig erhalten
wird, endlich dadurch, daß die Fläche der Membrana flaccida eben ist,
während die der Membrana tensa mehr nach auswärts in der Richtung
der oberen Wandung des äußeren Gehörganges geneigt ist.
Shrapnell spricht den Gedanken aus, daß die große Ausdehnungs-
fähigkeit der Membrana flaccida die gespannteren Fasern der M. tensa
vor den Wirkungen plötzlicher und lauter Töne, des Hustens und
Schneuzens schütze. Er hält sie auch für die zweckmäßigste Stelle zur
Punktion des Trommelfells, weil dieser Teil am leichtesten gesehen werde
und weil die perforierte Stelle die Funktion der schall-
leitenden Membrana tensa nicht störe.
Von geringem Weite ist die ebenfalls im Beginne des 19. Jahrhunderts er-
schienene Arbeit Brugnones*) über das Trommelfell, in der er abweichend von
Caldani, Cuvier u. a. die äußere und mittlere Schichte der Membran der Aus-
kleidung des äußeren Gehörgangs, die innere der Ohrtrompete und der Trommel-
höhle zuschreibt.
Vest und Wittmann regten die seit Haller schon erloschene Streitfrage
über das Foramen Rivini neuerdings an**), indem sie behaupteten, daß im mensch-
lichen Trommelfelle eine ovale, von zwei Fältchen begrenzte Oeffnung (Kanal) vor-
komme, die schräg durch die Trommelhaut verlaufe und durch den Tensor oder
*) Möm. de Facad. de Turin pour les ann. X et XI. Observation anatomiques
sur l'origine de la membrane du tympan et celle de la caisse 1805—08.
**) „Ueber die Wittmannsche Trommelfellklappe'' in den „Mediz. Jahrb.
Oest. 1819", Bd. V, p. 123—133.
F. Cornelius.
36;
Laxator tympani geöffnet oder geschlossen werden könne. Sie sei jedoch bloß von
oben zu sehen und fehle in vielen Fällen. Anhänger fand diese Anschauung nament-
lich in Berres*). der die Oeffnung bei 100 Köpfen 6— 7rnal gefunden haben will,
und in Vests Sohn**). — Fleischmann***) will das Foramen Rivini nur be>
gewissen Tieren (Maulwurf, Vespertilio murinus etc.) gefunden haben.
Friedrich Cornelius. Einen wertvollen Beitrag zum Baue des
Trommelfells lieferte der russische Arzt Fr. Cornelius (1799 — 1848).
Unter den zahlreichen, meist uninteressanten Inauguraldissertationen dieser
Periode verdient seine unter dem Titel ..De memhranae tympani usu",
Dorpat 1825, erschienene Arbeit deshalb Beachtung, weil sich in ihr
zum ersten Male die Beschreibung und Abbildung der ,, inneren Trommel-
fellfalte" und der durch sie gebildeten ..hinteren Trommelfelltasche" findet,
v. Tröltsch, dem diese Dissertation gewiß nicht bekannt war, hat
Fig. 18. Innere Trommelfellfalte.
Reproduktion aus der Disser-
tationsschrift des Fr. Cornelius.
Fig. 19. Innere Trommelfellfalte
nach Wegnahme des Amboßes,
vom Hammer abgetrennt und
zurückgeschlagen. Aus derselben
Dissertationsschrift.
35 Jahre später diese Tasche als neu beschrieben. Sie wird nach ihm
„Tröltschsche Tasche" benannt.
Gelegentlich einer zur Lösung der Frage über die Existenz des
Foramen Rivini unternommenen anatomischen Untersuchung fand Cor-
nelius an der Innenseite des Trommelfelles eine Falte (Fig. 18), die er
nach Form und Begrenzung genau schildert: „membranulam triangulärem,
quae a tergo antrorsum ad malleum protensa huic est affixa". Wird
unter diese Falte eine Borste nach oben eingeschoben, so sieht man sie
an der äußeren Fläche des Trommelfells in der Foveola des Trommel-
fells (jetzt Membrana flaccida) durchschimmern. Hierdurch wird die
Kommunikation des Prussakschen Raumes mit der hinteren Trommel-
felltasche erwiesen.
*) Grundriß der Physiologie.
**) Ueber die Natur des Schallstrahles nebst einem Anhange über die Trommel-
fellklappe. Wien 1833-
) Ueber die Muskeln des inneren Ohres. Berliner mediz. Zentralztg. 1836.
366 Tn- Buchanan.
Cornelius hält die beschriebene Falte für eine Duplikatur des
Trominelln'iblenperiosts, das auf die innere Trommelfellfläcbe übergebt1).
Er erläutert diese Verbältnisse an sehr guten Abbildungen (Fig. 18
und Fig. 10), die noch durch einen vollkommen richtigen Frontaldurch-
schnitt ergänzt werden.
An der Außenfläche des Trommelfells beschreibt Cornelius die
später auch von Prussak*) erwähnten und nach ihm benannten Streifen,
welche sich vom kurzen Hammerfortsatze zu der winkelig vorspringenden
Grenze des Rivinischen Ausschnittes hinziehen und die Grenze zwischen
Membrana tensa und flaccida des Trommelfells bilden. Nach Ablösung
der Membrana flaccida entdeckte er in dem zwischen dieser und dem
Hammerhals befindlichen Räume (jetzt Prussakscher Raum) eine kleine
dreieckige Falte ausgespannt 2). Das Trommelfell ließ er aus vier Schichten
bestehen, wie dies schon Winslow, Haller, Cassebohm vorher, später
auch Autenrieth annahmen. Die beiden innersten Schichten sollten
eine Duplikatur des Trommelhöhlen- und Gehörgangsperiosts darstellen,
während die äußerste der Haut des Gehörgangs, die innerste der Schleim-
haut der Trommelhöhle angehören. Das Foramen Rivini weist Cor-
nelius auf Grund zahlreicher Untersuchungen zurück.
') Membrana haec valvuliforrnis nihil aliud est, nisi plica periostei cavum
tyinpani obducentis in longum deducta. quae a periosteo , antequam in tympani
laminam internam abit, demittitur, quod ipse perspicue vidi. 1. c. p. 29. — 2) Ut
internam tympani faciem eo loco diligentius investigarem, ubi externe plicae repeii-
untur supra memoratae, a malleo membranam illam dissolvi, quam replicans intra
illam atque tympanum aliam conspexi membranulam pariter triangulärem, proxime
tympano, in extremo inter annulum tympanicum malleumque recessu. 1. c. p. 28.
Thomas Buchanan (1782 — 1853). Zu den Werken, die anatomisch-
physiologisch mehrere Abschnitte des Gehörgangs behandeln, zählt die
Arbeit des Praktikers und Surgeon am Dispensary für Augen- und
Ohrenkrankheiten, Thomas Buchanan, betitelt: „ Physiological illu-
strations of the organ of hearing etc." (London 1828). In dieser werden
insbesondere die Ohrmuschel, der äußere Gehör gang und dessen
Drüsen einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.
Nach Buchanan verläuft der Gehörgang, dessen Länge l1/4 bis
1^2 Zoll beträgt, zuerst nach vorne oben, dann nach hinten und innen
und zuletzt nach unten, vorn und innen, verengert sich allmählich bis
etwa eine Linie vor dem Trommelfell, in dessen Nähe er sich wieder
erweitert.
Die untere längere Wand bildet am inneren Ende eine ovale Ver-
tiefung, die von Buchanan als „Depressionalkurve" (ausgehöhlte Ver-
tiefung) bezeichnet wird (unser jetziger Sinus meat. aud. ext.). Auf die
*) A. f. 0. Bd. III.
Th. Buchanan. 367
Resultate seiner eingehenden Messungen der Dimensionen des äußeren Ge-
hörgangs und des Trommelfells kann hier nicht näher eingegangen werden.
So bizarr auch die Ansichten Buchanans über den Bau des Trommelfells
und über die Schallübertragung durch dasselbe sein mögen, so sind sie historisch
insofern interessant, als sie in dieser Periode den Stand der Ohranatomie und
Physiologie in England illustrieren. Die konische Form (Trichterform) des Trommel-
fells, die bei jugendlichen Individuen noch nicht vorbanden sei, entsteht nach
Buchanan dadurch, daß die Gehörknöchelchen und auch der Hammergriff, mit dem
das Trommelfell verbunden ist, verhältnismäßig rascher wachsen als die Trommel-
höhle (?) ; befördert wird ferner die Konkavität durch die große Menge der ein-
fallenden Schallwellen, die das Trommelfell nach innen drängen, durch das Wachs-
tum des Sulcus tympanicus und durch die Wirkung des Trommelfellspanners und
des Steigbügelmuskels (?). Der wichtigste Vorteil der Schräglage des Trommelfells,
dessen Radiärfasern nach Home er für muskulös hält, sei der, daß dadurch die von
ihm reflektierten Schallwellen in die ausgeschweifte Grube des äußeren Gehörgangs
gelangen und dort von dem sich bis dorthin erstreckenden röhrenförmigen Ueberzuge
des Ohrenschmalzes absorbiert werden , wodurch angeblich die Entstehung eines
Widerhalls im Ohre verhindert werde. Buchanans Angabe, daß die Ohrschmalz-
drüsen eine Linie innerhalb der Oeffnung des Gehörganges anfangen und sich bis
auf eine oder eine halbe Linie vor dem Trommelfell erstrecken, ist längst als un-
richtig erwiesen worden. Auf die Pathologie und Therapie Buchanans werden wir
später noch zu sprechen kommen.
Wesentlich abweichende Angaben über den Bau des äußeren Gehörgangs und
des Trommelfells finden sich bei den zeitgenössischen Forschern. So behauptete
Krause*), daß die häutigen Lamellen des Trommelfells nach oben zu auseinander-
weichen, weshalb die Membran an dieser Stelle schlaffer sei als deren untere Hälfte.
Pappenheini**) nimmt fünf Schichten am Trommelfell an: Epidermis,
Beinhaut des äußeren Gehörgangs, eigentliche Haut des Trommelfells, Beinhaut der
Trommelhöhle und Schleimhaut. Die konzentrischen Fasern hören in einiger Ent-
fernung vom Hammergriffe auf.
Lincke***) zerlegte durch Mazeration das Trommelfell in ein inneres und
ein äußeres zartes Blatt, von denen das eine nach seiner Ansicht vom Trommel-
höhlen-, das andere vom Gehörgangsperiost seinen Ursprung herleitet. Die am
Hammergriff dichter zusammentretenden und stärker entwickelten radiären Fasern
verleihen dem Trommelfelle an dieser Stelle besondere Festigkeit.
Schließlich sei noch die Dissertation des Schweizer Arztes Alexius Theodor
Aeplif) erwähnt, die eingehend die Gefäße und Nerven des Trommelfells behandelt,
vorzugsweise aber auf den Arbeiten von Caldani, Home und Shrapnell fußt.
Außer den genannten Publikationen findet sieh in fast allen anatomischen,
physiologischen und otiatrischen Werken dieses Zeitraumes manches Bemerkenswerte
über die Anatomie des äußeren Gehörgangs und des Trommelfells, so bei Auten-
rieth und Magendie (s. später), ferner bei J. F. Meckel1). Rosenthal2), Tram-
pel3), Berres4), Lauth5), BockG). Hempel7), Rudolphi8), E. H. Weber9),
Seiler10), Tod11), Lenhossek 12), Jung13) u.a.
*j Handb. d. menschl. Anatomie. Hannover 1836.
**) Frorieps Notizen 1838.
***) Handb. d. Ohrenheilk. Bd. I, 1837.
f) De membrana tympani. Gynopedii 1837.
3(38 Blumenbaih. Antli. Carlisle.
') Handb. d. raenschl. Anatomie Bd. IV. Halle 1815—1820. — 2) Handb. d.
Chirurg. Anatomie. Berlin 1817. — 3) Wie erhält man sein Gehör gut etc. Han-
nover 1822. — 4) Anthropotomie oder Lehre vom Baue des menschlichen Körpers.
Wien 1835 . Bd. I. — 5) Neues Handb. d. prakt. Anatomie. Stuttgart und Leipzig
1835. 1836, Bd. I. — c) Handb. d. prakt. Anat. Meißen 1x19—22. — 7) Anfangs-
gründe d. Anat. d. menschl. Körpers. Göttingen 1801 — 33. — 8) Grundriß der Physio-
logie Bd. IL Berlin 1821—28. — 9) Meckels Archiv 1827. p. 233. — 10) Im Med.
Realwörterbuch von J. F. Pierer, Altenburg 1816 — 29, Bd. V. — u) Anatomy and
physiology of the organ of hearing. London 1832. — 12) Physiologia medicinalis.
Pest 1816 — 18, Vol. IV. — 13) Vom äußeren Ohre und seinen Muskeln beim Menschen.
Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel 1849.
Die Ohrenschmalzdrüsen beschrieben am Anfange dieses Jahrhunderts
R. Wagner1). Krause2), Henle3), Kohlrausch, Valentin, Pappenheim u.a.
und stellten durch mikroskopische Untersuchung ihre tubulöse Beschaffenheit fest.
Ueber die Chemie des Ohrenschmalzes stellten Foucroy, Vauquelin
und Berzelius4) gründliche Untersuchungen an. Ferner schrieben über diesen
Gegenstand Th. Schreyer5) und C. Fromherz 6).*)
l) Icones physiologicae. Leipzig 1839, Tab. XVI. — 2) In Müllers Archiv 1839.
— 3) Allgem. Anatomie S. 915. — 4) Lehrbuch der Tierchemie. Dresden 1831. —
3) Allg. Enzykl. d. Wissenseh. u. Künste. Leipzig 1832, Sekt. III. Bd. III, p. 332—333.
— G) Lehrb. d. med. Chemie, 2 Bde. Freiburg 1834, Bd. II, p. 226.
Um die Erweiterung der anatomischen Kenntnisse vom Bau der
Trommelhöhle, der Gehörknöchelchen, ihrer Muskeln und
Bänder machten sich in diesem Zeiträume zahlreiche Forscher verdient.
Blumenbach wies zuerst nach, daß das Linsenbein nicht ein
eigenes Knöchelchen, sondern eine Apophyse des langen Amboßschenkels
sei, eine Ansicht, der später auch Shrapnell1) beitrat. Blumenbach
fand ferner an der hinteren Fläche des Stapesköpfchens zwei Grübchen,
die dem Ansätze der Sehne des M. stapedius dienen.
Saunders2) gab genauere Maßangaben der Trommelhöhle. Nach
ihm ist ihr Tiefendurchmesser in der Gegend des ovalen Fensters am
größten, der Schneckenspitze gegenüber am kleinsten.
Anthony. Carlisle gibt in seiner Arbeit 3) eine eingehende Schil-
derung der anatomischen Verhältnisse des Stapes beim Menschen, der
eine vergleichende Anatomie des Stapes bei den verschiedenen Säuge-
tieren und der Columella bei Vögeln und Amphibien angefügt ist. Dem
Texte ist eine mit vorzüglichen Abbildungen ausgestattete Tafel, ent-
haltend die bildliche Darstellung des Stapes und seiner Homologen in
der Tierreihe beigegeben.
Weniger glücklich ist Carlisle in seinen physiologischen Reflexionen.
So nimmt er irrtümlich an, daß der Musculus stapedius bei seiner Aktion
*) Nach Schwartze (A. f. 0. VII) fanden Wedel und Haygart, daß
Cerumen am besten im Wasser löslich sei, was später auch von Petrequin be-
stätigt wunlr.
Die Ohrenheilkunde bei den Japanern. 353
tampons verwendet, die entweder in drei Jahre altern Essig oder in öligen Lösungen
verschiedener Medikamente getränkt waren. Diese Methode ähnelt sehr der auch
heute noch bei der Furunkulose geübten.
Zu Instillationen wurden verschiedene flüssige Substanzen verwendet, so z. B.
Lösungen von Moschus in Hanföl, der Preßsaft von Radis acori gravinei mit Moschus-
zusatz, reines Hanföl und warmer Essig. Bei eitrigen Erkrankungen wurden auch
vielfach Pulvereinblasungen nach dem Abtupfen des Sekretes gemacht, eine Methode,
die man etwa mit der heute üblichen Trockenbehandlung der Mittelohreiterungen
vergleichen darf. Von derartigen Pulvern sind zu erwähnen: Alaunpulver, eine
Mischung von Schwefel und Alaun („Kwa-ta-ho"), Knochenasche (besonders von Fischen),
eine Mischung von Steinsalz, Alaun und Blütenstaub. Diese Pulver wurden mit dem
Munde durch ein Bambusröhrchen eingeblasen.
Umschläge scheint man damals nicht gekannt zu haben. Dagegen hat man
die Behandlung des Ohres mit Wasserdämpfen vielfach geübt und merkwürdiger-
weise wurde dem kochenden Wasser Karpfenhirn zugesetzt. In dem Buche „Sen-
kin-ho" wird auch eine besondere Behandlung mit Schlammkuchen angegeben, die
etwa der heutigen Fangotherapie vergleichbar ist. Man bereitete aus einem
Schlammteig eine kleine Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Diese Scheibe wurde
in feuchtem Zustande auf das kranke Ohr gelegt und über dem Loche 100 Stück
Moxen abgebrannt. Sobald die Schlammscheibe trocken war, wurde sie durch eine
frische ersetzt.
Ueber Kältebehandlung findet sich in der alten japanischen Literatur keine
Angabe. In fast allen alten Handbüchern wird eine spezifische Methode für die
Beseitigung von verhärteten Ceruminalpfröpfen erwähnt. Es wurde nämlich zu
deren Erweichung der Preßsaft von Regenwürmern oder eine mittels eines besonderen
Verfahrens aus Regenwürmern extrahierte Flüssigkeit in das Ohr eingeträufelt.
Im „Sen-kin-hou wird eine interessante Magnettherapie mitgeteilt, die ebenso
wie die heutige Metallotherapie bei hysterischer Taubheit nur suggestiv gewirkt zu
haben scheint. Ueber eine sogenannte magnetische Durchleitungsmethode („Tsu-ji-ho")
berichtet auch der berühmte Manasse Dosan*).
Vor der Einführung der Elektrizität in die Therapie kam der Moxen-
behandlung eine sehr große praktische Bedeutung zu. Sie wurde in Japan vor-
züglich bei funktionellen Ohrerkrankungen angewendet und hat, wie es scheint, in
vielen Fällen gute Erfolge erzielt. Die Moxen waren kleine Kegel oder Zylinder
aus leicht brennbaren Pflanzenfasern, die auf der Haut abgebrannt wurden. Als
Wirkung dachte man sich eine Ableitung von den tiefer gelegenen Organen nach
der Oberfläche. Mit großer Sorgfalt berücksichtigte man bei der Indikationsstellung
für die Moxenbehandlung den Ort der Applikation der Moxe. der für die ver-
schiedenen Formen der subjektiven Geräusche und der Schwerhörigkeit ein ver-
schiedener war ■).
Zur Entfernung in das Ohr eingedrungener Insekten, wie Mücken, Ameisen,
Schnecken, wurden verschiedene Mittel angewendet, die den Zweck hatten, die In-
sekten herauszutreiben oder anzulocken. Die beliebtesten derartigen Medikamente
waren neben warmem Wasser, der Preßsaft verschiedener Pflanzen, wie Allium odorum
(„Mira"), Ingwer, Lactuca Thumbergiana maxima („Migana"), Zwiebelsaft, ferner
*) Manasse Dosan: „Kei te-ki-shuu 1573.
i Larrey (Recuil de mem. de Chir. 1821) will durch Anwendung japanischer
Moxen in der Umgebung des Ohres bei rheumatischen Fazialislähmungen gute Er-
folge erzielt haben.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 23
354 Die Ohrenheilkunde bei den Japanein.
warmer Essig, Hanföl, Quecksilber, Menschenharn. Eselsmilch, Kuhmilch, das Blut
aus Hahnenkämmen etc. . . .
Zum Anlocken der in den Gehörgang eingedrungenen Tiere wendete man
allerhand sonderbare Methoden an, wie z. B. das Vorhalten eines Lichtes vor das
Ohr, das Aneinanderschlagen von Messerklingen oder die Einführung verschiedener
Riechstoffe (Sesamium indicum L.). Zur Entfernung unbelebter Fremdkörper übte man
einen Kunstgriff, den schon die Araber kannten und auch heute noch in manchen
Fällen benützt wird (L.). Es ist dies das Ankleben des Fremdkörpers mittels eines
Klebestoffes und das nachträgliche vorsichtige Extrahieren, nachdem der Klebestoff
trocken geworden ist. Auch wurden mitunter die Fremdkörper mittels eines Bambus-
rohres herausgeblasen, ein Verfahren, das sich etwa der heute geübten Ausspritzungs-
methode vergleichen läßt.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Das 19. Jahrhundert eröffnet der medizinischen Wissenschaft eine
neue Aera, die sie der induktiven Forschungsmethode verdankt, die
auf allen Gebieten der Naturwissenschaft zum Durchbruch gelangt. Zu-
nächst sind es die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Anschluß
an die Fortschritte der technischen Untersuchungsmethoden eine rapide
Entwicklung erkennen lassen. Dank der verbesserten mikroskopischen
Technik wird die Anatomie den Anregungen Bichats folgend durch die
Histologie bereichert. Die Zellenlehre, die Embryologie und vergleichende
Anatomie nehmen einen ungeahnten Aufschwung. Die Lehre von den
Lebensvorgängen, die biologische Forschung, wird von hervorragenden
Forschern durch das Experiment begründet. Magendie, Flourens,
Ch. Bell, Marshall Hall, den Brüdern Weber und vor allem Johannes
Müller gebührt der Ruhm, die Physiologie auf experimenteller Grund-
lage neu aufgebaut zu haben.
Die Medizin im engeren Sinne erhebt sich erst im vierten Dezennium
des Jahrhunderts auf ein streng naturwissenschaftliches Niveau , nach-
dem durch die pathologisch-anatomischen Leistungen Cruveilhiers,
Rokitanskys und Virchows das Fundament für die, durch Corvisart,
Laännec und vor allem durch Skoda inaugurierte physikalische Dia-
gnostik geschaffen worden war.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt be-
dauerlicherweise nicht gleichen Fortschritt mit den übrigen Disziplinen
der Medizin. Wohl eröffnen auch hier die anatomischen und physiologi-
schen Leistungen Soemmerrings, Breschets, Huschkes, Flourens'
und Johannes Müllers neue Perspektiven, allein mangels einer grund-
legenden pathologischen Anatomie verharrt die Otiatrie noch lange auf
dem Standpunkte der empirischen Symptomatologie. Man würde aber
zu weit gehen, wollte man jeden Fortschritt in der Otiatrie in dieser
Periode in Abrede stellen. In erster Linie ist es Frankreich, wo sich
die Ohrenheilkunde zuerst zum Spezialfach entwickelte, welches durch
den verdienstvollen Itard, durch Saissy, Deleau u. a. Autoren
vertreten wird. Die französischen Ohrenärzte pflegen die
klinische Beobachtung, bilden den Katheterismus und die Luftdusche
weiter aus und bereichern durch die Auskultation die Untersuchungs-
356 Soemmerring.
methoden. Die Engländer widmen sich vorzugsweise der klinischen
Symptomatologie und Praxis. In Deutschland verwertet wohl Kramer
die neuen physikalischen Untersuchungsmethoden für das Spezialgebiet,
aber er haftet in Ermanglung pathologisch-anatomischer Studien an der
empirischen Symptomatologie, ohne bis zu einer rationellen Begründung
der Pathologie und Therapie vorzudringen. Diese große Lücke auszu-
füllen, die Otiatrie auf Grundlage der pathologischen Anatomie zu einem
den übrigen Spezialfächern der Medizin ebenbürtigen Wissenszweige aus-
zubilden, war erst den Forschern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
vorbehalten.
Stand der Ohranatomie in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts.
Durch Cotugnos und Scarpas epochale Leistungen waren der
Ohranatomie neue Wege gewiesen worden. Man erkannte, daß ein
weiterer Fortschritt auf diesem Gebiete nur durch eingehende For-
schungen in der vergleichenden Anatomie, Embryologie und
Histologie des Gehörorgans zu erzielen sei. In der Tat sehen
wir gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zahlreiche Forscher bemüht, diese bisher vernachlässigten Gebiete zu
bearbeiten und namentlich die embryologischen und vergleichend- anato-
mischen Kenntnisse über das Gehörorgan wesentlich zu erweitern. Eine
festere Grundlage erhielt dieses Forschungsgebiet durch die Arbeiten
Soemmerrings, der es verstand, die bisherigen Leistungen in der Ohr-
anatomie mit einer Reihe eigener Befunde zu einer übersichtlichen,
klaren und formvollendeten bildlichen Darstellung der Anatomie des Ge-
hörorgans auszugestalten.
Samuel Thomas Soemmerring, eine der interessantesten Gestalten
am Eingange des 19. Jahrhunderts, wurde am 25. Januar 1755 zu Thorn
in Westpreußen als der Sohn eines Arztes geboren. Nach 4 x/:> jährigem
Hochschulstudium zu Göttingen wurde er im Jahre 1778 auf Grund
seiner Dissertation : De basi encephali et originibus nervorum cranio
egredentium libri V, welche die Aufmerksamkeit der Fachkreise auf den
jungen Gelehrten lenkte, zum Doktor promoviert. Durch Vermittlung
seines Landsmannes Georg Forster, den er auf seiner 1779 unter-
nommenen wissenschaftlichen Reise durch Norddeutschland, Holland und
England in London traf, erhielt er eine Lehramtsstelle für Anatomie und
Chirurgie am Carolineum in Kassel, von wo er nach fünfjähriger Lehr-
tätigkeit als Professor der Anatomie und Physiologie an die Mainzer Hoch-
schule berufen wurde. Hier war er mit einigen Unterbrechungen 12 Jahre
Tafel XVI II
SAMUEL THOMAS SOEMMERRING
Soemmerring. 357
hindurch tätig. Nach seiner Entlassung im Jahre 1797 unterbrach ei-
serne akademische Laufbahn, um in Frankfurt als vielgesuchter praktischer
Arzt zu wirken. Erst nach dem Tode seiner Frau folgte er einem Rufe
nach München (1804), wo er Mitglied der Akademie der Wissenschaften
wurde. Hier beschäftigte er sich viel mit physikalischen Studien und
erfand den elektrischen Telegraphen, dessen allerdings primitiven Apparat
er am 27. August 1809 der Akademie demonstrierte. Historisch ist dem-
nach Soemmerring als der Erfinder des elektrischen Telegraphen anzu-
sehen. Im Jahre 1820 verließ er München und suchte Frankfurt wieder
auf, wo er den Rest seines Lebens in ununterbrochener wissenschaft-
licher Tätigkeit verbrachte. Zwei Jahre nach seinem 50jährigen Doktor-
jubiläum, das unter anderem durch Stiftung eines Soemmerringschen
Preises für die besten Leistungen in der Physiologie gefeiert wurde, starb
er am 2. März 1830.
Zu den hervorragendsten Werken Soemm er rings zählt der unter
dem Titel „Icones organi auditus humani" 1806 in Frankfurt erschienene
Atlas zur Anatomie des Gehörorgans*), mit vortrefflichen, auch noch heute
mustergültigen Abbildungen. Den Anstoß zu diesem Werke gab ihm die
Aufforderung seines Freundes, des Hofrates Lichtenberg zu Göttingen,
für dessen Vorlesungen über die Naturlehre die menschlichen Hörwerkzeuge
vergrößert nachzubilden. Von dem Grundsätze ausgehend, daß man bei
anatomischen Abbildungen nicht genug genau und gründlich sein könne,
um sie möglichst der Natur nahezu bringen, stellte Soemmerring die
eingehendsten Untersuchungen über den Bau des Gehörorgans an und
wühlte nach Vergleichung der eigenen Präparate mit den vorzüglichsten
Abbildungen anderer Autoren wie Valsalva, Duverney, Brendel,
Cassebohm, Albinus, Cotunni, Meckel, Monro, Comparetti,
Scarpa, Wildberg diejenige Form für seine Abbildungen, die ihm
für das Studium der Ohranatomie und den Lehrzweck als die geeignetste
erschien. Nicht zum geringsten unterstützten ihn bei seinen schwierigen
Arbeiten das reichhaltige anatomische Theater in Mainz und die Beihilfe
des von ihm geschulten vortrefflichen Künstlers, des Professors Christian
Koeck, der die Modelle und Abbildungen unter der unausgesetzten Auf-
sicht und Leitung Soemm errings verfertigte. Als endlich nach 13 jährigem
rastlosen Fleiß die Abbildungen bei Varrentrapp und Wenner in
Frankfurt a. M. 1806 erschienen, fand das Meisterwerk die ungeteilte
Bewunderung aller Fachkreise.
Sämtliche Abbildungen, für die Soemmerring ausschließlich das
*) Das Werk erschien auch deutsch: Abbildungen des menschlichen Hör-
organes, Frankfurt a. M. 1806. — Ferner gab J. F. Schröter nach dem Vorbilde
Soemmerrings „Das menschliche Ohr nach Abbildungen des Herrn Geheimen bah-;
Soemmerring. mehr vergrößert dargestellt und beschrieben" (Weimar 1811) heraus.
Huschke.
linke Ohr benutzte, sind auf 5 Tafeln in anatomischer Reihenfolge ver-
teilt. Die erste Tafel enthält die Abbildung des äußeren Ohres,
der Muskeln und des Zusammenhanges des äußeren Ohres mit dem Ge-
hörgang, den Gehörknöchelchen und dem Labyrinthe. Auf der zweiten
Tafel findet sich die Darstellung der in der Trommelhöhle enthal-
tenen Gebilde, sowohl in ihrer natürlichen Verbindung als auch einzeln
außerhalb derselben. Auf Figur 21 dieser Tafel erscheint das Liga-
mentum incudis posterius gut abgebildet. Ferner ist hier zum ersten
Male das obere Hammerband beschrieben (Fig. 20 a und b und S. 14).
Auf der dritten Tafel folgen dann vorzügliche Abbildungen des Laby-
rinthes. Die vierte Tafel liefert die minder wesentlichen Teile, die
Arterien des Gehörorgans, die Hautnerven des äußeren Ohres, Profil-
durchschnitte der Schnecke etc. Fig. 4 dieser Tafel zeigt bereits einen
weitvollen Abguß des äußeren Gehörgangs und seiner spiraligen Form,
wie sie später in ausführlicher Weise von Hyrtl und Bezold beschrieben
wurde. Hervorzuheben ist auch noch Fig. 3, welche die Krümmung des
äußeren Gehörgangs im horizontalen Durchschnitt in einer Richtigkeit
demonstriert, wie man es auch in den Werken jüngeren Datums nicht
besser findet. Hier sieht man ferner bereits die später von Troeltsch
hervorgehobene Tatsache, daß sich die Ceruminal- und Balgdrüsen des
Gehörgangs vom Knorpelteile gegen die hintere obere Wand des knöcher-
nen Gehörgangs in Form eines dreieckigen Zwickels fortsetzen. Endlich
ist in Fig. 14 der später von Rosenthal beschriebene Schraubenkanal
der Spindel (Can. spir. s. ganglionaris) in seiner unteren Hälfte dar-
gestellt. Die fünfte Tafel zeigt die festen knöchernen Hauptteile des
Gehörorgans so, wie sie sich nach vollkommener Ausbildung des Schädels
am Erwachsenen hinsichtlich ihrer Lage und Größe zum ganzen Schädel
verhalten.
In Soemmerrings „De corporis humani fabrica"*) vermissen wir eine zu-
sammenfassende Behandlung der Ohranatomie. Das Werk enthält in den verschie-
denen Abschnitten nur eine kurze Beschreibung einzelner Teile des Gehörorgans. So
finden wir im ersten Bande die „Organa auditus ossea". im zweiten die „Ligamenta
ossiculorum auditus", im dritten die Muskeln des Ohres, im vierten den Hörnerv und
im fünften die Gefäße des Gehörorgans beschrieben. Interessant ist sein Verfahren
zur anatomischen Darstellung der Verzweigung des Schneckennerven in der Schnecke.
Nach roher Präparation der Knochen und des Nerven wird das Präparat in verdünnte
Salpetersäure gelegt, wodurch die Knochensubstanz erweicht und abgelöst wird und
der Nervenverlauf im Modiolus und in der Lamina spiralis klar zu Tage tritt. Es
ist dies unseres Wissens der erste Fall einer chemischen Vorbehandlung des Gehör-
organs behufs anatomischer Untersuchung.
Emil Huschke. Einen würdigen Nachfolger in der Erforschung
des Gehörorgans fand Soemmerrinsf in dem Jenaer Professor Emil
*) Traj. ad. Moen. 1794.
Tafel XIX
EMIL HUSCHKE
Huschke. 359
Husch ke (1797 — 1858). Wir verdanken ihm nicht nur die Entdeckung
der nach ihm benannten Zona dentata in der Schnecke und anderer
anatomischer Details, sondern auch eine vorzügliche, durchwesfs orign-
CT * CT O
nelle Beschreibung des _ menschlichen Gehörorgans. Wir lernen in
Huschke einen feinen, selbständigen Beobachter kennen, dessen Neu-
bearbeitung des Soemmerringschen Handbuches als eine ganz mo-
derne Arbeit bezeichnet werden kann*). Diesem Werke entnehmen wir
die folgenden uns interessierenden Daten : Der Winkel, den das Trommel-
fell mit der Axe des Gehörgangs bildet, beträgt 55 °. Die Fasern der
Substantia propria des Trommelfells sind weder elastischer noch mus-
kulöser Natur (E. Home und J. Fr. Meckel), sondern sehnig. Die
konzentrischen (zirkulären) Fasern sind an der Peripherie am zahl-
reichsten, die radiären überschreiten den Hammergriff, sich unter spitzem
Winkel kreuzend. Außerdem gibt es noch schräge Fasern. Nicht nur
die Epidermis, sondern auch die übrigen Schichten der Haut gehen in
die äußere Lamelle des Trommelfells über, die frei von Drüsen ist; die
innere Schichte ist von einem Plattenepithel überzogen und enthält Blut-
gefäßnetze und Nervenschlingen.
Am vorderen, spitzeren, etwas nach abwärts geneigten Ende des
ovalen Fensters fand er eine kleine Furche, die gegen den Zwischen-
raum der ersten und zweiten Schneckenwindung und dem Halbkanal
des Trommelfellspanners gerichtet ist; ein Befund, den er durch die von
ihm angenommene Entstehung des Fensters als fontanellenartiger Rest
der Intervertebralspalte des vorderen und hinteren Felsenbeinteiles zu
deuten versucht. Der obere und hintere Rand des ovalen Fensters ist am
breitesten. Da sich die Steigbügelplatte bei der Kontraktion des Stapes-
muskels auf den hinteren und unteren Rand des Fensters stützt, wird
die Stapesplatte oben und vorn am stärksten nach außen gezogen. Die
innere, dem Vorhof zugewandte Fläche der Stapesplatte ist leicht ge-
wölbt.
Die Ohrtrompete fand Huschke doppelt gekrümmt. Von oben
betrachtet, bildet sie ein flaches S. Die Konkavität des knorpeligen
Teiles richtet sich nach innen und hinten, während die der knöchernen
Tube sich nach außen, vorn und unten kehrt. Gleichzeitig erscheint die
Tube dadurch um ihre Achse gedreht, daß die untere Fläche des knöchernen
Teiles beim Uebergange in den knorpeligen zur vorderen äußeren und die
obere zur hinteren inneren wird. Diese Formverhältnisse lassen sich nur
durch Korrosion der Tube mit Wachs oder leichtflüssigem Metall, nicht aber
am Mazerationspräparate feststellen. Die Oberfläche der Tube ist an der
*) S. Th. Soemmerring, Lehre von den Eingeweiclen und Sinnesoi-ganen des
menschlichen Körpers. Umgearbeitet und beendigt von E. Huschke, Leipzig 1844-
360 Huschke.
Mündung von Flimmerepithel überzogen, im knöchernen Teile von Pflaster-
epithel.
Huschke leugnet das von Pappenheini l)eschriebene elastische
Kapselbändchen zwischen Amboß und Linsenbein und hält letzteres bloß
für einen Fortsatz des Amboßes. Die drei Hammerbänder, die richtig
beschrieben werden, bewirken, daß der Hammer weder nach vorwärts,
noch mit seinem Kopf nach abwärts, sondern bloß an seinem Griffe
gleichmäßig gegen die innere Trommelhöhleirwand gezogen werden kann.
Der Muse, tensor tympani spannt einerseits durch Zug am
Manubrium das Trommelfell an, andererseits drückt er den Hammerkopf
auf den Amboß und somit den Steigbügel in das ovale Fenster, wodurch
eine Spannung der Vor hofsteile eintritt. Durch die Kontraktion
des M. stapedius wird nicht nur die Stapesplatte nach außen bewegt,
sondern auch gleichzeitig der absteigende Amboßschenkel nach rückwärts
gezogen ; wodurch der Arnboßkörper und mit ihm der Hammer ebenfalls
nach außen rücken und das Trommelfell erschlafft wird*).
Die muskulöse Beschaffenheit des sogenannten M. laxator tym-
pani major (vorderes Hammerband) stellt er in Frage, für noch proble-
matischer hält er den kleinen Trommelfellerschlaffer. Er hat an seiner
Stelle bloß BindegeAvebsfasern und gegen den Hammergriff absteigende
Blutgefäße gefunden, nie aber quergestreifte Muskelfasern.
An den Bogengängen, die er in einen oberen, einen hinteren
und einen äußeren teilt, beschreibt Huschke eine dreifache Krümmung,
eine Randkrümmung und eine doppelte Flächenkrümmung. Sie wenden
sich teils mit einer Fläche beider Schenkel nach derselben Seite hin
(C-förmige Flächenkrümmung), teils mit jedem Schenkel nach entgegen-
gesetzter Richtung (spiral- oder S-förmige Schenkelkrümmung), wo-
durch eine nach zwei entgegengesetzten Richtungen spirale oder viel-
mehr windschiefe Stellung der beiden Schenkel gegeneinander entsteht.
Außerdem wird jeder Bogengang für sich in ausführlichster Weise be-
schrieben und die Maße nach gelungenen Korrosionspräparaten mitgeteilt.
Auch die beiden Aquädukte werden nicht übergangen.
An der Schnecke beschreibt Huschke unter anderem ein Neben-
spiralblatt (Lamina spiralis accessoria) als sehr schmale Leiste,
*) Schon Bon na fönt beschrieb im Jahre 1834 im Journal de Montpellier
(s. Schmidts Jahrbücher Bd. 8, S. 276) den Trommelfellspanner und den Steigbügel-
muskel als Antagonisten. Der Musculus stapedius zieht den Steigbügel nach
hinten und etwas nach außen. Dabei werden Amboß und Hammer mitbewegt und
zwar der Kopf des Hammers nach vorn, der Griff nach hinten und außen. Es ent-
spricht dies vollständig unserer heutigen Anschauung über die Mechanik der Binnen-
muskeln des Ohres. Huschke scheint aber von Bonnafonts Mitteilung keine
Kenntnis gehabt zu haben.
Buschke. 361
die in der ersten Hälfte von der äußeren Wand der ersten Windung
dem knöchernen Spiralblatt entgegenkommt. Genaue Messungen der
Höhe und Breite beider Schneckentreppen vervollständigen die- deskriptive
Anatomie der Schnecke.
Nach H u s c h k e ist das ganze knöcherne Labyrinth an seiner
inneren Oberfläche von einem zarten Häutchen überzogen, das aus zwei
Lagen besteht, einem äußeren periost- und einem inneren serosaähnlichen
Blatte, welch letzteres, von einem Pflasterepithel bedeckt, die Labyrinth-
flüssigkeit absondert. Die häutigen Bogengänge schweben frei in der
Röhre des knöchernen und werden an diese bloß durch zarte Fäden aus-
gespannt und festgehalten. Er weiß, daß die Yorhofsäckchen und Bogen-
gänge (Ampullen?) bloß zum Teil aus Nervensubstanz bestehen und
meint, daß sie als ektodermatische Bildungen anzusehen sind, keineswegs
aber als seröse Häute, für die man sie früher gehalten hat. Die an der
Eintrittsstelle der Nerven gegenüber den Siebflecken befindlichen Oto-
lithen hält er für eine Metamorphosierung der Oberhaut an dieser
Stelle. Sehr ausführlich ergeht er sich in der Beschreibung der Ohr-
kristalle. Am weichen Spiralblatt der Schnecke unterschied
Huschke eine knorpelige und eine häutige Zone. Die der Vorhofstreppe
zugewendete Fläche der knorpeligen Zone besitzt in der Nähe ihres
äußeren Randes eine hakenförmig nach außen gekrümmte Spiralleiste
(Crista spiralis acustica). An einem feinen Durchschnitt des knorpeligen
Spiralblattes sieht man demnach am äußeren Rande zwei Lippen und
zwischen beiden eine tiefe Furche (Sulcus s. Semicanalis spiralis), die
der Vorhofstreppe angehört. Von der Paukenlippe (Labium tympanicum)
geht die häutige Zone ab. Die nicht so weit vorspringende Vorhofs-
lippe, die frei in der Vorhofstreppe endigt, zeigt parallel nebeneinander-
stehende Zähne oder Warzen (Huschke sehen Zähne), die mit ihren
stumpfen Enden vorragen und von Treviranus irrtümlich für die als
Papillen endenden Nerven angesehen wurden. Huschke ist der An-
sicht, daß in der Vorhofslippe die eigentliche Tätigkeit der Schnecke
und des Spiralblattes ihren Hauptsitz hat.
Die häutige Spiralmembran zerfällt nach Huschke in einen
inneren, glatten, ungefalteten und einen äußeren, gefalteten oder ge-
faserten Teil. An der äußeren Grenze des ungefalteten Teils läuft
ein Streifen (Vas spirale) der Länge nach fort vom Anfang des Spiral-
blatts bis zum Trichter, weiter nach außen parallel mit ihm eine oder
mehrere Reihen gelblicher, unregelmäßiger Körperchen (C ortisches
Organ?)*). Der gefaserte Teil besteht aus durchsichtigen, von innen nach
*) Corti und Reisner weisen darauf hin, daß die Arbeiten Huschkes als
Vorstufe ihrer späteren Entdeckungen anzusehen sind.
362 Ev. Home.
außen ziemlich parallel nebeneinander nach der Schneckenwand ver-
laufenden Fasern, die Huschke an die Fasern eines Zabnschliffs er-
innerten. Das membranöse Spiralblatt hat nach Husch ke drei Lagen,
vmi denen die zwei oberflächlichen Fortsetzungen des Epithels, die
mittlere fibröse eine Fortsetzung des Periosts der Schneckenwindung ist.
Die M e m b r a n a t y m p an i secundaria setzt sich aus drei
Schichten zusammen, von denen die äußere eine Fortsetzung der Trommel-
höhlenschleimhaut, die innere eine Fortsetzung der Trommelhöhlentreppen-
bekleidung und die mittlere fibrösen Charakters ist, eine Schilderung, die
mit der früheren von Rio es und im 1 unserer heutigen Auffassung voll-
kommen übereinstimmt.
Huschke lokalisiert die Endolymphe bloß in die beiden Vor-
hofsäckchen und in die Bogengänge mit ihren Ampullen. Die Endo-
lymphe enthält nach seinen Untersuchungen mehr feste Bestandteile als
die Perilymphe. Merkwürdigerweise fand Huschke im Schneckenwasser
einzelne Kristalle, Würfel mit vierflächiger Zuspitzung.
Den Schluß der trefflichen Schilderung der Ohranatomie bildet die
Beschreibung der Blutversorgung des Labyrinths. Huschkes ent-
wicklungsgeschichtliche und vergleichend-anatomische Arbeiten werden
später berücksichtigt werden.
Besonderes Interesse erwecken jene Arbeiten dieses Zeitraums,
die nur einzelne Abschnitte des Gehörorgans und dessen feinere
Strukturverhältnisse betreffen. Aus der großen Anzahl der Spezial-
schriften sollen im folgenden nur die wichtigeren erwähnt werden.
Ein spezielles Studium wurde der Erforschung des Trommelfells ge-
widmet. Wir verweisen auf die Arbeiten von Home, Shrapnell, Cor-
nelius, Pappenheim u. a., die die Kenntnis von dem Baue dieser Mem-
bran wesentlich erweiterten.
Everard Home (1763—1832), entdeckte bei der Zergliederung von
Elefantenschädeln an der Innenseite des Trommelfells eine schon mit
freiem Auge sichtbare Anordnung radiärer Fasern. Denselben Befund
ergab die Untersuchung am menschlichen Trommelfelle mit Hilfe einer
23fachen Vergrößerung. Von der fast gleichzeitigen Entdeckung der
radiären und zirkulären Faserschichte des Trommelfells durch Leop.
Caldani (p. 274) hatte Home offenbar keine Kenntnis. Home hielt
irrtümlich die radiären Fasern für einen Muskel des Trommelfells 1). Der
mikroskopische Befund dürfte wohl kaum überzeugend gewesen sein, sonst
hätte Home nicht die folgende Hypothese zur Stütze seiner Ansicht
herangezogen. An einem gelungenen Injektionspräparate Dr. Bailies
fand Home, daß die Verlaufsrichtung der Blutgefäße am Trommelfelle
mit der der Iris übereinstimmt. Daraus schließt er, daß das Trommel-
fell gleich der Iris einen Muskel (Radiärfasern) besitzen müsse 2). Seine
Shrapnell. 363
genaue Beschreibung der Anordnung der radiären Faserschichte und der
Blutgefäße am Trommelfelle ist nicht neu, da wir sie in gleicher Ausführ-
lichkeit schon beim jüngeren Caldani (1. c.) und bei Ruysch (1. c.) finden.
Home verrät überhaupt eine erstaunliche Unkenntnis der Leistungen
seiner Vorgänger. So führte er — ohne Cotugno zu erwähnen — zum
Beweise, daß das Labyrinth mit Flüssigkeit gefüllt sei, in Gemeinschaft
mit einem Mr. Clift einen Versuch aus, den schon lange vor ihm Meckel
angegeben hatte, und es ist als verwunderlich zu bezeichnen, wenn er am
Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Ansicht, daß eine Kommunikation
zwischen Labyrinth und äußerer Luft bestehe, längst als irrtümlich ab-
getan war, sich noch zu folgender Aeußerung veranlaßt sieht: „These
cavities (das Labyrinth) are filled with a watery liqnor, and have no
communication (as the tympanum has) with the external air".
') When viewed in a microscope rnagnifying 23 fcimes, the muscular fibres are
beautifully conspicuous, and appear uniformly the same throughout the whole surface,
there being no central tendons, as in the diaphragrn ; the muscular fibres appear
only to form the internal layer of the membrane, and are most distinctly seen when
viewed on that side. Lecture on the structure and uses of the membrana tympani
of the ear. Philosophical Transact., London 1800, Part. I, p. 5. — 2) This corre-
spondence, in the number and distribution of bloodvessels, between the membrana
tympani and the iris. is a strong circumstance in confirmation of that membx-ane
being endowed with muscular action. 1. c. p. 6.
Henry John Shrapnell. Fast gleichzeitig mit der Arbeit Homes
erschien in den ..Philosophical Transactions" eine wertvollere Unter-
suchung des Trommelfells von Henry Jones Shrapnell*). Er ver-
gleicht die Form des Trommelfells, wie sie sich nach sorgfältiger Ent-
fernung der Knochenrinne präsentiert, mit der Gestalt eines Hufeisens.
Drei Viertel des Umfanges bilden ein richtiges Oval, von dem das letzte
Viertel gleichsam abgeschnitten ist. Am Umrisse der Membran unter-
scheidet er einen vorderen oberen Winkel in gleicher Höhe mit der Basis
des Jochbeinfortsatzes und einen hinteren mehr nach auswärts geneigten
Winkel unter dem Niveau des vorderen. Shrapnell war der erste, der
auf die Verschiedenheit in der Struktur der Membrana tympani hinwies.
Er unterschied einen zur Schallfortpflanzung geeigneten Teil von ge-
spannter Elastizität, der aus elastischen, strahlenartig angeordneten
Fasern, die sich einerseits in der Knochenrinne, andererseits in der Mitte
des Hammerstieles befestigen, besteht (Membrana tensa), und einen zur
Schallfortpflanzung ungeeigneten Teil von schlaffer Elastizität, der den
über dem kurzen Hammerfortsatze befindlichen I» i v i n i sehen Ausschnitt
*) Ueber die Form und Struktur der Membrana tympani in Frorieps Notizen.
Bd. 34, 1832, S. 18, übers, aus The London Medical Gazette Vol. X, 1832: On the
form and structure of the membrana tympani of the ear. Phil. Trans. 1800.
36 | Shrapnell.
ausfüllt (Membrana flaccida, auch Membrana Shrapnelli genannt). Shrap-
nell beobachtete, daß beim Einblasen von Luft in die Trommelhöhle
durch die Eustachische Röhre die Membrana flaccida sich ausbaucht,
während die Membrana tensa des Trommelfells verhältnismäßig unver-
ändert bleibt. Die einzelnen Details der Membrana tensa werden in ein-
gehendster Weise mitgeteilt.
Aus der eigentümlichen Konstruktion folgert Shrapnell, daß die
Fasern der Membrana tensa, deren muskulöse Beschaffenheit er in Ab-
rede stellt, krummlinige Formen in jeder Richtung darbieten, die nach
seiner Ansicht gerade am besten geeignet zu sein scheinen, eine Mannig-
faltigkeit feiner Bewegungen je nach der Schwingungskraft der Töne
hervorzubringen. Die Arterien des Trommelfells stammen vom
Ramus stylomastoideus der Arteria facialis und verlaufen von der Peri-
pherie und längs des Hammerstieles konvergierend gegen die Mitte der
Membran.
Die Membrana flaccida unterscheidet sich von der M. tensa
außer durch ihren schlaffen Zustand auch noch dadurch, daß sie nicht
in einer Knochenrinne befestigt ist, und daß die Fasern und Blutgefäße
in ihr unregelmäßig verteilt sind, daß sie selbst eine veränderliche Gestalt
besitzt, daß ihre innere Oberfläche durch Schleim schlüpfrig erhalten
wird, endlich dadurch, daß die Fläche der Membrana flaccida eben ist,
während die der Membrana tensa mehr nach auswärts in der Richtung
der oberen Wandung des äußeren Gehörganges geneigt ist.
Shrapnell spricht den Gedanken aus, daß die große Ausdehnungs-
fähigkeit der Membrana flaccida die gespannteren Fasern der M. tensa
vor den Wirkungen plötzlicher und lauter Töne, des Hustens und
Schneuzens schütze. Er hält sie auch für die zweckmäßigste Stelle zur
Punktion des Trommelfells, weil dieser Teil am leichtesten gesehen werde
und weil die perforierte Stelle die Funktion der schall-
leitenden Membrana tensa nicht störe.
Von geringem Weite ist die ebenfalls im Beginne des 19. Jahrhunderts er-
schienene Arbeit Brugnones*) über das Trommelfell, in der er abweichend von
Caldani, Cuvier u. a. die äußere und mittlere Schichte der Membran der Aus-
kleidung des äußeren Gehörgangs, die innere der Ohrtrompete und der Trommel-
höhle zuschreibt.
Vest und Wittmann regten die seit Haller schon erloschene Streitfrage
über das Foramen Rivini neuerdings an**), indem sie behaupteten, daß im mensch-
lichen Trommelfelle eine ovale, von zwei Fältchen begrenzte OefFnung (Kanal) vor-
komme, die schräg durch die Trommelhaut verlaufe und durch den Tensor oder
*) Mem. de l'acad. de Turin pour les arm. X et XI. Observation anatomiqucs
sur l'origine de la membrane du tympan et celle de la caisse 1805—08.
i „lieber die Witt mann sehe Trommelfellklappe " in den „Mediz. Jahrb.
Oest, 1819', Bd. V, p. 123—133.
F. Cornelius.
36^
Laxator tympani geöffnet oder geschlossen werden könne. Sie sei jedoch bloß von
oben zu sehen und fehle in vielen Fällen. Anbänger fand diese Anschauung nament-
lich in Berres*), der die Oeffnung bei 100 Köpfen 6— 7nial gefunden haben will,
und in Vests Sohn**). — Fleischrnann***) will das Foramen Rivini nur be
gewissen Tieren (Maulwurf, Yespertilio murinus etc.) gefunden haben.
Friedrich Cornelius. Einen wertvollen Beitrag zum Baue des
Trommelfells lieferte der russische Arzt Fr. Cornelius (1799 — 1848).
Unter den zahlreichen, meist uninteressanten Inauguraldissertationen dieser
Periode verdient seine unter dem Titel ..De membranae tympani usu",
Dorpat 1825, erschienene Arbeit deshalb Beachtung, weil sich in ihr
zum ersten Male die Beschreibung und Abbildung der „inneren Trommel-
fellfalte'" und der durch sie gebildeten „hinteren Trommelfelltasche'- findet,
v. Tröltsch, dem diese Dissertation gewiß nicht bekannt war, hat
■
Fig. 18. Innere Trommelfellfalte.
Reproduktion aus der Disser-
tationsschrift des Fr. Cornelius.
Fig. 19. Innere Trommelfellfalte
nach Wegnahme des Amboßes.
vom Hammer abgetrennt und
zurückgeschlagen. Aus derselben
Dissertationsschrift.
35 Jahre später diese Tasche als neu beschrieben. Sie wird nach ihm
„Tröltsch sehe Tasche" benannt.
Gelegentlich einer zur Lösung der Frage über die Existenz des
Foramen Rivini unternommenen anatomischen Untersuchung fand Cor-
nelius an der Innenseite des Trommelfelles eine Falte (Fig. 18), die er
nach Form und Begrenzung genau schildert: „membranulam triangulärem,
quae a tergo antrorsum ad malleum protensa huic est affixa". Wird
unter diese Falte eine Borste nach oben eingeschoben, so sieht man sie
an der äußeren Fläche des Trommelfells in der Foveola des Trommel-
fells (jetzt Membrana flaccida) durchschimmern. Hierdurch wird die
Kommunikation des Prussakschen Raumes mit der hinteren Trommel-
felltasche erwiesen.
*) Grundriß der Physiologie.
**) Ueber die Natur des Schallstrahles nebst einem Anhange über die Trommel-
fellklappe. Wien 1833-
***) Ueber die Muskeln des inneren Ohres. Berliner mediz. Zentralztg. 1836.
3(36 Th. Buchanan.
Cornelius hält die beschriebene Falte für eine Duplikatur des
Trommelhühlenperiosts, das auf die innere Trommelfellfläche übergeht1).
Er erläutert diese Verhältnisse an sehr guten Abbildungen (Fig. 18
und Fig. 10), die noch durch einen vollkommen richtigen Frontaldurch-
schnitt ergänzt werden.
An der Außenfläche des Trommelfells beschreibt Cornelius die
später auch von Prussak*) erwähnten und nach ihm benannten Streifen,
welche sich vom kurzen Hammerfortsatze zu der winkelig vorspringenden
Grenze des Rivinischen Ausschnittes hinziehen und die Grenze zwischen
Membrana tensa und flaccida des Trommelfells bilden. Nach Ablösung
der Membrana flaccida entdeckte er in dem zwischen dieser und dem
Hammerhals befindlichen Räume (jetzt Prussakscher Raum) eine kleine
dreieckige Falte ausgespannt 2). Das Trommelfell ließ er aus vier Schichten
bestehen, wie dies schon Winslow, Haller, Cassebohm vorher, später
auch Autenrieth annahmen. Die beiden innersten Schichten sollten
eine Duplikatur des Trommelhöhlen- und Gehörgangsperiosts darstellen,
während die äußerste der Haut des Gehörgangs, die innerste der Schleim-
haut der Trommelhöhle angehören. Das Foramen Rivini weist Cor-
nelius auf Grund zahlreicher Untersuchungen zurück.
') Membrana haec valvuliforaiis nihil aliud est, nisi plica periostei cavnm
tympani obducentis in longum dedueta, quae a periosteo, antequam in tympani
laminam internam abit, demittitur, quod ipse perspicue vidi. 1. c. p. 29. — 2) Ut
internam tympani faciem eo loco diligentius investigarem, ubi externe plicae reperi-
untur supra memoratae, a malleo membranam illam dissolvi, quam replicans intra
illam atque tympanum aliam conspexi membranulam pariter triangulärem, proxime
tympano, in extremo inter annulum tympanicum malleumque recessu. 1. c. p. 28.
Thomas Buchanan (1782—1853). Zu den Werken, die anatomisch-
physiologisch mehrere Abschnitte des Gehörgangs behandeln, zählt die
Arbeit des Praktikers und Surgeon am Dispensary für Augen- und
Ohrenkrankheiten, Thomas Buchanan, betitelt: „Physiological illu-
strations of the organ of hearing etc." (London 1828). In dieser werden
insbesondere die Ohrmuschel, der äußere Gehör gang und dessen
Drüsen einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.
Nach Buchanan verläuft der Gehörgang, dessen Länge l1/* bis
lx/2 Zoll beträgt, zuerst nach vorne oben, dann nach hinten und innen
und zuletzt nach unten, vorn und innen, verengert sich allmählich bis
etwa eine Linie vor dem Trommelfell, in dessen Nähe er sich wieder
erweitert.
Die untere längere Wand bildet am inneren Ende eine ovale Ver-
tiefung, die von Buchanan als ..Depressionalkurve" (ausgehöhlte Ver-
tiefung) bezeichnet wird (unser jetziger Sinus meat. aud. ext.). Auf die
") A. f. 0. Bd. III.
Th. Buchanan. 367
Resultate seiner eingehenden Messungen der Dimensionen des äußeren Ge-
hörgangs und des Trommelfells kann hier nicht näher eingegangen werden.
So bizarr auch die Ansichten Buch an ans über den Bau des Trominelfells
und über die Schallübertragung durch dasselbe sein mögen, so sind sie historisch
insofern interessant , als sie in dieser Periode den Stand der Ohranatomie und
Physiologie in England illustrieren. Die konische Form (Trichterform) des Trommel-
fells, die bei jugendlichen Individuen noch nicht vorhanden sei, entsteht nach
Buchanan dadurch, daß die Gehörknöchelchen und auch der Hammergriff, mit dem
das Trommelfell verbunden ist, verhältnismäßig rascher wachsen als die Trommel-
höhle (?) ; befördert wird ferner die Konkavität durch die große Menge der ein-
fallenden Schallwellen, die das Trommelfell nach innen drängen, durch das Wachs-
tum des Sulcus tympanicus und durch die Wirkung des Trommelfellspanners und
des Steigbügelmuskels (?). Der wichtigste Vorteil der Schräglage des Trommelfells,
dessen Radiärfasern nach Home er für muskulös hält, sei der, daß dadurch die von
ihm reflektierten Schallwellen in die ausgeschweifte Grube des äußeren Gehörgangs
gelangen und dort von dem sich bis dorthin erstreckenden röhrenförmigen Ueberzuge
des Ohrenschmalzes absorbiert werden , wodurch angeblich die Entstehung eines
Widerhalls im Ohre verhindert werde. Buchanans Angabe, daß die Ohrschmalz-
drüsen eine Linie innerhalb der Oeffnung des Gehörganges anfangen und sich bis
auf eine oder eine halbe Linie vor dem Trommelfell erstrecken, ist längst als un-
richtig erwiesen worden. Auf die Pathologie und Therapie Buchanans werden wir
später noch zu sprechen kommen.
Wesentlich abweichende Angaben über den Bau des äußeren Gehörgangs und
des Trommelfells finden sich bei den zeitgenössischen Forschern. So behauptete
Krause*), daß die häutigen Lamellen des Trommelfells nach oben zu auseinander-
weichen, weshalb die Membran an dieser Stelle schlaffer sei als deren untere Hälfte.
Pappenheim**) nimmt fünf Schichten am Trommelfell an: Epidermis,
Beinhaut des äußeren Gehörgangs, eigentliche Haut des Trommelfells, Beinhaut der
Trommelhöhle und Schleimhaut. Die konzentrischen Fasern hören in einiger Ent-
fernung vom Hammergriffe auf.
Lincke***) zerlegte durch Mazeration das Trommelfell in ein inneres und
ein äußeres zartes Blatt, von denen das eine nach seiner Ansicht vom Trommel-
höhlen-, das andere vom Gehörgangsperiost seinen Ursprung herleitet. Die am
Hammergriff dichter zusammentretenden und stärker entwickelten radiären Fasern
verleihen dem Trommelfelle an dieser Stelle besondere Festigkeit.
Schließlich sei noch die Dissertation des Schweizer Arztes Alexius Theodor
Aeplif) erwähnt, die eingehend die Gefäße und Nerven des Trommelfells behandelt,
vorzugsweise aber auf den Arbeiten von Caldani, Home und Shrapnell fußt.
Außer den genannten Publikationen findet sich in fast allen anatomischen,
physiologischen und otiatrischen Werken dieses Zeitraumes manches Bemerkenswerte
über die Anatomie des äußeren Gehörgangs und des Trommelfells, so bei Auten-
rieth und Magendie (s. später), ferner bei J. F. Meckel1). Rosenthal2), Tram-
pel3), Berres4), Lauth5), Bock6), Hempel7), Rudolphi8), E. H. Weber9),
Seiler10), Tod11), Lenhossek 12), Jung13) u.a.
*) Handb. d. menschl. Anatomie. Hannover 1836.
**) Frorieps Notizen 1838.
|;**) Handb. d. Ohrenheilk. Bd. I, 1837.
f) De membrana tympani. Gynopedii 1837.
368 Blumenbach. Anth. Carlisle.
]) Handb. d. menschl. Anatomie Bd. IV. Halle 1815—1820. — 2) Handb. d.
chirurg. Anatomie. Berlin 1817. — 3) Wie erhält man sein Gehör gut etc. Han-
nover 1822. — 4) Anthropotomie oder Lehre vom Baue des menschlichen Körpers.
Wien 1835. Bd. I. — 5) Neues Handb. d. prakt. Anatomie. Stuttgart und Leipzig
1835. 1836. Bd. T. — G) Handb. d. prakt. Anat. Meißen 1819—22. — 7) Anfangs-
gründe d. Anat. d. menschl. Körpers. Göttingen 1801—33. — 8) Grundriß der Physio-
logie Bd. II. Berlin 1821—28. — 9) Meckels Archiv 1827. p. 233. — 10) Im Med.
Realwörterbuch von J. F. Pierer, Altenburg 181(>— 29, Bd. V. — n) Anatomy and
physiology of the organ of hearing. London 1832. — '-) Physiologia medicinali*.
Pest 1816 — 18, Vol. IV. — 13) Vom äußeren Ohre und seinen Muskeln beim Menschen.
Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel 1849.
Die Ohrenschmalzdrüsen beschrieben am Anfange dieses Jahrhunderts
R. Wagner1). Krause2), Henle3), Kohlrausch, Valentin, Pappenheim u.a.
und stellten durch mikroskopische Untersuchung ihre tubulöse Beschaffenheit fest.
Ueber die Chemie des Ohrenschmalzes stellten Foucroy, Vauquelin
und Berzelius4) gründliche Untersuchungen an. Ferner schrieben über diesen
Gegenstand Th. Schreyerr') und C. Fromherz 6).*)
]) Icones pbysiologicae. Leipzig 1839, Tab. XVI. — 2) In Müllers Archiv 1839.
— 3) Allgem. Anatomie S. 915. — ') Lehrbuch der Tierchemie. Dresden 1831. —
5) Allg. Enzykl. d. Wissensch. u. Künste. Leipzig 1832, Sekt. III, Bd. III, p. 332—333.
— 6) Lehrb. d. med. Chemie, 2 Bde. Freiburg 1834, Bd. II, p. 226.
Um die Erweiterung der anatomischen Kenntnisse vom Bau der
Trommelhöhle, der Gehörknöchelchen, ihrer Muskeln und
Bänder machten sich in diesem Zeiträume zahlreiche Forscher verdient.
Blumenbach wies zuerst nach, daß das Linsenbein nicht ein
eigenes Knöchelchen, sondern eine Apophyse des langen Amboßschenkels
sei, eine Ansicht, der später auch Shrapnell1) beitrat. Blumenbach
fand ferner an der hinteren Fläche des Stapesköpfchens zwei Grübchen,
die dem Ansätze der Sehne des M. stapedius dienen.
Saunders2) gab genauere Maßangaben der Trommelhöhle. Nach
ihm ist ihr Tiefendurchmesser in der Gegend des ovalen Fensters am
größten, der Schneckenspitze gegenüber am kleinsten.
Anthony Carlisle gibt in seiner Arbeit 3) eine eingehende Schil-
derung der anatomischen Verhältnisse des Stapes beim Menschen, der
eine vergleichende Anatomie des Stapes bei den verschiedenen Säuge-
tieren und der Columella bei Vögeln und Amphibien angefügt ist. Dem
Texte ist eine mit vorzüglichen Abbildungen ausgestattete Tafel, ent-
haltend die bildliche Darstellung des Stapes und seiner Homologen in
der Tierreihe beigegeben.
Weniger glücklich ist Carlisle in seinen physiologischen Reflexionen.
So nimmt er irrtümlich an, daß der Musculus stapedius bei seiner Aktion
*) Nach Schwartze (A. f. 0. VII) fanden Wedel und Haygart, daß
Ceruinen am besten im Wasser löslich sei, was später auch von Petrequin be-
stätigt wurilr.
Ansichten über Endignng des Vorhofsnerven. 385
Abschnitt des Spiralblattes, wo sie sich in Fibrillen teilen, die sich ihrerseits in sehr
feinen Endschlingen vereinigen, sich aber nicht in den äußeren durchsichtigeren,
bloß aus Bindegewebsfasern bestehenden Teil der häutigen Zone (Zonula pectinata)
fortsetzen. Nach seiner Beschreibung ist das ganze Spiralblatt von Gangli'enkugeln
bedeckt.
Pappenheim glaubt, daß der Stamm des Schneckennerven ganz von einer
breiten rötlichgrauen Schicht bedeckt sei, die nur aus Ganglienzellen bestehe; der
N. modioli enthalte Ganglien und der N. vestibuli habe hinten und außen eine röt-
liche gangliöse Schicht.
Hannover fand ein Epithel in der Schnecke vor. Er bestritt die An-
sicht Breschets, daß das Neurilem direkt in die membranöse Zone übergehe.
Todd und Bowman unterschieden au der Spiralplatte eine „laruina denticulata"
und eine „Zona membranacea", welch letztere sie wieder in zwei Abschnitte teilten,
in eine „inner clear belt" (Zylinderkörperchen mit einem dickeren Ende), in eine
„pectinate portion" und eine „other clear beif. Die verdickte Periostalpartie an
der äußeren Schneckenwand bezeichneten sie als „Zona muscularis laminae spiralis",
die einen „Musculus cochlearis" einschließt. Kölliker fand jedoch hier keine
glatten Muskelfasern und nannte diese Partie wegen ihrer bindegewebigen Natur
„Ligamentum spirale" 22). Ebenso verschieden waren die Angaben Wharton
Jones23), Hilde brandt-Webers 24), Mand 1 s 25) und Arnolds über die Nerven-
endigungen in der Schnecke. Am meisten kam noch Husch kes Beschreibung der
Wirklichkeit nahe.
Reichert26) äußert sich überHuschkes (siehe S. 361) Untersuchungen über
die Nervenendigungen des Acusticus in der Schnecke ungefähr folgendermaßen: „Auch
das Cortische Organ istHuschke nicht unbekannt geblieben; er hat aber dasselbe
gleichfalls nur beim Säugetierfötus wahrgenommen. Er beobachtete, daß an jener,
der späteren Vorhofstreppe zugewendeten Wand des plattgedrückten Schneckenkanals
eine feine Leiste sich erhebe und als spiraler Längsstreifen an der Windung hin-
ziehe. Huschke ist der Ansicht, die auch von späteren Anatomen vertreten wird,
daß in derselben die Schneckennerven sich verästeln und enden, und gibt ihr des-
halb den Namen ,Nervenwarze' (Papilla spiralis); er hält es ferner für wahrschein-
lich, daß sie sich bei Erwachsenen zur Crista spiralis acustica (Spiralleiste) um-
wandeln. Daß Huschke in Wirklichkeit die Gegend des häutigen Schneckenkanals
vor sich hatte, geht aus seiner Schilderung der mikroskopischen Beschaffenheit seiner
sog. ,Spiralnervenwarze' hervor. Huschke spricht hier von einer aus perlartig
aneinander gereihten Kügelchen zusammengesetzten Spiralen Linie. In der Tat ge-
währen namentlich die oberhalb der äußeren Cor tischen Fasern gelegenen größeren
Epithelzellen (Corti sehen Zellen) bei reiferen Fötus ein solches mikroskopisches
Bild. Ebenso erwähnt Huschke eine Lage von Kegeln, die den erwähnten Kügel-
chen ansitzen, das Aussehen von Zellen des Zylinderepithels haben und die wohl nur
auf die Fasern des C ortischen Organs bezogen werden können." Hinzuzufügen
wäre noch, daß nach Huschke die Fasern, sich fortwährend verästelnd, in die
Gegend der Spiralleiste gelangen, wo sie als Schlingen endigen27).
Die Endigungen des Vorhofsnerven hat vor allem Breschet
ausführlich beschrieben.
Nach ihm verteilen sich die drei Bündel des N. vestibularis in der Weise, daß
ihre Nervenfäden nach ihrem Eindringen in die Vorhofssäckchen von einer Scheide
umgeben werden, welche die Fasern bis zu ihrer Entfaltung umgibt und bewirkt,
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1. 25
386 Zur Literatur des -19. Jahrhunderts.
daß sie einen kleinen Vorsprung in den Sack hilden. Im Niveau dieses Vorsprungs
anastomosieren die Fäden und bilden miteinander Bogen. Wo die Nervenendigungen
von ihrem Neurilem verlassen werden, sind sie in unmittelbarer Berührung mit dem
Ohrsande. Aehnlich ist es um die Nervenendigung in den Ampullen bestellt. Der
Nerv durchbohrt die Membran der Ampulle und wird von ihr mit einer Scheide
versehen, die ihn bis zu seiner Auflösung in ein maschenförmiges Netz begleitet. Im
Innern der Ampulle bildet der Nerv eine unvollkommene Scheidewand von halbmond-
resp. krückenförmiger Gestalt. Von dieser Scheidewand an verteilt sich der Nerv
in eine Menge Fäden, die miteinander anastomosieren und ähnlich wie auf der
Spiralplatte endigen. Ueber Steif ens an ds Verdienste um die Beschreibung der
Nervenendigungen in den Ampullen haben wir schon gesprochen (siehe S. 377).
Wie aus obigem hervorgeht, ist Breschet in mancher Beziehung der Schilderung
Steifensands ohne Angabe der Quelle gefolgt.
J) Beiträge zur Otiatrie. Erster Beitrag. Ueber eine neue im Ohre entdeckte
Nervenverbindung. Acta regia societ. Med. Haf. Hafniae Vol. V. p. 292 ff. 1816.
In M eckeis Arch. Bd. V, p. 252, 1819. — 2) Diss. inaug. med. sist. observationes
nonnullas neurologicas de parte cephalica nervi sympathici in nomine. Heidelberg
1826. Beschreibung des Kopfteils des sympath. Nerv, nebst einigen Beobachtungen
über diesen Teil beim Menschen. Tiedemanns u. Treviranus' Zeitschr. für
Physiologie 1827. Bd. II. p. 125—172, Tab. VIII. Ueber den Ohrknoten, eine
anatomisch-physiol. Abhandl. Heidelb. 1828. Einige neurologische Beobachtungen.
Tiedemanns u. Treviranus' Untersuchungen etc. Bd. III, p. 147. 1*29. Der
Kopfteil des vegetat. Nervensyst. beim Menschen in anat. u. physiol. Hinsicht. Mit
Kupferstich. Heidelb. u. Leipz. 1831. Einige Worte zu den Bemerkungen des Hrn.
Prof. Dr. Schlemm in Berlin über den angeblichen Ohrknoten. Frorieps Notizen
Bd. 31, Jahrg. 1831. Ueber den Canalis tympanicus u. mastoideus. Tiedemanns
u. Treviranus' Untersuchungen etc. Bd. IV, p. 283; 1832. Icones nervorum capitis.
Heidelb. 1834, 1860. Bemerkungen über einige Entdeck, u. Ans. in d. Anat. u.
Physiol. Ueber den Ohrknoten, Bd. IV, S. 184, 1834. Physiologie. Zürich 1836 bis
1838. — 3) Beschreibung des fünften Nervenpaares und seiner Verbindungen mit an-
deren Nerven vorzüglich mit dem Gangliensystem. Meißen 1817, 1821. — 4) Ueber
das Ganglion oticum Arnoldi. In M eckeis Arch. Bd. VI, p. G7, 1832. — 5) Note
sur la veritable origine du nerf propre au muscle tenseur de la membrane du tym-
pan, ou muscle interne du marteau. Repertoire generale d'anatomie et de Phy-
siologie pathologique etc. redige par Breschet. T. VI, Part. I, p. 92—95. Paris
1828. — 6) De nervi sympathici humani fabrica, usu et morbis. Paris 1823. Com-
ment. anat. phys. path. Tab. aer. et lith. illust. § 50, p. 37. — 7) Diss. inaug. med.
sist. plexus nervi sympath. cum nervis cerebralibus. Cum tab. aer. incis. p. 31—34.
Heidelb. 1S24. Untersuch, über die Verbindungen des sympath. Nerv, mit d. Hirn-
nerv, p. 23. Heidelb. 1825. — 8) Bemerk, üb. d. angebl. Ohrknoten (gangl. oticum).
Frorieps Not. Bd. 30, p. 337, Jahrg. 1831. Observ. neurolog. Berol. 1834. —
9) Ueber d. Ohrknoten. Frorieps Notizen Jahrg. 1831. — 10) Observ. anatom. de
parte cephalica nervi symp. eiusque conjunctionibus cum nervis cerebralibus. Cum
tab. lith. Francof. a. M. 1831. — n) Diss. inaug. sist. prodromorum observationum
circa ganglion Arnoldi oticum in homine variisque animalibus factarum. Lips. 1832.
— 12) Vom Ganglion oticum. Frorieps Notizen Jahrg. 1833. — 1S) Nouvelles
recherches sur les nerfs de l'oreille. Paris 1835. — M) Anat. u. Phys. d. Ganglion
oticum. Lond. med. gaz. Mai p. 690. — 15) Diss. inaug. quae quaedam de nervo
intercostali notantur. Praes. Dr. Casim. Schmiedelio. Erlangen 1754: Jpsa
tarnen haec propago (ram. prof. n. V.) non semper tota in nervum intercostalem im-
Zur Literatur des 19. Jahrhunderts. 387
penditur, sed interdurn bifida est, et unus saltern ejus ramus intercostali cedit, alter
vero carotidis flexuram oblique emensus, et parieti canalis carotici opposito proprior
factus. iterum in raraos discerpitur, eosque tres subinde, quorum medicis maxime
notabilis per propriam in canali dicto aperturam ad cavum usque tympani pertingit,
et ibidem non solum sursum ramulos aliquos dimittit, circa cellulas, sub quibus
corpus Cochleae absconditum latet, in periosteo distributos, sed et alios rectiori magis
via versus foramen rotundum Cochleae delatos: quin etiam denique adhuc amplius
divagatur et inter alia durum os penetrans, ipsi tympani inservit per ramum satis
insignem, qui ad sulcum annuli , in quo tympanum haeret amandatur. — ■ 16) Frag-
mentum descriptionis nervorum cardiacorum dextri lateris jam ante aliquot decennia
typis impressum, nunc demum a. 1791 subjuncta auctoris tabula notulisque adjectis
editum a. S. Th. Soemmerring, Ludwig script, neur. min. tom. II: Nam et
notatu dignissimum licet angustum canalem offert (receptaculum ganglioli petrosi),
qui ex ejus suprema parte in auditus Organum internum retrorsum continuatus ner-
vulum continet ex illius ganglioli ventris suprema parte eductum. — 17) Salzb. med.
chir. Zeitung 1790, Bd. 4. Aus dem Felsenknoten entstehen gewöhnlich zwei Fäd-
chen, von denen eins durch einen eigens gebildeten Knochenkanal in die Pauken-
höhle verläuft und sich auf eine besondere Weise verteilt. — lh) Reils Arch. f.
Phys. Bd. IV. p. 105, 1800, Prüfung der Bemerkungen über die Physiol. d. Gehörs
v. J. D. Her hold. - - ,9) Med. chir. transact. vol. IX, p. 425 und M eck eis Arch.
Bd. V, p. 257, Bemerkungen über einige mit der Physiologie u. Pathol. des Gehörs
in Beziehung stehenden Punkte. — 20) Ueber die Chorda tympani. Anatomiscn-
physiologische Beobachtungen. Omodei Ann. univ. di Medic. Maggio 1842. Vgl.
ferner Lond. Med. Gaz. 1842 und Frorieps Notizen, Jahrg. 1843. — 21) De rariore
encephalitidis casu. Berol. 1834. — 22) Zeitschr. f. wissensch. Zoolog. 1849. Vgl.
v. Stein, Die Lehren von den Funktionen der einzelnen Teile des Ohrlab., übers,
v. Krzywicki, p. 83. — 23) Todd Cyclopaed. Vol. II. p. 259. — 24) Anatomie des
Menschen, Bd. IV, p. 34. - - 25) Anatomie microscopique , 1842 , chap. IV, p. 357,
Organe de l'ouie. — 26) Beitrag zur feineren Anatomie der Gehörschnecke des Men-
schen u. der Säugetiere. Berlin 1864, p. 2. — 27) 1. c. p. 889.
Auch die Anatomie des Schläfenbeins fand manche Erweiterung durch
Soemmerring1), Blumenbach2), Brugnone3), Ribes4), Itard5), Esser'1),
Breschet7), Arnold8) u. a. Arnold entdeckte den Canaliculus mastoideus, in dem
der R. auricularis n. vagi verläuft und beschrieb den schon von Andersch und
Ehrenritter gekannten Canaliculus tympanicus (für den N. Jacobsonii) genauer.
Brugnone stellte genaue Messungen an und bestimmte unter anderem die Länge
der beiden Aquädukte.
i) ]_ C- — 2) i. c. — 3^ ]_ e_ — 4) Memoires de la societe medicale d'emulation.
Paris 1811. Vol. VII, p. 7. Bulletins de la societe medicale d'emulation. Paris
1823, p. 615. — 5) Traite des maladies de l'oreille, T. I. — 6) Ueber die Verrich-
tungen der einzelnen Teile des Gehörorgans. Kastners Archiv für die gesamte
Naturlehre. Bd. XII, S. 52—114, 1827. — 7) 1. c. — 8) Ueber den Canalis tymp. u.
mast. Tiedemanns Zeitschr. f. Physiol. Bd. IV.
Zur Literatur der Anatomie des Gehör Organe s.
Pappenheim, Beiträge zur Kenntnis der Struktur des gesunden Ohres. Fro-
rieps Notizen, Bd. VII, 1838. — Derselbe, ATon dem Bau des häutigen Labyrinthes.
Zweiter Beitrag zur Kenntnis des gesunden Ohres. Frorieps Notizen, Bd. IX, 1839.
— A. Römer, Ueber den Bau und die Endigung der Spindel der Schnecke des
Hyrtl.
menschlichen Gehörorgans. Med. Jahrb. d. k. k. Osten*. Staates. XVIII. 1839. —
Beule, Allgemeine Anatomie. Leipzig 1841. — Verga, lieber die Chorda tympani.
Cur. Panizza Gazzetta medica. 1842. — Munter, Beiträge zur Kenntnis des häutigen
Labyrinths mit Rücksicht auf die wichtigsten Erkrankungen des Gehörorgans. Bd. I.
1843. Ref. in Cannstatts Berichten. Bd. III. — Mueg, Betrachtungen über die
Membran und Flüssigkeit des Labyrinths in Beziehung zur Taubheit. 1843. — Yung,
Von dem äußeren Ohr und seinen Muskeln beim Menschen. Bericht über die Ver-
handl. der naturforsch. Gesellsch. in Basel 1849. — Czermak, Verästelungen der
Primitivfasern des N. acusticus. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. IL 1850. — Bendz, De
anastomosi Jacobsonii et Ganglio Arnoldi. Hafniae 1833.
Die vergleichende Anatomie des Gehörorgans hat, wie die
zahlreichen einschlägigen Spezialarbeiten dieser Periode zeigen , seit
Comparetti und Galvani bedeutend an Umfang gewonnen. Es würde
uns zu weit führen, auf die Geschichte der vergleichenden Anatomie des
Ohres näher einzugehen. Es soll daher im folgenden dieser Abschnitt
nur in seinen Hauptzügen dargestellt werden*).
Der Arbeiten Monros und Cuviers wurde bereits Erwähnung
getan. Hier nennen wir noch: Schelver1), Dumeril2), Jörg3),
HV. Home4-7.), Blair8), Carus9), Geoffroy Saint-Hilaire 10-~14),
Pohl15), Bojanus16), E. H. Weber17), Jan van der Hoeven 18~19),
Anders Retzius20), Ducrotay de Blainville 21), F. Blumenbach22),
G. R. Treviranus23"25), Huschke 2,;-29), Otto 80), Windischmann31),
Breschet32), Hagenbach33), Mayer31.), Steifensand 35), J.Müller 3,i),
Hyrtl37"46), E. Hallmann47), Bischoff48), A. Ecker49), Ibsen50),
A. Hannover51), Stannius52), Rathke53), Owen54), F. Platner55),
W. Stricker56) u. a.
Zunächst sei hier eines der glänzendsten Repräsentanten der ver-
gleichenden Anatomie des Gehörorgaus gedacht:
Joseph Hyrtl. Zu den hervorragendsten Anatomen des 19. Jahr-
hunderts, die ihr besonderes Augenmerk der Anatomie des Gehörorgans
zuwendeten, zählt vor allem Joseph Hyrtl. Am 27. Dezember 1811
zu Eisenstadt in Ungarn geboren, absolvierte er seine medizinischen
Studien in Wien, wo er bereits 1833 in der Anatomie eine Prosektur-
steile erhielt. Im Jahre 1837 wurde er zum Professor der Anatomie
an der Universität Prag ernannt, und 1845 auf den Lehrstuhl der Ana-
tomie an der Wiener Universität berufen. Hier erwarb er sich den Ruf
eines glänzenden Lehrers und entwickelte eine an Ergebnissen überaus
reiche wissenschaftliche Tätigkeit. Eine zunehmende Augenschwäche
nötigte ihn 1874 auf sein Lehramt zu verzichten und sich auf seinen
*) Eine ausführliche historische Darstellung der vergleichenden Ohranatomie
enthält das klassische Werk Gustaf Retzius: „Das Gehörorgan der Wirbeltiere".
Stockholm 1881 u. 1884.
Tafel XXII
WjMBJf
^C;
V» ■
JOSEPH HYRTL
Hyrtl. 389
Landsitz nach Perchtoldsdorf bei Wien zurückzuziehen, avo er aber bis zu
seinem 1894 erfolgten Tode wissenschaftlichen Arbeiten oblag.
Die umfassende Tätigkeit, die Hyrtl, ein Meister in der anatomi-
schen Technik, namentlich der Gefäßinjektion und Korrosion, ■ auf ana-
tomischem Gebiete entfaltete, kam nicht zum geringsten Maße der
Anatomie des Gehörorgans zu gute. Vor allem verdankt ihm die ver-
gleichende Anatomie des Ohres bedeutende Förderung.
Während die vergleichende Morphologie der Gehörorgane der drei
unteren Klassen der Vertebraten schon vor Hyrtl der Gegenstand ge-
nauer und ergebnisreicher Untersuchungen war, besaß die Literatur der
vergleichenden Anatomie der Säugetiere nur einige Fragmente
über den Bau des inneren Ohres. In der Arbeit ., Vergleichend- anatomi-
sche Untersuchungen über das innere Gehörorgan des Menschen und der
Säugetiere"12) unternahm es nun Hyrtl, diese Lücke auszufüllen. Er
gibt hier eine klassische Schilderung der Varietäten der Trommelhöhle,
der Gehörknöchelchen und des Labyrinthes aller Säugetiergenera , wel-
cher er die Resultate seiner Messungen des Trommelfells, des Trommel-
fellringes , der Gehörknöchelchen , der Bogengänge , der Schnecke , des
runden und ovalen Fensters bei den verschiedenen Säugetieren beifügt.
Alle aufgefundenen Typen sind auf neun wertvollen Kupfertafeln erläutert,
die Hyrtl nach den von seiner Meisterhand verfertigten Präparaten seines
Privatmuseums abbilden ließ*).
In dieser Arbeit gelangt Hyrtl auf Grund genauer Untersuchungen zu dem
Ergebnis, daß weder beim Menschen noch bei irgend einem Säugetier ein Foramen
Rivini existiert. Nur bei Membranen, die mit dem Schläfenbein längere Zeit maze-
riert und getrocknet worden waren, sah er manchmal hinter dem Griff des Hammers
und knapp an ihm eine Oeffnung, die das Trommelfell direkt durchbohrt, und durch
Abreißen der infolge des Mazerierens aufgequollenen Membran vom Hammergriff
während des Trocknens entstanden ist.
Nach Hyrtls sorgfältigen vergleichend-anatomischen Untersuchungen 3:) zeigi
die durch das Steigbügelloch beim Menschen verlaufende Arterie zwei Varietäten:
Die eine ist die A. meningea media accessoria der Maxillaris interna, die den
Boden der Trommelhöhle durchbohrt und über das Promontorium durch die Mem-
brana obturatoria des Steigbügels und durch ein Loch des Tegmen tympani zur
Dura zieht. Die zweite ist die A. stylomastoidea oder ein Ast derselben, die bis-
weilen nicht durch das Foramen stylomastoideum in den Canalis facialis, sondern
durch eine eigene Oeffnung in die Trommelhöhle eindringt, mit der unteren Trommel-
fellarterie anastomosiert und die Jakobsonsche Nervenfurche am Promontorium
benützend, durch den Steigbügel zum Fazialkanal gelangt. In einer anderen ver-
gleichend-anatomischen Arbeit") hebt Hyrtl hervor, daß er nicht im stände war.
*) Diese in ihrer Art einzigen Präparate wurden nach Hyrtls Tode für das
Müttermuseum in Philadelphia erworben und ich hatte bei meinem Aufenthalt in
Amerika im Jahre 1893 die Freude, diese Sammlung, die in einem eigenen Saale
ausgestellt ist und die Bewunderung aller Fachmänner erregt, zu besichtigen.
390 n.vrti. ^
i leine Injektion der Aquädukte Gefäße in ihnen nachzuweisen. Um bloße
Kanäle für feine tiefäße zu sein, dazu wären sie bei mehreren Tieren (Kalb, Del-
phin) zu groß.
In den medizinischen Jahrbüchern (1841) 40) beschrieb Hyrtl einen neuen
Ohrmuskel, dem er den Namen M. styloauricularis gab. Er setzt sich einerseits
am Processus styloideus, anderseits an der unteren Fläche des knorpeligen äußeren
Gehörganges an. Er vermag nach Hyrtl die Ohrmuschel nach unten zu ziehen und
den Gehörgang zu erweitern. An Stelle des Muskels tritt zuweilen ein bindegewebi-
ger Strang.
In einer kleinen Arbeit45) macht Hyrtl auf einen häufig vor-
kommenden, praktisch nicht unwichtigen Befund aufmerksam. Bei Unter-
suchung von 34 geöffneten Schädeln und 62 isolierten Schläfenbeinen
fand er nämlich, daß das Tegmen tympani oft im höchsten Grade
verdünnt und durchscheinend ist und daß es auch einzelne oder gruppierte
Löcher von der Kleinheit eines Nadelstiches bis zu Hirse- und Hanf-
korngröße zeigt, die man leicht mit Knochenkaries verwechseln kann.
Der häufigste Sitz dieser Lücken im Tegmen tympani ist über und etwas
hinter dem Hammer-Amboßgelenke oder auch am hinteren Abschnitte der
oberen Trommelhöhlenwand, nahe an der Sutura petrosquamosa. Seltener
kommen sie in der Nähe des Hiatus canalis Fallopiae vor, oder außerhalb
von ihm oder mit ihm zusammenfließend, oder längs der oberen Wand
der knöchernen Ohrtrompete. Dehiszenzen der Cellulae mastoideae
beobachtete er im Sulcus petrosus superior hinter seiner Kreuzung mit
der Prominenz des oberen Bogenganges, entsprechend der Einmündungs-
stelle dieser Furche in den Sulcus sigmoideus des Warzenteils*). Er fand
sie ferner im Sinus sigmoideus, am seltensten aber außen in der Rinde
des Warzenfortsatzes und zwar an der inneren Wand der äußeren Lefze
der Incisura mastoidea in unmittelbarer Nähe seiner Spitze. Das ätio-
logische Moment dieser Dehiszenzen ist keineswegs in Knochenatrophie
oder Altersmetamorphose zu suchen, zumal sie an Schädeln jüngerer
Individuen vorkommen, an sehr alten Schädeln mit Knochenschwund öfters
fehlen, hinwiederum an auffallend dicken und starken Schädeln vorhanden
sind, und Hyrtl ist geneigt, anzunehmen, daß in manchen Fällen bei
dem in der Gravidität gesteigerten Bedarf an Kalksalzen diese dünnen
Knochenflächen leicht durchbrochen werden. In anderen Fällen spielt
vielleicht dabei die üble GeAvolmheit des kräftigen Schneuzens eine Rolle.
Zu Gunsten der letzteren Ansicht spricht der Umstand, daß es meist
aufgeblähte Trommelhöhlen sind, in denen Dehiszenzen beobachtet werden.
In pathologischer Beziehung ist ihr Vorkommen deshalb bedeutungsvoll,
*) Sie ist nicht zu verwechseln mit einem Loche für eine Vena diploetica, das
immer kreisrund ist, während eine spontane Dehiszenz eine Oeffnung „cum margine
crenato" bedingt.
Hyrtl. 391
weil einerseits Eiteransammlungen in der Trommelhöhle die obere Wand
leicht durchsetzen oder sich auf die beiden Sinus fortpflanzen können,
während anderseits intrakranielle Abszesse sich in die Trommelhöhle
und durch das zerstörte Trommelfell nach außen ergießen können, ohne
daß man dabei Caries des Tegmen tympani voraussetzen müßte. Ferner ist
durch geringfügige Traumen die Möglichkeit zum Bruche der äußeren
Platte des Warzenfortsatzes und infolgedessen zu emphysematösen Ge-
schwülsten hinter dem Ohre gegeben. (Vergl. die neueren Befunde bei
Dehiszenz des Tegmen tymp. in Politzer, Lehrbuch der Ohrenheil-
kunde, 4. Aufl. S. 19.)
In seiner Arbeit über Korrosionsanatomie46) hat Hyrtl die Kor-
rosion, die bis dahin nur geringe Anwendung in der anatomischen
Technik gefunden hatte, auch für die Anatomie des Gehörorgans wissen-
schaftlich verwertet. Nach einer eingehenden Auseinandersetzung der Kor-
rosionsmethoden, Avie sie am Gehörorgan zur Anwendung gelangen, be-
richtet er über seine Befunde bei Injektion des äußeren Gehörgangs, der
Trommelhöhle, der Cellulae mastoideae und der Tuba Eustachii. Hier
wurde für die topographische Anatomie dieser Teile des Gehörorgans das
richtige Verständnis angebahnt. So erbrachte Hyrtl durch die Aus-
güsse der Trommelhöhle den Nachweis, daß über der Sehne des Tensor
tympani genügend Raum vorhanden sei zur Handhabung eines feinen
Tenotoms zur Trennung der genannten Sehne, was Hyrtl übrigens
schon früher in seinem Handbuche für topographische Anatomie für
möglich erklärt hatte. — Hyrtl s Methode der Korrosion wurde später
durch die wertvollen Arbeiten über die Korrosionsanatomie des Ohres
von Bezold und Sieben mann wesentlich erweitert.
In den „Beiträgen zur pathologischen Anatomie des Gehörorgans"38)
beschreibt Hyrtl den Befund in den Gehörorganen einiger Taubstummen. Der erste
Fall betrifft ein fünfjähriges Mädchen, das sich für intensiv hohe und tiefe Töne
empfänglich zeigte und an Hydrocephalus starb. Außer einigen unwesentlichen
Anomalien im Schallleitungsapparate fanden sich Defekt des Steigbügelinuskels und
der Phninentia pyramidalis, es bestanden bloß zwei Bogengänge und die Schnecke
fehlte gänzlich. Der zweite Fall betrifft einen siebenjährigen, taubstummen Knaben,
bei dem sich folgende Veränderungen vorfanden: Das Trommelfell war pergamentartig
verdickt und trocken. Nebst Atrophien verschiedener Teile der Trommelhöhle ließ
sich auch hier der Mangel der Eminentia pyramidalis und des Steigbügelmuskels nach-
weisen. Von den Bogengängen war bloß der hintere vorhanden. Die Spiralplatte
der Schnecke lief bloß lV2rual um die Spindel herum. Die Hörnerven schienen
beiderseits atrophisch. An dem Schädel eines anderen Taubstummen fand Hyrtl
in der Hauptsache folgende Veränderungen. Die Schneckenwindungen waren nur
bis gegen die zweite Windung gebildet, die übrigen flössen in eine gemeinschaftliche
Kuppel zusammen, in welche die rudimentäre Spindel zur Hälfte hineinragte. Die
Lamina spiralis fehlte vollkommen und somit auch jede Trennung des Schnecken-
gano-es in die beiden Treppen. Die vierte Beobachtung von Abweichung im Bau der
392 Zur Literatur des 19. Jahrhunderts.
Gehörorgane machte Hyrtl an einem Fötus, der sich durch Mangel des Ohres sowie
andere Mißbildungen auszeichnete. Hier fehlte die ganze laterale Wand der Trommel-
höhle, welche nur eine seichte Vertiefung des Felsenteils bildete. Außer Rudimenten
der Gehörknöchelchen fand sieh nichts in der Trommelhöhle. Die Schnecke hatte
1 '/a Windungen, war aber übrigens normal gebildet.
In der zweiten Abteilung dieser Abhandlung beschreibt Hyrtl die unvoll-
kommen entwickelten Gehörorgane einiger Anencephalen und Hemicephalen. An einem
sechsmonatlichen Anencephalus, bei welchem Hyrtl keinen karotischen Kanal vorfand,
waren die drei Bogengänge verkrüppelt, keine Spur einer Schneckenwindung oder
einer Lumina spiralis. Ebenda beschreibt Hyrtl einen Cyklopenschädel, an dem er
Mangel der Trommelhöhle und der rechtseitigen Ohrtrompete nachwies.
') Versuch einer Naturgeschichte d. Sinneswerkz. bei d. Insekt, u. Wurm.
Götting. 1798. — 2> Memoires d'anatomie comparee 1800. — s) Ueber das Gehörorg.
d. Mensch, u. d. Säuget, im schwang, u. nichtschwang. Zust. Leipz. 1808. — *) Ueber
einige Eigentümliche d. Gehörorg. d. Walfisch. Phil. Trans. 1811 in Meckels
Arch. Bd. IIJ, 1817. — 5) On the milk tush and organ of hearing of the Dugong.
Philosophical Transactions, Part. II, p. 144, 1820. — 6) On the difference of structure
between the human membrana tympani and that of the elephant, 1797. Philosophical
Transactions Part. I, p. 23. 1823. — ") Lectures on compar. anatomy. Vol III, p. 262,
Vol. IV, Tab. C. London 1823. Phil, trans. part. I. p. 23. — 8) A description of
the hearing in the elephant etc. Phil, trans. Vol XXX. p. 885. — 9) 1. c. — 10) Mein,
sur les glandes odorantes des Musaraignes. Mein, du Museum. T. I, p. 305, pl. 15,
Fig. 1 et 3, 1815. — ") Philosophie anat. Paris 1S18. — 12) Sur la nature, la for-
mation et les usages des pierres qu'on trouve dans les cellules auditives des Poissons.
Memoire du Museum. T. XI, p. 241. 1824. — 13) Observations sur les pretendus
osselets de Touie trouve par Ernest Henry Weber, professeur d'anatomie com-
paree ä Leipsick. Lu ä la Societe d'Histoire naturelle de Paris, seance du 5 mars.
Annales des Sciences naturelles. T. I , p. 436 — 440, 1824. — 14) Composition de la
tete osseuse, chez Thomme et les animaux, trouvee semblable en nombre, connexions
et application usuelle de ses parties. Ref. Okens Isis. p. 796, 1824. — 15) Diss.
sistens expositionem generalem anatomicam organi auditus per classes animalium.
Accedunt quinque tabulae lithograph. Vindob. 1818. — 16) Anatome testudinis Eu-
ropeae, Vilnae 1819 — 1821. — I7) Vergleichende Anatomie d. Gehörwerkzeuge. Meckels
Arch. Bd. V, p. 323 — 337. Leipz. 1819. De aure et auditu hominis et animalium.
Pars I. De aure aniinalium aquatilium. Cum tab. aeneis X. Lips. 1820. — 18) Re-
sponsum ad quaestionem ab ordine medicorum propositam: Quaeritur brevis et dis-
tincta expositio fabricae et functionis organi auditus in nomine recentiorum etiam
anatomicorum observationibus, et anatome comparata ita illustrata, ut ex hisce
pateat, quaenam sit huius organi pars ad audiendum maxime neeessaria, et qua in
re illud praestantius in nomine , quam in brutis sit censendum? Quod praemium
reportavit. In Annal. Academiae Rheno-Trajectinae. Traj. ad Rhen. c. tab. aen.
1820—1821. — 19) Disp. anat. phys. de organo aud. in hoin. Traj. ad Rh. 1822. —
20) Bitrag tili Ader-och Nerfsystemats Anatomie hos Myxine glutinosa. Kongl. Vet.
Akademiens Handlingar för ar 1822. Ytterligare Bidrag tili anatomien of Mj'xine
glut. Stockholm 1824. — 21) 1. c. — 22) Handb. d. vergl. Anat. Gott. 1805, 1824,
1827. — 23) Ueber d. inneren Bau der Schnecke d. Ohrs d. Vögel. Tab. IX. Tiede-
manns u. Treviranus' Unters. Bd. I, 1825. — 24) Ueber das Gehirn u. d. Sinnes-
werkzeuge des virginischen Beuteltieres. Taf. X. Eingesendet im Mai 1825. Tiede-
manns u. Treviranus' Untersuchungen. Bd. III, S. 45. Gehörsinn S. 55, 1829. —
25) Ueber die Verbreitung des Antlitznerven im Labyrinth des Ohres der Vögel
Zur Literatur des 19. Jahrhunderts. 393
Tiedemanns u. Treviranus' Untersuchungen. Bd. V, S. 94. Fig. 1 u. 2, 1834. —
26) Ueber Webers Gehörknöchelchen d. Fische. Okens Isis, S. 889, XVIII. 1825.
Bemerkungen zur Anatomie der Sinnesorgane u. der Kinnladen. Okens Isis, Bd. XVIII,
S. 1101, Taf. XI, 1825. — 27) Ueber die Kiemenbögen u. Kiemengefäße beim be-
brüteten Hühnchen. Okens Isis, Bd. XX, S. 401—403. 1827. — 28) Ueber d. Kiemen-
bögen am Vogelembryo, Taf. II. Okens Isis, S. 160—164, 1828. — 29) Ueber die
Gehörzähne, einen eigentümlichen Apparat in der Schnecke des Vogelohrs. Müllers
Archiv. S. 335, Taf. VII, 1835. — 30) De animalium quorundam per hyemen dormien-
tium vasis cephalicis et aure interna. Nova act. phys. med. XIII, 1826. — 31) De
penitiori auris in amphibüs structura. Bonn 1831. — 32) 1. c. und Rapport fait ä
l'Academie des Sciences, par M. Dumeril, sur trois Memoires d' Anatomie, relatifs
ä Forgane de l'ou'ie dans les poissons par M. le Dr. Breschet. Annales des Sciences
naturelles. T. XXVII, 1832, p. 309. Recherches anatomiques et physiologiques sur
l'organ de l'audition chez les oiseaux. Paris 1836. Apercu descriptif de Forgane
auditif du Marsouin [Delpbimes phocaena L.]. Annales de sciences naturelles. T. IX,
Zoologie p. 227, 1838. Recherches anatomiques et physiologiques sur Forgane de
Fou'ie des poissons. Avec 17 Planches graveez. Paris 1838. — 33) 1. c und die
Paukenhöhle der Säugetiere. Leipz. 1835. Ueber ein besonderes, mit dem Hammer
der Säugetiere in Verbindung stehendes Knöchelchen. Müllers Archiv 1841. —
34) Beitr. z. Anatomie des Delphins Bd. V (Gehörorgan) S. 124, 1834. Tiedemanns
u. Treviranus' Untersuch, etc. Ueber den eigentümlichen Bau des Gehörorgans
bei den Cyclostomen. Fortsetzung der vergleichenden Anatomie der Myxinoiden,
1838. Beobachtungen über die Schwimmblase der Fische mit Bezug auf einige neue
Fischgattungen. Müllers Archiv S. 307. 1S42. — 3ä) 1. c. — 3e) Vergl. Anat. der
Myxinoiden, der Cyclostomen mit durchbohrt. Gaumen. Berlin 1835. Müllers Arch.
1836. — 37) Neue Beobachtungen aus dem Gebiete der menschlichen und vergleichen-
den Anatomie über mehrere am Menschen vorkommende Analogien derjenigen Arterie,
welche Otto bei mehreren Winterschläfern durch den Steigbügel verlaufend ent-
deckte. Medizinische Jahrbücher des k. k. öst. Staates, Wien 1835, Bd. XIX oder
neueste Folge Bd. X, S. 457. Tab. II, Fig. 3, 5. — 38) Medizinische Jahrbücher d.
k. k. öst. Staates. Wien 1836, Bd. XX oder neueste Folge Bd. XI, S. 421—453,
Taf. II. — 39) Bemerkungen über einige Gesichtsmuskeln und einen neuen Muskel
des Ohres. Mediz. Jahrb. d. k. k. öst. Staates, Bd. XXI, 1840. — 40) Ein neuer Ohr-
muskel. Mediz. Jahrb. d. k. k. öst. Staates, Bd. XXX, 1841. — 4I) Vorläufige Mit-
teilungen über das knöcherne Labyrinth der Säugetiere. Mediz. Jahrb. d. k. k. öst.
Staates, 1843. — 42) Vergleichend-anatomische Untersuchungen über das innere Ge-
hörorgan des Menschen und der Säugetiere. Prag 1845. — 4S) Zur vergleichenden
Anatomie der Trommelhöhle. Wien 1848. — 44) Lepidosiren paradoxa , Monogr. in
d. Abh. d. k. böhm. Ges. d. Wiss. Prag 1845. — 4:i) Ueber spontane Dehiszenz des
Tegmen tympani u. d. Cellulae mastoideae. Wien 1858. Im XXX. Bd. d. Sitzungs-
berichte d. kais. Akad. Nr. 16. — 46) Die Korrosionsanatomie u. ihre Ergebnisse.
Wien 1873. — 47) Die vergleichende Anatomie des Schläfenbeins. Hannover 1837.
— 48) Lepidosiren paradoxa, anatom. unters, u. beschrieb. Leipz. 1840. — 49) Ueber
Flimmerbewegung im Gehörorgan von Petromyzon marinus. Müllers Arch. f. Anat.
u. Phys. 1844. — 50) Atlas anatomicus auris internae. Kjöbenhavn 1846. — 5I) Lehrb.
d. vergl. Anat. der Wirbelt. 1846. — 5Z) Mikroskopiske Undersögelser af Nerve-
systemet. Kjöbenhavn 1842. — 5S) Ueber die Entwicklung der Schildkröten. Braun-
schweig 1848. Bern, über den inneren Bau der Pricke. Danzig 1826. — 5*) On the
Communications between the Cavity of the Tympanum and the Palate in the Croko-
dilia. Phil. Tr. 1850. Description of the Lepidosiren annecteus, The Trans, of the
394 J- Fr. Meckel.
Linnean Society of London. Vol. XVIII, 1*41. — 55) Bemerkungen über das Quadrat-
bein und die Paukenhöhle der Vögel. Dresd. u. Leipz. 1839. — 56) Evolutionis auris
per animalium seriem brevis historia. Berl. 1839.
Einen ungeahnten Aufschwung nahm in diesem Zeiträume die Ent-
wicklungsgeschichte des Gehörorgans. Nach den klassischen Vor-
arbeiten Cassebohms, der sein Augenmerk auf die Entwicklung
des knöchernen Abschnittes des Gehörorgans richtete, waren es Scarpa,
Meckel und Bichat, die ihr Interesse der Entwicklungsgeschichte
der äußeren Teile des Gehörorgans zuwendeten. Erst v. Baer war es
vorbehalten, die Grundlagen für die Entwicklungsgeschichte des inneren
Ohres zu schaffen. Zunächst wollen wir auf die Hauptarbeiten dieser
Periode, die Arbeiten J. Fr. Meckels und Carl Ernst v. Baers, näher
eingehen und auf die ebenfalls wertvollen Publikationen von Danz1),
Authenrieth2), Huschke3), Burdach4), v. Baer5"s), Rathke9),
Valentin10), Reichert11), Seydel12), Günther 13~14), Hagenbach 15),
Dietrich16), Hyrtl17) hinweisen. Ferner schrieben über Ohrentwicklung
nach v. Stein noch Leukart und Frey (1847), Erichson (1849) und
Dufour (1850).
J. Fr. Meckel, der Jüngere, teilt in seiner Geschichte des Fötus*)
folgendes über die Entwicklung des Gehörorgans mit:
Der äußere Teil des Gehörorgans wird zuerst ungefähr in der Mitte des
zweiten Embryonalmonats sichtbar. Er erscheint als eine längliche Erhabenheit, in
deren Mitte ein Längseinschnitt verläuft. Allmählich differenziert sich diese erste
Anlage während des dritten Monats zum äußeren Ohre. Am spätesten erscheint das
Ohrläppchen als eigener Vorsprung. Im dritten Monat entwickelt sich der Knorpel
im äußeren Ohre. Der knöcherne Gehörgang fängt sich einige Zeit nach der Geburt
durch Vergrößerung des Paukenfellringes zu bilden an und zwar so, daß seine äußere
Oeffnung am frühesten verknöchert.
Die Paukenhöhle ist beim Fötus klein und eng, mit einer dicken, gallert-
ähnlichen Feuchtigkeit angefüllt. Die Tuba Eustachii ist relativ kurz und weit.
Trommelfellring und Paukenfell sind in den ersten Monaten relativ groß (bis zum
fünften Monat größer als die Ohrmuschel) und liegen der äußeren Oberfläche weit
näher als später, so daß die oberen Teile beinahe freiliegen (Amphibienähnlichkeit).
Die Richtung beider ist ziemlich horizontal.
Die Gehörknöchelchen zeichnen sich durch außerordentliche Frühzeitig-
keit der Entstehung und Ausbildung aus. Sie sind schon im Anfang des dritten
Monats sichtbar und relativ groß, wenn auch noch knorpelig. Die Verknöcherung
beginnt schon vor dem Ende des dritten .Monats.
Es verknöchern: Stapes und Amboß früher als Hammer (nach Cassebohm),
Hammer und Amboß vor dem Stapes (nach Meckel). Die Stapesschenkel scheinen
in frühen Perioden nicht voneinander getrennt zu sein. Die am auffallendsten ver-
schiedenen Perioden durchläuft der Hammer, und kaum läßt sich mit ihm ein an-
derer Knochen in dieser Hinsicht vergleichen.
*) 1. c. IM. IV u. Stanislaus v. Stein.
C. v. Baer. 395
Seine vorzüglichste Entwicklungsverschiedenheit besteht in einem, von dem
vorderen Umfange seines Kopfes ausgehenden, im Verhältnis zu seinen übrigen
Teilen ziemlich dicken und langen, länglich kegelförmigen, geraden knorpeligen Fort-
satze, der aus der Paukenhöhle, zwischen dem Felsenbein und dem Trommelfellringe
hervortritt, sich dicht an die innere Fläche des Unterkiefers legt, und bis zu dem
vorderen Ende desselben verläuft, wo er sich bisweilen, vielleicht immer, mit dem der
vorderen Seite unter einem spitzen Winkel vereinigt. Dieser Knorpel verknöchert,
ungeachtet er anfänglich bei weitem den größten Teil der Masse der Gehörknöchelchen
ausmacht, nie, sondern verschwindet schon im achten Monat. Der vordere Fortsatz
des Hammers entspricht ihm zwar einigermaßen durch seine Stellung, allein man findet
beim Embryo in der Tat beide deutlich voneinander getrennt und den erwähnten
Knorpel über dem vorderen Hammerfortsatz liegend, so daß dieser nur einen unbedeu-
tenden Teil des Knorpels ausmacht und sich früh von ihm trennt. Dieser Knorpel
ist insofern merkwürdig, als sich bei den Fischen. Amphibien und Vögeln ein völlig
ähnlicher, vom hinteren Unterkieferstück in das vordere dringender, findet. Er sitzt
auf einem kleinen, an der inneren Fläche des hinteren Unterkieferstückes befindlichen
Knochen, und man darf daher diesen wohl nicht ohne Grund für ein Rudiment des
Hammers bei diesen Tieren halten.
Das häutige Labyrinth ist lange vor dem knöchernen vorhanden und be-
steht aus härteren, festeren Häuten als in späteren Lebensperioden. Es besteht aus
zwei Häuten, einer inneren und einer äußeren. Die Schnecke ist bereits im dritten
Monat ebenso gebildet wie in späteren Lebensperioden.
Das knöcherne Labyrinth entsteht unabhängig von der Knochensubstanz
des Felsenbeins, welch' letztere sich früher als die des Labyrinths , und zwar von
eigenen Knochenkernen aus bildet. Es ist anfangs völlig von der umgebenden
Knochenmasse des Felsenbeins getrennt und mit einer ganz glatten Oberfläche ver-
sehen, wenn gleich beide dicht aneinander liegen. Gleichzeitig mit seiner Entstehung
verschwindet die äußere Membran des häutigen Labyrinths. Vielleicht entsteht der
Knochen aus dieser Membran, teils durch Umbildung, teils durch Sekretion. Die
knöcherne Schnecke entsteht größtenteils vom knöchernen Labyrinth aus*).
Carl Ernst v. Baer (1792 — 1876), einer der vielseitigsten Forscher
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, der Entdecker des eigentlichen
Säugetiereies, hat das große Verdienst, zuerst die Beziehungen des Ge-
hörorgans zum Gehirne richtig erkannt zu haben. Nach ihm ist das
Ohr eine „Hervorstülpung der Nervenröhre bis in die Fleischschicht und
zwar bis in die Knochenlage derselben. Dieser Hervorstülpung wächst
dann eine Einstülpung der Hautschicht entgegen".
Ueber die Entwicklung des Gehörorgans des Hühnchens im Ei
beobachtete v. Baer folgendes s):
In der zweiten Hälfte des zweiten Tages tritt das Ohr aus dem verlängerten
Marke hervor, als ein mit Nervenmärk ausgekleideter hohler Zylinder, der die Rücken-
platte an dieser Stelle etwas vortreibt. Diese Vortreibung endigt mit einer außen
*) Huschke nahm an, daß das Labyrinth sich gesondert entwickelt und an-
derseits äußeres und mittleres Ohr zusammengehören, so daß es also bloß zwei
Teile gebe, von denen der innere aus den Rückenplatten, der äußere aus den Bauch-
platten des Embryo hervorgehe.
396 C-_*- Baer-
konkaven Fläche; jedenfalls steht der vordere Rand der Auftreibung nicht
mehr vor als der hintere. Die Auskleidung von Nervenmark ist der Gehörnerv.
Am dritten Tage schien sich das Ohr, außer daß es mit der Umgebung nach vorne
gerückt war. nicht verändert zu haben. Am vierten Tag war der innere Teil noch
mehr verdeckt als am dritten. Im Boden der Rachenhöhle erkannte Baer eine tiefe
gegen das Ohr gerichtete Grube, die er für den Anfang der Ohrtrompete hielt.
Fünfter Tag: das Ohr wird durch einen runden erhabenen Saum bezeichnet. Nach
innen scheint das Ohr durch die Tube schon eine Oeffnung zu haben. Die äußere
Oeffnung bildet sich gewöhnlich erst am sechsten Tage, so daß sie erscheint, wenn
die Kiemenspalten geschlossen sind. Sie liegt über der Mundspalte, gehört den
Rückenplatten an und ist nicht zu verwechseln mit der ersten Kiemenspalte, die in
der Bauchplatte liegt. Die Ausmündungen der Tuben rücken einander näher; die
Tubenröhren selbst liegen der Keilbeinanlage nur an, nicht in derselben. Achter bis
zehnter Tag: der äußere Gehörgang ist weit und tief, die Tube nicht ganz so weit
wie im früheren Zustande, aber noch nicht vom Keilbeine umfaßt. Spaltet man
diese Röhre, so gelangt man zum inneren Ohre, das mehrere Teile zeigt, die Baer
jedoch nicht bestimmen konnte, da er ihrer Entwicklung nicht stufenweise gefolgt
war. Unter anderem sah er eine weißliche Blase, noch von weicher Masse umgeben
(Vorhof*?). Die Bogengänge sind am Ende dieser Periode vom Schädel aus auch zu
finden. Elfter bis dreizehnter Tag: das Trommelfell ist deutlich und liegt sehr schief.
Die Tube liegt in einer Furche des Keilbeins, noch immer nicht von seiner Masse
umschlossen. Vierzehnter bis sechzehnter Tag: Am Anfange dieses Zeitraumes ver-
knöchert schon das innere Ohr.
In dem zweiten Teile seiner Arbeit fügt Baer noch einiges dieser Darstellung
hinzu: Das Ohr ist eine am Ende des zweiten Tages hervortretende Ausstülpung aus
dem hinteren Teile des Gehirnes, und zwar scheint die Anlage an der Grenze zwi-
schen Hinter- und Nachhirn hervorzukommen. Man sieht einen hellen Kreis, um-
geben von einem dunkleren Ringe. Wie sich die herausgestülpte Blase in das Laby-
rinth umformt, war ihm nicht näher bekamt; hingegen wußte er, daß der Hörnerv
sich ebenso durch eine Abschnürung bildet wie der Sehnerv. Aus der Rachenhöhle
wächst dem Ohre eine von Schleimhaut umkleidete Ausstülpung entgegen und bildet
die Ohrtrompete und Trommelhöhle. Diese Ausstülpung beginnt, sobald sich die
erste Kiemenspalte geschlossen hat, an derselben Stelle. Von der Verwachsung der
ersten Kiemenspalte bleibt einige Zeit eine Querfurche an der inneren Fläche. Das
obere Ende dieser Querfurche zieht sich allmählich in die Länge aus, während der
übrige Teil sich ausglättet, und ist nun die Ohrtrompete. Das äußere Ohr
bildet sich durch eine Entwicklung der äußeren Haut, die als wulstiger Rand be-
ginnt. Da aber die Ohrblase nicht ganz bis an die äußere Fläche reicht, bildet die
Haut ihr entgegen eine Einstülpung = äußerer Gehörgang. Die Stelle ist der
Raum zwischen erstem und zweitem Kiemenbogen; doch war vorher diese ehemalige
erste Kiemenspalte vollständig geschlossen.
Ueber die Entwicklung des Gehörorgans bei den Säugetieren weiß
Baer nur wenig zu berichten. Das innere Ohr tritt als kleines Rohr aus dem hin-
teren Teile des Hirnes und drängt ein wenig blasig endend gegen die Gegend über
der zweiten Kiemenspalte. Die Tube kommt aus der Rachenhöhle entgegen. Auch
das äußere Ohr hat dieselbe Entwicklung wie im Vogel , nur daß der Gehörgang
an seinem Rand enger und länger wird und die Muschel hervortreibt.
Eine zusammenfassende Uebersicht der Leistungen auf dem Ge-
biete der Embryologie des Obres in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
Tafel XXIII
CARL ERNST v. BAER
Günther. 397
hunderts finden wir in dem Werkchen Günthers14), in welchem er
auch seine eigenen Ansichten über die Entwicklung' des Gehörorgans
mitteilt.
Nach ihm haben Labyrinth und Trommelhöhle verschiedenen Ursprung, indem
ersteres aus dem Emmertschen Bläschen, letzteres aber aus dem Kiemenapparat
hervorgeht.
v. Baer, Rathke und Reichert betrachten das Ohrbläschen als Hervor-
stülpung der Hirnblase, Huschke und Valentin als Panstülpung der äußeren Haut.
Günther verfolgte (bei Schweins-, Schaf-, Kaninchenembryonen) die Entwicklung
des Emmertschen Bläschens bis zu seiner Verengerung der Kommunikation mit der
Hirnblase. Die OefFnung ändere sich in einen kurzen verhältnismäßig weiten Gang
um, der sich mit Gehirnmasse (Acusticus) anfüllt, während der Grund des Bläschens
hohl und hell bleibt, um in die verschiedenen Faltungen überzugehen. Beim
Hühnchen bemerke man schon nach 2'/2 Tagen eine dunklere Linie, durch welche
das Bläschen in eine vordere (Hörhof, Bogengänge) und hintere Hälfte (Schnecke)
geteilt wird.
Die halbzirkelförmigen Kanäle ließ Valentin durch Ausstülpung aus
der Vorhof'sblase hervorgehen, indem sich eine anfangs kleine mützenförmige Aus-
bauchung verlängert , bogenförmig umbeugt und sich an einer bestimmten Stelle
wieder in den Vorhof einsenkt. Nach Günther bilden sich von dem rundlich-läng-
lichen Vorhofe aus drei verhältnismäßig breite, hohle Gänge, die anfangs eng, später
weiter werdend, nach außen hin bogenförmig verlaufen. Die Bogengänge ent-
wickeln sich dadurch, daß sich die beiden Platten der ausgestülpten Falten einander
nähern und in der Mitte verwachsen, während um diese Verwachsung herum von dem
Vorhofe abgewendet, also im äußeren Teile, ein bogenförmiger Raum übrig bleibt,
welcher der halbzirkelförrnige Kanal selbst ist.
Die Bildung des Vorhofs und der Ampullen beschreibt Günther noch sehr
mangelhaft.
Die Bildung der Schnecke sollte nach Valentin aus dem Vestibulum dadurch
zu stände kommen, daß sich das innere Ende der Höhlung verlängert und, indem es
im Kreise eine Wendung macht, zu einer rundlichen Höhle wird. Diese Höhle
(Schneckenblase) wird von innen nach außen wie ausgegraben, und zwar zuerst in
der Richtung von dem Vestibulum gegen die Mitte der Schädelbasis und dann weiter
fort spiralig bis zum obersten Ende der Perpendikularachse. Hierdurch entstehe
1. von außen die der Schneckenschale ähnliche Gestalt, 2. im Innern ein tief ein-
gefurchter Halbkanal (Modiolus).
Günther weicht von dieser Darstellung bedeutend ab. Die Schnecke oder
vielmehr die Grundlage für den Modiolus entsteht nach ihm durch eine Abschnürung
des Ohrbläschens in zwei Teile , nachdem es sich nach vorwärts verlängert hat,
wobei sich zugleich der Nerv nach der Trennung des Bläschens etwas spaltet. Bald
nach diesem Vorgang trennt sich die das Schneckensäckchen bildende Haut in zwei
Schichten , und indem zwischen beiden einiger Raum gewonnen wird , steckt nun-
mehr ein kleines, längliches, plattgedrücktes Säckchen locker in einem ähnlichen
größeren. Das innere (Fortsetzung der Ohrblase und des Nerven) wird Modiolus, das
äußere Schneckengehäuse. Zur Bildung des letzteren senkt sich in einer geringen
Entfernung vom Rande zunächst dem Vorhofe die äußere Haut zweimal so weit ein,
daß sie das innere Säckchen berührt. Durch diese beiden Einsenkungen wird nun
das Schneckenrohr dargestellt. Im weiteren Verlauf der Darstellung schildert Günther
sodann die Bildung des Schneckenrohrs, des Modiolus, der Spiralplatte, die Zeit der
398 F. G. Seydel.
Verknorpelung und Verknöcherung des Labyrinths, zum Teil gestützt auf Meckel
illandb. d. menschl. Anatomie IV) und Soemmerring (De corp. hum. fabrica. 1794).
Um die Entwicklungsgeschichte des äußeren Ohres machte sich ganz besonders
Fr. Gust. Seydel in seiner Spezialschiff!12) verdient.
Er hat an acht Föten verschiedener Länge die Entwicklung des äußeren Ohres
beobachtet An einem vierwöchentlichen fehlte das äußere Ohr noch ganz, bei einem
sechs- bis siebenwöchentlichen fanden sieh zwei Wülste, von denen der vordere dem
Tragus, der hintere dem Helix und Antitragus entspricht. Ein 2'io'" langer Fötus
hat schon ein ziemlich ausgebildetes äußeres ( Ihr. Bezüglich der neueren Forschungen
über die Entwicklung des äußeren Ohres sei auf die grundlegende Arbeit des ver-
dienstvollen Züricher Otologen Dr. Fritz Rohrer verwiesen.
Um einen Einblick in die Entwicklung des Mittelohrs zu erlangen,
mußten zunächst die Metamorphosen der Kiemenbogen studiert werden.
Rathke (Isis 1825) war der erste, der im Jahre 1825 an Schweins-
embryonen scheinbar in der Gegend des Halses regelmäßige, schief,
fast querlaufende Spalten entdeckte , und wegen ihrer Aehnlichkeit mit
den Kiemen als Kiemen spalten bezeichnete. Diese Entdeckung wurde
weiterhin von Baer, Burdach, Joh. Müller, Huschke und Reichert
verfolgt. So gelang es, die Bildung der Tuba Eust. und der Pauken;
höhle (wie es schon Carus in seiner Zootomie 1818 vermutet hatte)
aus der ersten Kiemen spalte nachzuweisen (Baer, Rathke,
Valentin, Huschke, Reichert, Günther). Für die Entstehung der
Gehörknöchelchen aus den Kiemenbogen traten, nachdem Meckel
durch die Beobachtung des knorpeligen Fortsatzes vom Hammer zum
Unterkiefer die Aufmerksamkeit der Anatomen erweckt hatte, Rathke,
Huschke, Burdach, Valentin, Reichert ein. Ebenso wurde die
Umwandlung des äußeren Teiles der ersten Kiemenspalte in den äußeren
Gehörgang konstatiert und das Trommelfell für die umgewandelte
Masse, welche die frühere Kiemenspalte verschließt, erklärt.
J) Grundriß der Zergliederungsk. des neugeborenen Kindes in den verschied.
Zeit. d. Schwangersch. mit Anm. v. Soemmerring, Bd. I u. II. Frankf. u. Leipz.
1792, 1793. — '-') Supplementa ad historiam embryonis humani. Tübing. 1797. —
3) Beitr. z. Physiol. u. Naturgesch. Bd. I. Weimar 1824. Verbindg. d. Amboßes im
Ohr mit d. Griffelforts. Okens Isis 1833. Siehe ferner M eckeis Arch. 1832, p. 40,
Ockens Isis 1827, 1828 u. 1831. — 4) Die Physiol. als Erfahrungswissensch. Bd. IL
Leipz. 1828. De foetu humano. Lips. 1828. — 5) De ovi mammalium et hominis
genesi Epist. etc. Leipz. 1827. — 6) Ueber die Kiemen u. Kiemengefäße in den
Embryonen der Wirbeltiere. Meckels Arch. 1827. — 7) Ueber die Kiemenspalten
der Säugetierembryonen, ibid. 1828. — 8) Ueber Entwicklungsgesch. d. Tiere. Bd. I.
Königsberg 1828, Bd. II, 1837. — B) Anat.-phys. Untersuchungen über den Kiemen-
apparaf u. d. Zungenbein der Wirbeltiere. Riga u. Dorpat 1832. Entwicklung d.
Natter. Königsberg 1839. — 10) Handb. d. Entwicklungsgesch. d. Mensch, mit ver-
gleich. Rücksicht der f Entwicklung d. Säuget, u. Vög. Berlin 1835. — u) De em-
bryonum arcubus sie dictis branchialibus. Berol. 1836. In Müllers Arch. 1837.
Ueb. d. Yiszeralbogen der Wirbelt, im allg. u. deren Metamorphosen bei d. Säuget.
Autenrieth. 399
u. Vög. in Müllers Arch. 1837. — 12) De genesi auris externae in hominibus. Lips.
1837. — 13) De cavitatis tympani et partium adhaerentium genesi in hominibus.
Dresd. 1838. — 14) Beobachtungen über die Entwicklung des Gehörorgans bei Men-
schen u. höheren Säugetieren. Leipz. 1842. — 15) Müllers Arch. 1841, p. 46. —
16) ibid. p. 68. — 1T) Jahrb. d. öst. Staates. Wien 1836, p. 449 u. 1. c.
Stand der Physiologie des Gehörorgans in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.
In diesem Zeiträume tritt die Physiologie des Gehörorgan es in
das Stadium der experimentellen Forschung. Wohl finden wir schon im
18. Jahrhundert vereinzelte physiologische Versuche am Gehörorgane
verzeichnet; doch macht sich erst jetzt das Bestreben geltend, auf dem
Wege des methodischen Experiments die Funktion der einzelnen Teile
des Gehörorgans zu bestimmen. Nicht zum geringsten wird die experi-
mentalphysiologische Richtung durch die technische Vervollkommnung
der Untersuchungsmethoden und durch den Aufschwung begünstigt, den
die Physik und vor allem die Akustik durch die Arbeiten Savarts,
Chladnis, Laplaces und Colladons nahm.
Unter den Physiologen dieser Periode ragen besonders Auten-
rieth, Magendie, Joh. Müller, Ernst Heinrich Weber und
Flourens hervor, deren Leistungen als grundlegend für die moderne
Gehörsphysiologie anerkannt werden müssen.
Joh. Heinr. Ferd. v. Autenrieth (1772—1835), ein Schüler
Cuviers, Scarpas und Peter Franks, ordentlicher Professor an der
Tübinger Universität, eröffnet zu Anfang des Jahrhunderts die Reihe
jener Forscher, die sich der exakten naturwissenschaftlichen Richtung
zuwandten. Sein Werk „Handbuch der empirischen menschlichen Physio-
logie" *), das, wie Gurlt rühmend hervorhebt, bereits gegen die damals
herrschende phantastische Naturphilosophie die Rechte der echten Empirie
und der auf das Experiment begründeten Forschung mit Glück verteidigte,
galt bis Johannes Müller als das hervorragendste Handbuch über
Physiologie.
Im Vereine mit dem Dichter und Arzt Justinus Kern er**)
unternahm Autenrieth experimentelle Untersuchungen an Tieren, um
über die Funktion der einzelnen Teile des Gehörorgans Aufschluß
zu erhalten***).
*) Zum Gebrauche seiner Vorlesungen herausgegeben von Dr. Job. Heinr.
Ferd. Autenrieth. Tübingen 1802. III. Teil. p. 221— 253.
**) Vergl. dessen Dissertation: De functione singularum partium auris. 1808.
***) Beobachtungen über die Funktionen einzelner Teile des Gehörs. Arch. f.
Physiol. v. Reil u. Autenrieth, 1809, Bd. IX.
{DO Autenrieth.
Das Trommelfell faßten beide als einen Komplex von Saiten auf,
die vom Zentrum gegen die Peripherie laufen. Je nach der Länge und
Spannung der Saiten gerät nun bei einem bestimmten Tone ein größerer
oder kleinerer Teil des Trommelfells in Mitschwingung. Die Verschieden-
heit der Saiten wird teils aus der Art der Hammerinsertion, teils aus
der elliptischen Form des Trommelfells erklärt. Muncke*) bestreitet
diese Hypothese. Bonnafont (siehe später) versuchte zu zeigen, daß
bei tiefen Tönen der größere vordere Trommelfellabschnitt, bei hohen
der kleinere hintere gespannt wird.
Die Trommelhöhle dient nach Autenrieth als Resonanzkasten
für die Trommelfellschwingungen. Die Funktion der Ohrtrompete
soll darin bestehen, der Luft beim starken Schall einen Ausweg aus der
Trommelhöhle zu verschaffen, da sonst „durch Gegenstoß an das Trommel-
fell der Schall verwirrt" werden würde. Hieraus will Autenrieth die
Schwerhörigkeit bei Tubenverschluß erklären.
Nach den Untersuchungen Autenrieths und Kerners ist die
Eustachische Röhre in der Ruhe geschlossen, indem die Schleimhaut-
flächen von beiden Seiten mittels einer wässerigen Flüssigkeit gleichsam
aneinander kleben. Beim Gähnen und Niesen gelangt die Luft von der
Rachenhöhle in die Trommelhöhle, wobei die Luft in dieser erneuert wird.
Die Ansicht Cesare Bressas**), daß die Eustachische Röhre dazu
diene, dem Sp rechenden die eigene Stimme hörbar zu machen, wird schon
dadurch widerlegt, daß Personen, die bei krankhaftem Verschluß der
Eustachischen Röhre die Stimme anderer nicht verstehen, ihre eigene
ganz gut hören. Bressa übersah hierbei, daß die Vibrationen der
eigenen Stimme vom Rachen den Kopfknochen mitgeteilt werden.
Nach weitläufigen theoretischen Spekulationen gelangt Autenrieth
zur Hypothese, daß die Funktion der Bogengänge darin bestehe, die
Schallrichtung wahrzunehmen. Diese Annahme, welche die Fähigkeit, die
Schallrichtung zu bestimmen, durch die anatomische Anordnung der
Bogengänge nach den drei Richtungen im Räume zu deuten versucht,
wurde von den Physiologen nach dem Bekanntwerden der Experimente
Flourens' für irrtümlich erklärt. Erst in neuester Zeit hat W. Preyer***)
diese Frage wieder aufgerollt, ohne jedoch die Zustimmung der Fach-
kreise zu finden.
Im Anschlüsse an die Versuche Autenrieths und Kerners sollen hier die
um diese Zeit über denselben Gegenstand angestellten Untersuchungen des Ingenieurs
und Professors der Physik zu Modena J. B. Venturi ihren Platz finden. Seiner
*) Kastners Arch. f. d. ges. Naturl. Bd. VII. H. 1.
**) Reils Archiv. 1807 u. 1808. Bd. VIII.
***) Die Wahrnehmung der Schallrichtung mittels der Bogengänge. Pflügers
Archiv f. d. ges. Physiologie. 1887. Bd. XL.
Autenrieth. 401
Abhandlung entnehmen wir folgende Daten*): Sind beide Augen und ein Ohr ge-
schlossen und wird der Kopf nicht bewegt, so scheint der Ton stets aus der Richtung
zu kommen , nach der das offene Ohr gewendet ist. Diese Richtung , die senkrecht
auf der äußeren Fläche des Ohres steht, nennt Venturi die Gehörachse. Dreht
man jedoch den Kopf, so wird der Ton mehr oder weniger stark vernommen, je
nachdem die Gehörachse des offenen Ohres mehr oder weniger von der Richtung
der tönenden Schwingungen entfernt ist. Sind beide Ohren offen, so erkennt man
sofort die wahre Richtung des Tones. Stopft man nun das linke Ohr mit dem Finger
allmählich zu, so scheint es, als ob der Ton von der rechten Seite käme, und um-
gekehrt von der linken, wenn man das rechte Ohr zuhält. Eine Erklärung der bei
diesen Versuchen festgestellten Resultate versuchte Venturi nicht zu geben1*).
Bezüglich der Funktion der Schnecke ist Autenrieth der An-
sicht, daß sie bestimmt sei, den „Laut" des Schalles und mit diesem
gleichzeitig die Höhe des Tones wahrzunehmen. Auch ist er ein An-
hänger der schon von Boerhaave, Haller u. a. vertretenen Ansicht
vom Mitschwingen der Nervenfäden in der Schnecke je nach der Tonhöhe
der Schallquelle. Autenrieth ist sich der Schwäche dieser Hypothesen
wohl bewußt, wenn er sagt: „So lange man nicht schwerhörende Per-
sonen in Hinsicht auf ihr besseres oder schlechteres Wahrnehmen von
Stärke, Richtung und Laut eines Schalles genau beobachtet und dann
mit Sorgfalt nach ihrem Tode die einzelnen Teile ihres Labyrinthes unter-
sucht hat, wo oft der Vorhof und die Kanäle unentwickelt erscheinen,
während es die Schnecke nicht ist, und umgekehrt etc., so lange wird
man vom Gehörsinn nichts Bestimmtes wissen." Auf Autenrieths
Leistungen in der Nosologie des Gehörorgans werden wir noch zurück-
kommen.
Nach den Untersuchungen Autenrieths und Kern er s per-
zipieren die Gebilde des Vorhofs die Stärke und die Höhe des Tones.
Die Bogengänge haben hauptsächlich die Bestimmung, die Schall-
schwingungen, die durch die Kopfknochen dem Gehörorgane zugeleitet
werden, wahrzunehmen und die Schallrichtung zur Empfindung zu bringen.
Als Beweis hierfür wird ein Experiment am Maulwurf angeführt, dem
ein Faden an den Schwanz gebunden und der in einem mit Erde ge-
füllten Gefäß eingegraben wurde. Bei jedem Geräusch bewegte sich das
Tier in einer dem Geräusche genau entgegengesetzten Richtung. Ge-
stützt wurde diese Hypothese durch die Tatsache, daß beim Maulwurf
die halbzirkelförmigen Kanäle besonders stark ausgebildet sind. Die
Schnecke endlich vermittelt nach Autenrieth und Kerner die Klang-
farbe des Tones.
*) Betrachtungen über die Erkenntnis der Entfernung, die wir
durch das Werkzeug des Gehörs erhalten, von J. B. Venturi. Reils Archiv.
1802. Bd. V, p. 383.
**) Vergl. A. Politzer, Ueber Paracusis loci. A. f. 0. Bd. 11.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 26
402 Magendie.
In ähnlicher Weise wie Autenrieth und Kerner versuchte der Engländer
I. W, Chevalier die einzelnen Qualitäten des Tones in die verschiedenen Teile des
Labyrinthes zu lokalisieren. In seiner Hörtheorie unterschied er drei Qualitäten des
Tones , die Intensität , die Tonhöhe und die Klangfarbe , und meinte , daß das Ohr
imstande sei, eine mechanische Scheidung dieser drei Eigenschaften zu bewirken und
sie den entsprechenden Teilen des Hörorgans im Labyrinthe zuzuteilen, ohne jedoch
ihre physische Einheit zu beeinflussen. Den Teil, der im stände ist, die Intensität zu
perzipieren, nennt er „Biameter", den, der die Tonhöhe unterscheidet, „Tonometer"
und endlich jenen, der für die Klangfarbe empfänglich ist, „Poiometer". Auf hypo-
thetischer Grundlage vermeint er nun den „Biameter" in der Schnecke, den „Tono-
meter" in den Ampullen und den „Poiometer" in einem Teil des Vorhofes, wo er
Marksubstanz entdeckt hat, gefunden zu haben*).
Frangois Magendie (1783 — 1855), Professor der Physiologie und
allgemeinen Pathologie am College de France in Paris, gilt als der
Schöpfer der modernen experimentellen Richtung in der Physiologie.
Seine Leistungen haben wesentlich dazu beigetragen, die bis dahin
herrschenden naturphilosophischen Methoden der Naturforschung zu
verdrängen. Von diesem Umschwünge blieb die Gehörsphysiologie nicht
unberührt, indem auch hier „das Spiel der Einbildungskraft", wie
Magendie sich ausdrückt, durch die nüchterne Methode des Experi-
ments ersetzt wurde. Der Nutzen der neuen Forschungsmethode war zu-
nächst der, daß die vagen, bloß durch die Autorität eines berühmten
Schriftstellers gestützten Theoreme über die Vorgänge beim Hören voll-
ständig ausgemerzt wurden und daß man sich vorurteilsfrei der experi-
mentellen Nachprüfung der physiologischen Vorgänge zuwandte. Von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, heben sich Magen dies klare und
lichtvolle Ausführungen wohltuend von den vielfach dunklen und hypo-
thetischen Angaben der älteren Physiologen ab.
Durch Versuche stellte Magendie fest, daß die Haut des äußeren
Gehörgangs sich durch große Empfindlichkeit auszeichnet, die gegen
das Ende dieses Ganges zunimmt, wo Fremdkörper und Entzündungen
die heftigsten Schmerzen verursachen. Geringere Sensibilität zeigt die
Trommelhöhlenschleimhaut. Experimentelle Berührungen, Ver-
letzung und Durchschneidung des Hör nerven bei Tieren, den er durch
Entfernung der seitlichen Partien der Schädelbasis freilegte, erregten aber
keinen Schmerz**).
Den Nutzen des äußeren Ohres sieht er in der großen Elastizität
des Ohrknorpels, die noch durch Muskeln vermehrt werde, weshalb er
leicht durch die ihm von der Luft mitgeteilten Vibrationen in Schwingung
geraten könne.
i:) Medico Chirurgical Transact. Bd. XIII. — Vergl. Frorieps Notizen. Jahrg. 1830.
") Magendie, Journ. de physiol. experim. T. IV, p. 170; T. V, p. 38.
Magendie. 403
Der äußere Gehörgang leitet nach Magendie den Schall einer-
seits durch die in ihm enthaltene Luft, andererseits durch seine Wan-
dung zum Trommelfelle. Magendie hält die Annahme für irrtümlich,
wonach das kleine Trommelfell mit der großen Menge von Tönen, die
unser Ohr treffen, sich in gleiche Stimmung setze, hingegen nach den
S a v a r t sehen Versuchen für sehr Avahrscheinlich, daß es sich für schwache
Töne erschlaffe, für starke spanne.
Das Trommelfell überträgt nach seiner Auffassung einen Teil des
Schalles auf die Luft der Trommelhöhle, einen anderen auf die Gehör-
knöchelchenkette. Die Fortleitung des Schalles zum inneren Ohr ge-
schieht daher sowohl durch die Kette der Gehörknöchelchen, als auch
durch die Trommelhöhlenluft, welche den Schall den Knochenwänden der
Trommelhöhle, hauptsächlich aber der Membran der Fenestra rotunda
mitteilt.
Die Eustachische Röhre dient nach Magendies Beschreibung
zur Erneuerung der Trommelhöhlenluft, die Warzenzellen zur Verstärkung
des in die Trommelhöhle gelangenden Schalles, was vornehmlich durch
die Blätterform der einzelnen Zellen bewirkt wird.
Bezüglich der Hörperzeption durch die Schnecke spricht sich
Magendie gegen das Mitschwingen der Schneckenchorden aus.
Die Funktion des Hör nerven hängt nach Magendie von der des
Nerv, trigeminus ab. Erkrankt dieser Nerv oder wird er durchschnitten,
so werde das Gehör geschwächt oder vernichtet (?). Er beobachtete,
daß hohe Töne das Ohr schmerzhaft affizieren. Ein tiefer Ton werde
bei langer Einwirkung manchmal noch gehört, wenn der tönende Körper
nicht mehr schwinge (Nachempfindung). Die Schallrichtung, welche
nach Magendie zum Teile auch durch das Auge ermittelt werde,
könne mit einem Ohre nicht beurteilt werden. Ueber die Entfernung
des Schalles sind wir nur dann im klaren, wenn wir über die Natur
des schallenden Körpers unterrichtet sind. Irrtümlich sei die Annahme,,
daß ein sehr starker Schall von einem nahen, ein schwacher von einem
entfernten Körper herrühre. Schlechteres Hören mit zunehmendem Alter-
ist nach Magendie teils durch eine Verminderung der Labyrinth-
flüssigkeit, teils durch eine progressive Abnahme der Sensibilität des
Hörnerven bedingt.
Schließlich sei hier folgender für die Hörphysiologie wichtige Ver-
such Magendies hervorgehoben. Nach Durchschneidung der Klein-
hirnschenkel, des verlängerten Markes oder nach Verletzung be-
stimmter Teile des Kleinhirns konnte er unkoordinierte Bewegungen der
Extremitäten, ferner auch ein ganz bestimmtes Schielen beobachten*).
*) Menioires sur les fonetions de quelques parties du s}rsteme nerveux. Journ.
d. Pbysiol. 1825. T. IV.
In4 Johannes Müller.
Die Ergebnisse dieser Versuche wurden später von Flourens als Kon-
trollversuche bei seinen Experimentalarbeiten an den Bogengängen heran-
gezogen.
Johannes Müller. Die Physiologie des Gehörorgans hat durch
den genialen Johannes Müller, den Begründer der modernen Physio-
logie, bahnbrechende Förderung erfahren. Vor allem sind es seine Unter-
suchungen über die Schalleitung in der Trommelhöhle, die für unsere
jetzigen Anschauungen grundlegend wirkten. Johannes Müller,
1801 zu Koblenz geboren, erhielt 1822 den Doktorgrad, habilitierte
sich zwei Jahre später in Bonn als Privatdozent und wurde 1830 zum
ordentlichen Professor ernannt. Kaum 32 Jahre alt, erhielt er den
ehrenvollen Ruf als ordentlicher Professor der Anatomie und Physiologie
an die Berliner Universität, wo sich Männer um ihn scharten, die später
als Physiologen hohen Ruf erlangten. Wir erwähnen nur die Namen
Brücke, Du Bois-Reymond, v. Helmholtz, Ludwig u.a., die sich
mit Stolz Schüler Johannes Müllers nannten. Sein Tod erfolgte plötz-
lich am 28. April 1858.
Der Hörphysiologie widmet Johannes Müller im II. Bande
seines .,Handbuchs der Physiologie des Menschen, Koblenz
1837", eine eingehende Darstellung. Nachdem er die physikalischen
Bedingungen des Hörens, die Wellenbewegung im allgemeinen, die stehen-
den und fortschreitenden Wellen tönender Körper und die Wellenbewegung
bei der Schalleitung besprochen, schildert er in Kürze die Morphologie
des Gehörorgans der Fische , der nackten und beschuppten Amphibien,
der Vögel und Säugetiere, und wendet sich hierauf den akustischen Eigen-
schaften der Gehörwerkzeuge zu. Durch eine Reihe geistreicher Ver-
suche, die er zur Begründung seiner Theorie über die Schalleitung
mittels sinnig erdachter Apparate ausführte , weist er treffend nach,
daß Schallwellen, die von Luft auf Wasser übergehen, am wenigsten an
Intensität verlieren, wenn sie durch Vermittlung einer gespannten Mem-
bran übertragen werden. Dieses physikalische Gesetz gilt auch dann,
wenn die Membran, welche die Schallwellen auf die Flüssigkeit über-
trägt, mit dem größten Teil ihrer Fläche mit einem festen Körper
(Stapesplatte) verbunden ist, der die Flüssigkeit (Labyrinthwasser) be-
rührt. Aus diesen Versuchen konnte Müller ableiten, daß sowohl die
Stapesplatte, als auch die Membran des runden Fensters sehr gute Leiter
für die Uebertragung der Schallwellen auf das Labyrinthwasser sind.
Weiter fand Müller, daß diese Leitung noch um ein Bedeutendes verstärkt
werde, wenn die Schallzuleitung durch eine Membran (Trommelfell) ver-
mittelt wird, die von beiden Seiten von Luft umgeben ist.
Wird, wie Müller an sich selbst beobachtete, das Trommelfell
durch Verdichtung oder Verdünnung der Luft in der Trommelhöhle über
Tafel XXIV
JOHANNES MÜLLER
Johannes Müller. 4Q5
die Grenze des Normalen gespannt, so erleidet das Gehör eine merkliche
Abdämpfung. Die wenig glückliche Formulierung des Satzes: „Eine
kleine, stark gespannte Membran leitet den Schall schwächer, als im
schlaffen Zustand", bedarf des erklärenden Zusatzes, daß hier nicht eine
absolut schlaffe Membran, sondern bloß eine Spannung geringeren Grades
gemeint ist. Irrtümlich ist die Ansicht Müllers, daß aus dem Verlust
der Fähigkeit zum Hören tieferer Töne bei vorhandenem Gehör für
hohe Töne auf eine erhöhte Spannung des Trommelfells zu schließen
sei, nachdem wir wissen, daß diese Höranomalie auch bei Adhäsiv-
prozessen im Mittelohr bei Rigidität und Fixierung der Gehörknöchel-
chen und bei isolierter Stapesankylose beobachtet wird. Müller nimmt
ferner an, daß bei sehr starkem Schall durch den reflektorisch sich
kontrahierenden Tensor tympani das Trommelfell gespannt und das Ge-
hör merklich gedämpft wird. Dem Trommelfellspanner schrieb
Müller eine willkürliche Kontraktion zu und bezog das knackende Ge-
räusch, das er selbst in beiden Ohren hervorrufen konnte, auf die Aktion
dieses Muskels*). Was die Wirkung des Steigbügelmuskels anlangt,
so war Müller der Meinung, daß durch die Kontraktion dieses Muskels
das Ligamentum annulare stapedis gespannt werde, indem die Stapesplatte
durch den Zug des Muskels am hinteren Abschnitte um so viel tiefer in
das ovale Fenster hineinrücke, als der vordere Abschnitt sich nach außen
zu schiebe.
Die schon früher des öfteren ventilierte Frage, ob die Schallwellen
durch Vermittlung der Gehörknöchelchen auf das ovale Fenster oder
durch die Trommelhöhlenluft auf das runde Fenster übertragen werden,
entschied Müller dahin, daß ein ausschließliches Anerkennen einer Art
von Leitung unstatthaft sei, da beide Teile nach physikalischen Gesetzen
leitungsfähig seien. Doch lieferten seine Versuche den Nachweis, daß
die Schalleitung durch die Gehörknöchelchen ungleich intensiver und von
größerer physiologischer Bedeutung ist, als die Luftleitung zur Membran
des runden Fensters.
Die Eustachische Ohrtrompete ist nach Müller dazu bestimmt,
die Luft der Trommelhöhle zu erneuern und mit der äußeren Luft ins
Gleichgewicht zu setzen. Dadurch werde eine durch einseitige Ver-
dichtung oder Verdünnung der Luft entstehende abnorme Spannung des
Trommelfells und die hieraus entstehende Hörstörung verhindert. Nebst-
dem dient die Tube dem Sekretabflusse aus der Trommelhöhle. Ob
durch den Tubenkanal, wie Müller meint, die Resonanz der Töne
hintangehalten wird, muß dahingestellt bleiben.
*) Von Luschka und mir wurde der Nachweis erbracht, daß dieses Geräusch
durch eine Bewegung im Tubenkanale erzeugt wird (Tubenknacken).
406 Johannes Müller.
Den äußeren Gehör gang hält Müller für die Schalleitung
in dreifacher Hinsicht wichtig, erstens weil er die aus der Luft ein-
fallenden Schallwellen unmittelbar auf das Trommelfell leite, zweitens,
weil seine Wände die der Ohrmuschel selbst mitgeteilten Wellen auf dem
nächsten Wege dem Trommelfell übermitteln , und endlich, weil die im
Gehörgang enthaltene Luft der Resonanz fähig ist.
Die Ohrmuschel ist teils Reflektor, teils Kondensator und Leiter
der Schallwellen. Als Reflektor kommt vorzüglich die Concha in Be-
tracht, indem sie die Schallwellen der Luft gegen den Tragus wirft, von
wo sie in den Gehörgang gelangen.
Müller hebt hervor, daß jeder begrenzte feste Körper (Kopf-
knochen, in der Nähe des Gehörorgans liegende Knorpel, Membranen)
und jede begrenzte Luftmasse in der Nähe des Labyrinthes ein Resonator
sei. Von dieser Resonanz der Lufthöhlen hängt zum Teil das starke
Hören ab, wenn man sich durch eine Röhre in den Mund oder die Nase
sprechen lasse. Müller ist der Ansicht, daß man bei vollkommen ver-
stopften Gehörgängen die eigene Stimme deshalb schwächer höre, weil
die Resonanz der Luft im äußeren Gehörgange aufgehoben sei.
Ueber den Unterschied der Schalleitung durch die Trommel-
höhle und durch die Kopfknochen spricht sich Müller ungefähr
folgendermaßen aus:
Die Trommelhöhlenleitung teilt dem Labyrinth einseitige Stöße durch
die beiden Fenster mit, von wo -aus dann die Wellen sich im Labyrinthwasser
verbreiten. Die Kopfknochenleitung führt dem Labyrinthe von jeder Seite
aus Schallwellen zu. Bei fest verstopften Ohren leitet das Ohr die Luftwellen
immer noch stärker als die Kopfknochen. Müller übersah hierbei, daß man auch
bei Ausschaltung der Luftleitung durch den äußeren Gehörgang, durch die Tuba
Eust. hören kann. Die begrenzten und beweglichen Gehörknöchelchen wirken viel
stärker auf das Labyrinth als die unbeweglichen (nicht isolierten) Kopfknochen.
Die Leitung durch die Gehörknöchelchen ist auch dann vorhanden, wenn die Luftwellen
zuerst den Kopfknochen zugeführt werden , in welchem Falle die Schallwellen auch
dem Trommelfell und den Gehörknöchelchen mittelbar zugeleitet werden und der
Trommelhöhlenapparat resonniert (cranio-tympanale Leitung). Er stützt diese Ansicht
auf folgenden Versuch: Setzt man eine tönende Stimmgabel bei verstopften Ohren
auf den Scheitel, so wird der Ton viel schwächer perzipiert, als beim Ansetzen der Gabel
auf die Schläfe. Je näher die mit den Kopfknochen in Berührung stehende Gabel dem
(iehörgange gebracht wird, desto stärker wird der Ton empfunden. Der Ton der Gabel
wird auch umso stärker empfunden, je näher sie dem Labyrinthe und dem Gehörgange auf
den Schädel angesetzt wird. Die Bedeutung des Labyrinth was sers versucht Müller
folgendermaßen zu erklären : „Der letzte Endzweck des Gehörorgans ist vollkommene
Mitteilung der Stoßwellen an die Nervenfasern. Da diese, wie alle Nerven, weich
und von Wasser durchdrungen sind , so würde schon die Mitteilung der Stoßwellen
von festen Teilen an diese weichen Nerven zum Teil eine Reduktion der Schwingungen
des Wassers sein. Außer der Weichheit der Nerven durch Wasser sind auch alle
Zwischenräume zwischen den Nervenfasern mit Gewebsflüssigkeit ausgefüllt. Geschieht
Jobannes Müller. 407
die Mitteilung der Stoßwellen vom Labyrinthwasser aus auf die Fasern des Hör-
nerven, so ist das Medium der nächsten Mitteilung gleichartig mit dem, welches die
Interstitien der Nerven selbst einnimmt. In diesem Fall mag die Schwingung der
Teilchen in dem Nerven selbst viel gleichartiger sein, als wenn bloß die Oberflächen
des Nerven feste Teile berührten. Im letzteren Falle würden die Teilchen des Nerven,
welche die festen Teile berühren, eine andere Kontiguität haben als diejenigen
Teilchen des Nerven, welche mehr im Innern des Nerven und von der Berührungs-
fläche mit festen Teilen entfernt liegen.
Die Wasserleitungen spielen nach Müller in der Physiologie des Gehörs
gar keine Rolle. Sie enthalten weder häutige Kanäle noch Flüssigkeit oder Venen-
stämme und sind bloß Verbindungen der Beinhaut und Dura mater mit der inneren
Beinhaut des Labyrinths.
Seine Ansicht, daß die Vor ho fs säckchen sensible Aufnahms-
organe der Schallwellen und die Bogengänge Kondensatoren des
Schalles seien, modifizierte Müller nach dem Bekanntwerden der
Flourens'schen Versuche dahin, daß die Ampullarnerven die eigentüm-
liche spezifische Energie besitzen, auf jeden Reiz mit einer Drehbewegung
zu antworten. Er versuchte experimentell nachzuweisen, daß die Oto-
lithen als feste Körper die in der Flüssigkeit erregten oder fortge-
leiteten Schallwellen durch Resonanz verstärken, eine Ansicht, die später
widerlegt wurde.
Was die Funktion der Schnecke anlangt, so kommt Müller zur
Schlußfolgerung, daß ..die Spiralplatte der Schnecke als eine die Nerven-
fasern tragende Platte betrachtet werden müsse, auf der alle Schnecken-
nervenfäsern fast gleichzeitig die Stoßwelle empfangen und gleichzeitig
in das Maximum der Verdichtung und dann wieder in das Maximum der
Verdünnung eintreten. "
Bezugnehmend auf die Arbeiten E. H. Webers*) führt Müller
aus, daß die Verbindung der Spiralplatte mit den Wänden des Labyrinths,
die Schnecke vorzüglich für Schallperzeption durch die Kopfknochen
befähige.
Aus dem letzten Kapitel der Hörphysiologie Johannes Müllers,
in welchem er das Unterscheiden und die Harmonie der Töne, die Nach-
empfindung und die Schärfe des Gehörs bespricht, ist seine Ansicht
über die Paracusis Willisii hervorzuheben. Er führt sie auf eine Er-
schlaffung (Torpor) des Hörnerven zurück, der zur Schärfung seiner
Tätigkeit durch Erschütterung erregt werden müsse. Diese irrige Ansicht
wird noch jetzt von manchen Otologen vertreten.
Die subjektiven Töne erklärt Müller als einen Reizzustand des
Hörnerven bei Hirnkranken, Nervenschwachen und bei solchen, deren
Hörnerv selbst krank ist. Von den rein subjektiven Tönen unterscheidet
er diejenigen, wo der Schall im Gehörorgane selbst erzeugt wird. Als
*) Annotationes anatomicae et nhysiologicae. Lip. 1834.
408 Savart.
solche erwähnt er aneurysmatische Ausdehnung der Gefäße, das Knacken
bei Kontraktion der Binnenmuskeln des Ohres, das Rauschen bei Zu-
sammenziehung der oberen Gaumenmuskeln und beim Gähnen. — Schließ-
lich zitiert Müller die von Heule beobachtete individuelle Eigentümlich-
keit, daß bei leisem Hinüberfahren des Fingers über die Wange ein
Rauschen im Ohre entsteht. Müller führt dieses Symptom auf eine
Reflexwirkung vom Facialis auf das Gehirn und den Acusticus oder auf
die Muskeln der Gehörknöchelchen zurück.
Die Annahme, daß die Ohrmuschel in schwingende Bewegung gerät und
den Schall in den Gehörgang fortpflanzt, wurde von manchen Physiologen wie
Savart*) und Lincke**) verteidigt, von anderen wie Henle***) bestritten. Die
Deutung der zur Beweisführung angewendeten Stimmgabelversuche ist insofern eine
irrige, als die Reflexion der Schallwellen von der Ohrmuschel in den Gehörgang
nicht durch die Vibration des Knorpels, sondern durch die Konfiguration der vorderen
Fläche der Muschel bewirkt wird. Esserf) fand durch Ausfüllen einzelner Ver-
tiefungen der Ohrmuschel mit weichem Wachs, daß es vornehmlich die Concha
ist, die den größeren Teil der Schallwellen in den Gehörgang reflektiere. Nach
Lincke (1. c.) kommt dem Tragus und Antitragus bei der Reflexion von der Concha
eine wichtige Bedeutung zu.
Savart (1791 — 1841). Der französische Physiker Savart-j-f) versuchte nach
dem Prinzipe der Chladni sehen Figuren die Trommelfellschwingungen zu erklären.
Er fand am anatomischen Präparate, daß der auf das Trommelfell gestreute feine
Sand bei Einwirkung von Tönen erst dann in Bewegung gerate, wenn nach Eröffnung
der Trommelhöhle der Trommelfellspanner erschlafft wurde. Savart bewies hier-
durch, daß durch die stärkere Spannung des Trommelfells die Intensität der
Schwingungen abnimmt und daß das Ohr durch den Trommelfellspanner vor der
schädlichen Wirkung heftiger Töne geschützt wird. Er unternahm es, den Einfluß
der Spannung des Trommelfells auf die Schwingungsfähigkeit dieser Membran und
die Funktion des runden Fensters experimentell zu erforschen 777) und fand , daß
die Größe, Dicke, Elastizität und der Spannungsgrad einer Membran die Perzeptions-
grenze tiefer und hoher Töne wesentlich beeinflusse. Eine große Membran überträgt
leicht tiefe Töne, nicht aber hohe; umgekehrt kann eine kleine Membran nur
hohe Töne übertragen. Savarts Versuch, diese Resultate auf das Trommelfell zu
überleiten, muß als mißglückt angesehen werden. Auch der Einfluß des äußeren
Gehörgangs auf die Verstärkung des Schalles wurde von Savart experimentell
untersucht. An einem Ende eines trichterförmigen Rohres wurde eine gespannte
Membran befestigt. Der auf diese gestreute Sand geriet kaum in Bewegung, wenn
der tönende Körper sich gegenüber der freien Fläche der Membran befand, hingegen
waren lebhafte Schwingungen zu konstatieren, wenn die Tonquelle vor die trichter-
*) Annales d. Chim. et de physiol. T. 26.
**) 1. c. Bd. I. p. 437.
***) Encyklop. Wörterb. d. med. Wies. Bd. 14. Berlin 1*36.
7) Kastner's Arch. f. d. ges. Naturlehre. Bd. 12.
77) Recherches rar les usages de la membrane du tympan et de Toreille externe.
Journ. d. Physiol. T. IX. 1824.
777) In v. Steins „Die Lehren von den Funkt, d. einz. Teile des Labyr." sind
diese Versuche ausführlich geschildert, p. 61 — 63.
Flourens. 409
förmige Oeffnung gehalten wurde. Savarts Lehre von der Funktion des Trommel-
fells wurde außer von Magendie noch von vielen anderen Forschern, wie Rudolphi.
Joh. Müller. Tourtual, Steifensand und Henle akzeptiert. Ablehnend gegen
seine Theorien verhielten sich Autenrieth und Kerner, Itard und Bonnafont.
Itard*) versuchte die Vibrationen des Trommelfells dadurch nachzuweisen,
daß er eine Schweinsborste auf die Mitte des Trommelfells aufsetzte und nun tiefe
und hohe Töne auf das Ohr einwirken ließ. Die Borste zeigte nicht die geringste
Bewegung, obwohl die Versuchsperson alle Töne genau perzipierte. Dieses Ergebnis
erscheint uns jetzt nicht befremdlich, da wir wissen, daß die Trommelfellvibrationen
nur mit Hilfe mikroskopischer Vorrichtungen zur Anschauung gebracht werden können.
Die alte Streitfrage, ob die Schalleitung zum Labyrinth durch die Ge-
hörknöchelchen oder dui'ch die Luft der Trommelhöhle zum Schneckenfenster ge-
schehe, blieb noch bis über diese Periode hinaus auf der Tagesordnung. Während
Magendie. Savart, Itard, Home, Henle, Esser und Muncke die Schalleitung
durch die Knöchelchen für das Essentielle erklärten, war Treviranus der Ansicht,
die Gehörknöchelchen seien zur Schalleitung nicht geeignet. Die Mehrheit der Physio-
logen neigte jedoch zu der Auffassung, daß sowohl die Gehörknöchelchen, als auch
die Luft den Schall vom Trommelfell zum Labyrinthe leiten.
Daß der Streit über die Wirkung der Binnenmuskeln des Ohres endgültig
dahin entschieden wurde, daß Tensor tymp. und M. stapedius Antagonisten sind,
wurde schon früher erwähnt; desgleichen, daß die Kontraktion beider Muskeln sich
reflektorisch vollzieht und daß die Möglichkeit einer willkürlichen Bewegung dieser
Muskeln zugegeben wurde.
Flourens (1704 — 18(37), Professor der vergleichenden Anatomie
in Paris, der Begründer der modernen Physiologie des Bogengangapparates,
trat mit seinen neuen experimentellen Untersuchungen über die Funktionen
des inneren Obres 1824 vor die Oeffentlichkeit**). Trotz der günstigen
Beurteilung durch Cuvier fanden die Arbeiten Flourens' nicht die
gebührende Berücksichtigung. Erst nach späteren Publikationen Flourens'
1842***) und 1861f) wurde die fundamentale Kenntnis von der Funktion
der Bogengänge für immer sichergestellt.
Von seinen Versuchen zitieren wir folgende:
Zerstörung beider Trommelfelle bei Tauben schwächt das Gehör des Tieres
nicht merklich, hingegen wird das Gehör bedeutend herabgesetzt durch Extraktion
der Columella (Stapes) aus dem Vorhofsfenster, wobei die Labyrinthflüssigkeit ab-
fließt. Zerstörung des Nervus vestibularis und der Lagena (Schnecke) bewirkt totale
Taubheit1).
*) Die Krankheiten des Ohres und des Gehörs. Deutsch. Weimar 1822. Vor-
rede S. G.
i Memoires presentcs ä lAcademie royale des sciences. 27. Decembre 1824.
i Recherche« experimentales sur lea proprietes et les fonctions du Systeme
nerveux etc. 1842.
7) Nouvelles experiences sur l'independance respective des fonctions cerebralem
Comptes rendus. T. LH, 1861.
Vergl. ferner L. W. Sterns vollständige Literaturangabe über die nicht akusti-
schen Funktionen des inneren Ohres. (A. f. O. Bd. 39.)
410 Flourens.
Verletzung der häutigen Bogengänge bewirkt eine schmerzhafte Empfind-
lichkeit gegen Töne und ist von jähen, heftigen Kopf bewegungen begleitet*).
Diese wiederholen sich sogleich, wenn man den häutigen Bogengang mit einer Nadel
berührt. Nach Durchschneidung der horizontalen Kanäle dreht sich das Tier um
die vertikale Achse, nach Durchschneidung der hinteren, vertikalen überkugelt es
sich nach rückwärts, nach Durchschneidung der vorderen Vertikalkanäle nach vor-
wärts. Bei den Vögeln, die mehr fliegen als gehen, zeigen sich die Phänomene
mehr im Fliegen, bei den anderen beim Gehen. In der Ruhe schwinden sie,
um bei Bewegungen sofort wieder aufzutreten. Durchschneidung zweier vertikaler
Kanäle (rechts und links) ruft vertikale Kopfbewegungen hervor, Durchschneidung
der horizontalen und vertikalen Kanäle bewirkt horizontale und vertikale Kopf-
bewegungen. Durchschneidung eines Kanals einer Seite verursacht viel schwächere
Störungen.
Bei diesen Versuchen wurde eine Verletzung des Kleinhirns vermieden.
Nicht ganz konform waren die Ergebnisse bei den Versuchen an jungen
Kaninchen. Bei Durchschneidung des horizontalen Bogengangs traten langdauernde
horizontale Kopfbewegungen und heftige Bewegung der Bulbi und Lider auf. Nach
Durchschneidung der (hinteren) Vertikalbogengänge erfolgten Kopfbewegungen von
unten nach oben und Ueberstürzen nach rückwärts ; Verletzung des vorderen Bogen-
gangs bewirkte Ueberstürzen nach vorwärts2).
Aus diesen Versuchen schließt Flourens, daß die Tätigkeit der Bogengänge
resp. der Bogengangsnerven in der Hemmung der Bewegungen bestehe (Forces
moderatrices).
Ckevreuil**) war es, der zuerst Flourens aufmerksam machte, daß es sich
bei den Bewegungsstörungen , die nach Verletzung der Bogengänge auftreten, nicht
um Reiz-, sondern um Ausfallserscheinungen handle. Diese Deutung der Phänomene
durch den Ausfall der von den Bogengängen ausgehenden Impulse (Hemmungs- oder
Lähmungstheorie) wurde von Flourens akzeptiert.
Aus der Beobachtung , daß nach der Durchschneidung von Längsfasern des
Pons, der Fasern des Processus cerebelli ad corp. quadrig. und von Fasern, die vom
Kleinhirn zum verlängerten Mark verlaufen, ähnliche Bewegungen des Tieres auf-
treten wie nach Durchschneidung der Bogengänge, schloß Flourens, daß diese
Fasern mit den Nerven des Bogengangapparates in Verbindung stehen.
Das wichtigste Ergebnis der Experimente Flourens' ist die Erkenntnis, daß
der Vorhofs- und Bogengangapparat keine Hörperzeptionsorgane sind, und daß die
Tonempfindung nur durch die Schnecke vermittelt wird.
Die zahlreichen Nachprüfungen und Ergänzungen der Flourensschen Ver-
suche fallen bereits in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
J) La destruction de la membrane du tympan , ainsi que des osselets, retrief
excepte , n'apporte qu'une legere perturbation dans l'oui'e; mais apres l'ablation de
l'etrier, cette fonction est beaucoup plus sensiblement diminuee, et eile disparait
peu de temps apres. „Une remarque particuliere , et que je ne dois pas omettre,
c'est que la destruction des parois du vestibule, de la membrane des fenetres ronde
et ovale, bien qu'elle n'abolisse pas sur-le-champ l'audition , finit toujours au bout
*) Die Ansicht, daß es sich hierum reine Gleichgewichtsstörungen handelt,
und daß die Bogengänge Gleichgewichtsorgane seien, wurde zuerst von Goltz aus-
gesprochen.
**) Experiences sur les c. s.-c. de l'oreille, dans les oiseaux et les mammiferes.
Joum. des Savants 1831, p. 9—11.
Tafel XXV
M. J. P. FLOURENS
Purkinje. 411
d'un temps plus ou moins long par la detruire. L'etrier est de toutes ces parties
celle dont la perte entrame le plus tard la perte de l'audition." — 2) La section
des canaux horizontaux est suivie d'un mouvement horizontal, et la section des canaux
verticaux , d'un mouvement vertical de la tete. p. 480. La section du 'canal hori-
zontal est suivie d'un tournoiement de l'animal sur lui-meme ; celle du canal vertical
posterieur, d'un mouvement de culbute en arriere; et celle du canal vertical anterieur,
d'un mouvement de culbute en avant. Les mouvements singuliers que determine la
section des canaux semi-circulaires se reproduisent donc dans les rnammiferes comme
dans les oiseaux.
Anschließend sollen hier einige experimentelle Arbeiten über den
Drehschwindel kurz besprochen werden. Zunächst die interessanten,
mit den einfachsten Mitteln ausgeführten Versuche Purkinjes*).
Daß Scheinbewegungen nach plötzlicher Aenderung der Kopfhaltung (Augen-
schwindel) auftreten, wurde schon vom älteren Darwin in seiner Zootomie erwähnt.
Purkinje beobachtete als der erste, an sich selbst und an Wahnsinnigen, die im
Drehstuhl gedreht wurden , daß während des Drehens und beim Aufhören der
Drehung eine unwillkürliche, konvulsivische, äußerst schnelle Bewegung beider Augen
auftritt. Er vertrat die Ansicht, daß diese „bewußtlose, subjektive Bewegung, aufs
Objekt übertragen, der Grund der Scheinbewegung sei." Purkinje konstatierte
ferner, daß die Richtung der Scheinbewegung bestimmte Abänderungen erfährt,
wenn beim Drehen des Körpers die Lage des Kopfes verändert wird. Als Ursache
des Drehschwindels betrachtet er eine Zerrung des Gehirns während der Drehung.
Auch der galvanische Schwindel, wie er bei Durchleiten eines galvanischen Stromes
durch beide Ohren entsteht, war Purkinje bekannt. Er verglich diese Beobach-
tungen mit den Versuchen Flourens' über die Bedeutung des Kleinhirns und sprach
die Ansicht aus, daß bei Verletzung und Wegnahme verschiedener Teile des großen
und kleinen Gehirns verschiedene Formen von Richtungsschwindel erregt werden,
die jene scheinbar konvulsivischen Bewegungen des Körpers als Versuche, das ver-
lorene Gleichgewicht wieder zu erlangen, zur Folge haben.
Purkinje war daher der Zusammenhang des Drehschwindels und des hierbei
auftretenden Nystagmus mit den bei raschen Drehbewegungen im Vestibular-
apparate ausgelösten Reizen unbekannt. Erst Mach**) sprach sich klar dahin
aus, daß der Drehschwindel sich nach den bei den Fl oure ns sehen Experimenten
auftretenden Phänomenen deuten lasse. Im übrigen sei auf die Ansicht Johannes
Müllers hingewiesen***), daß die Ampullennerven die eigentümliche spezifische
Energie besitzen, auf jeden Reiz mit einer Drehempfindung zu antworten.
Marcus Herz vertritt in seiner Schrift „Versuch über den Schwindel" (Berlin
1786, 1791) die Ansicht, daß der Schwindel durch eine rasche Aufeinanderfolge der
Vorstellungen entstehe, da zwei aufeinanderfolgende Sinneserscheinungen einen ge-
wissen Zwischenraum erfordern (vergl. v. Stein, 1. c). Mach, der sich das Buch
*) Med. Jahrb. d. öst. St, Bd. 6, H. 2 , Jahrg. 1820. - - Bulletins d. schles.
Gesellsch. Breslau 1825 u. 1826. — Ein Referat findet sich auch in Rusts Magazin
1827, und eine besonders ausführliche Darstellung der Versuche in v. Steins „Ohr-
labyrinth ".
**) Physika!. Versuche über den Gleichgewichtssinn d. Menschen. 68. Bd. der
Sitzb. d. k. Akad. d. Wiss. 1873.
***) 1. c. 4. Aufl. 1841 — 1844.
412 Wollaston.
in der Meinung verschaffte, er werde den Purk inj eschen Versuchen ähnliche wert-
volle Daten finden, fand sich enttäuscht; er sagt: rK< enthält nicht einen einzigen
Versuch und ist überhaupt ganz naturphilosophisch gehalten. Die Erklärungen des
Verfassers sind rein psychologisch und die Theorie der unbewußten Schlüsse, welche
bei ihm schon in der Blüte steht, kann geradezu als abschreckendes Beispiel dienen."
Johann Willi. Ritter war der erste, der auf den galvanischen Ohrschwindel
hinwies, wobei er eine Tonempfindung beobachtete, deren Hübe er auf g4 bestimmte1).
Volta hatte nur eine akustische Wirkung bei der Einschaltung der Ohren in seinem
Vierzigplattenelemente enthaltenden Apparat wahrgenommen. Purkinje, der an-
läßlich seiner Drehschwindelversuche auch den galvanischen Schwindel studierte, hatte
bei der Durchleitung des elektrischen Stromes von Ohr zu Ohr das Gefühl , als ob
er sich in der Richtung vom Kupfer- zum Zinkpole bewegen würde. Wurde der
.Strom unterbrochen, so trat der Schwindel in entgegengesetzter Richtung auf.
Franz v. P a u 1 a G r u i t h u i s e n **) meinte, daß der „ Muskelsinn " die Empfin-
dungen der Lage vermittle und daß auch das Schwindelgefühl auf diesen Sinn
zurückzuführen sei.
Untersuchungen über Perzeption hoher und tiefer Töne und über
Schulleitung durch die Kopfknochen.
Der Physiker Wollaston (1766 — 1828) machte die Beobachtung, daß manche
Schwerhörige hohe Töne besser perzipieren als tiefe. Er konnte auch an sich selbst
wahrnehmen, daß sein Ohr bei Vorhandensein eines Schalleitungshindernisses für
tiefe Töne unempfindlicher war als für hohe. Ein normales Ohr jedoch scheint nach
seinen Untersuchungen keine scharfe Grenze für das Unterscheiden tiefer Töne zu
haben. Anders steht es hingegen mit den hohen Tönen. Wollaston bemerkte
nämlich bei einem Bekannten, der sonst sehr gut hörte und musikalisch war, daß
dieser für den Ton einer kleinen Pfeife, der sich weit innerhalb der Wahrnehmungs-
fähigkeit seines eigenen Ohres befand , unempfänglich war. Er fand bei einer
normalhörenden Verwandten . daß sie das Zirpen der Feldgrillen nie hören konnte,
und ferner bei einem Manne mit normalem Gehör, daß er sogar das Zwitschern des
Sperlings nie gehört hatte. Nach eingehenden Untersuchungen über die Perzeption
hoher Töne gelangte Wollaston zu dem Resultate, daß man plötzlich eine höhere
Note nicht zu hören vermöge, während man die vorhergehende noch deutlich gehört
hat und daß es sicherlich Töne von großen Schwingungszahlen gebe, für die alle
Ohren unempfänglich sind, eine Tatsache, die auch durch neuere Untersuchungen
(zuckende Flammen) ihre Bestätigung erhielt***).
Er fand ferner, daß bei Luftverdünnung in der Trommelhöhle nach einem
Schlingakte bei geschlossenen Nasenöffnungen (Toynbee'scher Versuch) infolge der
stärkeren Spannung des Trommelfells die Empfindlichkeit für tiefe Töne, nicht aber
für hohe Töne abnahm j).
*) Ueber die Anwendung der Vo Itaischen Säule. Hufelands Journ. f.
prakt. Heilk. Bd. XVII, 1803.
| Anthropologie oder von d. Natur d. menschl. Leb. und Denk. f. angehende
Philosoph, u. Aerzte. München 1810.
**) On Sounds inaudible by certains ears. Philosoph. Transact. p. 306. 1820.
(Ueber Töne, welche durch einige Ohren nicht vernommen werden. Meckels Archiv
Bd. VIII. 1823.)
t) Vergl. Frorieps Notiz. 1823.
Wheatstone. 413
Was die Grenze anlangt, bei der die Perzeption hoher Töne erlischt, so stellte
Wollaston fest, daß die Fähigkeit, hohe Töne zu hören, plötzlich aufhört; man
vernimmt von zwei bestimmten, in der Tonleiter nebeneinander liegenden Tönen
den einen noch und den anderen nicht mehr. Nach Wollaston erstreckt sich der
Gehörsinn des Menschen auf ca. 9 Oktaven (30 — 18000 Schwingungen in der Sekunde).
Eine feste Grenze für die tiefen Töne ist schwer zu ermitteln, da ein völlig nor-
males Ohr die schwingenden Bewegungen (z. B. einer Stimmgabel) selbst dann
noch empfindet, wenn die Vibrationen zu einem bloßen Zittern geworden sind, die
sich beinahe zählen lassen.
Die Ansichten anderer Autoren über die Grenzen der wahrnehmbaren Töne
divergieren vielfach. Nach C h 1 a d n i beträgt die unterste Perzeptionsgrenze 30,
nach Biot 32, nach Savart 16 einfache Schwingungen. Als höchste Perzeptions-
grenze ermittelten Sauveur 12400. Chladni 48000 einfache Schwingungen. Nach
Despretz liege die Grenze der wahrnehmbaren und vergleichbaren Töne zwischen
32 und 73000.
Von Interesse ist der Vorschlag Despretz', die hohen Stimmgabeln von c4
bis c9 zur Feststellung der Zu- oder Abnahme der Empfindlichkeit des Gehörs bei
Schwerhörigen zu verwenden*).
Bonnafont fand, wahrscheinlich der Anregung Despretz' folgend, daß
bei Abnahme der Sensibilität des Hörnerven das Ohr die Fähigkeit verliert, hohe
Töne der Stimmgabel zu perzipieren, während die tiefen Töne deutlich gehört
werden , gleichviel ob die Stimmgabel in die Nähe des Ohres oder bei stärkerer
Taubheit an verschiedenen Stellen des Schädels appliziert wird **). Dieser Stimm-
gabelversuch bildet jetzt noch ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel bei Störungen
des Hörnervenapparates.
Besondere Beachtung verdienen die physiologischen Versuche und
Beobachtungen derjenigen Autoren, die sich eingehend mit der Schall-
leitung durch die Kopfknochen befaßten.
Von dem Engländer Wheatstone erschien in dem „Quarterly
Journal of science" (1827, p. 67)***) eine kurze Abhandlung über einige
von ihm ausgeführte, die Physiologie des Hörens betreffende, sehr inter-
essante Versuche, der wir folgendes entnehmen.
Verschließt man die Oeffnung des Gehörgangs mit dem Finger, so
wird die Perzeption der von außen kommenden Töne bedeutend ver-
mindert, während die eigene Stimme um vieles lauter gehört wird 1).
Besonderes Interesse jedoch verdient folgendes Phänomen , weil in
ihm die Idee des Web ersehen Versuches bereits klar ausgesprochen
erscheint, wenn auch Weber unstreitig das Verdienst gebührt, als erster
auf die Verwendung dieses Versuches zur Diagnose der Gehörerkran-
kungen hingewiesen zu haben: Wird der Stiel einer klingenden Stimm-
gabel an irgend einen Teil des Kopfes angesetzt, während die Ohr-
öffnungen verschlossen sind, so wird die Perzeption des Stiinmgabeltones
*) Acad. des sciences 1846.
**) Im Courrier francais 7. mai 1845. Vergl. Frorieps Notizen, Jahrg. 1*45.
Prorieps Notizen Nr. 6 des XIX. Bds., 1827.
4 1 | E. H. Weber.
bedeutend verstärkt. Wird nur eine Ohröffnung mit dem Finger ver-
schlossen, so glaubt man den Ton vorzugsweise mit dem ver-
schlossenen Ohre zu hören2). Wheatstone erklärt diese Ver-
stärkung der Tonempfindung dadurch, daß die im äußeren Gehörgange
eingeschlossene Luft ihre Schwingungen lange fortsetze. Endlich er-
wähnt Wheatstone, daß man beim Vorwärtsbewegen der Ohrmuschel
die hohen Töne intensiver höre, während die Perzeption der tiefen Töne
hierbei unverändert bleibt.
]) If the band be placed so as to cover the ear, or if the entrance of the meatus
auditorius be closed by the finger without pressure, the pereeption of external sounds
will be considerably ditninished , but the sounds of the voiee produced internally
will be greatly augmented. — 2) Placing the eondueting stem of a sounding tuning-
fork on any part of the head, when the ears are closed as above described, a
siniular augmentation of sound will always be observed. When one ear remains
open, the sound will always be referred to the closed ear.
Im selben Jahre, wie die Abhandlung Wheatstones, erschien ein Aufsatz
Tourtuals*), der zu demselben Resultate gelangt. Tourtual benützte zu seinen
Versuchen anstatt der Stimmgabel die Taschenuhr. Er äußert sich hierüber folgen-
dermaßen: „Man lege eine Taschenuhr in die Mundhöhle, so daß sie mit beiden
Zahnreihen in Berührung tritt, bemerke sich nun die Stärke des hörbaren Schlages
und bringe alsdann beide Zeigefinger in die äußeren Gehörgänge, so wird der Schlag
der Uhr viel lauter gehört. Zieht man jetzt beide Zeigefinger zurück und führt bloß
den einen in das rechte Ohr. so scheint der Schlag der Uhr sich allmählich zu diesem
Ohre hinzuziehen, und dies umsomehr, je tiefer der Finger in den äußeren Gehör-
gang eindringt, so daß nun der Schall mehr in der Richtung rechtsher vernommen
wird. Der umgekehrte Fall tritt bei Verstopfung des linken Gehörgangs ein."
(Zitiert nach v. Steins Literatur der Anatomie und Physiologie d. Ohres. Moskau
1890, p. 23.)
Ernst Heinrich Weber, am 24. Juni 1795 zu Wittenberg geboren,
1815 daselbst zum Doktor promoviert, habilitierte sich 1817 zu Leipzig,
wo er 1818 die außerordentliche Professur für vergleichende Anatomie,
1821 die ordentliche Professur der Anatomie und Physiologie erhielt.
Im Jahre 1866 verzichtete er auf die Professur der Physiologie, im
Jahre 1871 auch auf die der Anatomie und starb am 26. Juni 1878.
Aus seinen zahlreichen anatomischen und physiologischen Abhand-
lungen kommen für unser Fach in Betracht: die grundlegende Arbeit
„Wellenlehre auf Experimente gegründet oder über die Wellen tropf-
barer Flüssigkeiten mit Anwendung auf die Schall- und Luftwellen''
(Leipzig 1825) im Verein mit Ed. Weber. Ferner „Annotation es ana-
tomicae et physiologicae ; programmata collecta" **), und die Abhandlung
*) Die Sinne des Menschen u. d. wechseis. Beziehungen ihres phys. u. organ.
Lebens etc. Münster 1827.
**) Prol. IV, 1829 und De pulsu, resorptione, auditu et tactu. Lipsiae 1834. p. 25.
Tafel XXVI
ERNST HEINRICH WEBER
E.H.Weber. 415
-De utilitate Cochleae in organo auditus". Seine Anatomie des Gehör-
organs in dem Hildebrandschen Handbuch der Anatomie des Menschen.
1832, kann noch jetzt mit Nutzen gelesen werden.
In dem Schriftchen „De utilitate Cochleae in organo auditus" gerät E. H. Weber
bezüglich der Funktion der Schnecke sowohl mit den älteren als auch mit den modernen
Anschauungen in Widerspruch. Er bestritt die Ansicht Autenrieths und Kerner-,
die die Schnecke als Organ zur Perzeption der Klangfarbe bezeichneten (S. 401).
und ebenso die Anschauung Valsalvas (S. 238), der die Perzeptionsfähigkeit der
einzelnen Windungen der Schnecke für verschiedene Töne abgrenzt, und kommt
zu dem irrigen Schlüsse, daß die durch den äußeren Gehörgang durch die Luft
zugeleiteten Schallwellen von den membranösen Gebilden des Vorhofs und der
Bogengänge perzipiert werden, während die Schnecke vorzugsweise der Perzeption
der dem Ohre durch die Kopfknochen zugeleiteten Schallwellen diene.
Studebo igitur probare, sonos per ossa capitis ad auditum propagatos potis-
simum Cochleae ope audiri, sonos autem per meatum auditorium externum ad auditum
perductos a vestibulo membranaceo et a canalibus semicircularibus membranaceis
vestibulo adiunctis facilius quam a Cochlea percipi. 1. c. p. 9.
Was den in der Otiatrie eingebürgerten „Weberschen Versuch" anlangt, so
stimmen die von AVeber angestellten Untersuchungen mit denen Wheatstones
überein, doch muß als bestimmt angenommen werden, daß die Arbeit des letzteren
Weber unbekannt war. Webers Angaben über diesen Versuch lassen sich im
folgenden zusammenfassen.
Versehließt man beide Ohren fest mit den Händen, so wird die eigene Stimme
stärker gehört als bei offenen Ohren. Wird bloß ein Ohr verschlossen, so hört man
die eigene Stimme auf diesem Ohre viel stärker als auf dem offenen. Dasselbe
Resultat erhält man, wenn man eine schwingende Stimmgabel auf den Scheitel auf-
setzt, wobei der Ton ausschließlich in dem Ohr perzipiert wird, dessen äußere Ohr-
öffnung mit dem Finger verschlossen wird.
Si vero alterutram aurem manu firmiter occludimus, vocemque emittimus.
certissime, sentimus vocem ab aure occlusa multo melius et fortius audiri quam ab
aure aperta.
Si styluni furcae musicae oscillantis, sonum non nimis acutum edentis, ad
dentes apprimimus et os quantum id fieri potest, labiis et lingua occludimus, aures-
que simul vel manibus ad aures appressis, vel digito in meatum auditorium immisso
claudimus, furcae sono vehementius percellimur quam auribus apertis. Si altera
auris clausa, altex-a aperta est, sonum in aure clausa fortiorem quam in aure aperta
audimus. Idem tum adeo observamus, si dextram aurem claudimus et styluni furcae
musicae oscillantis ad cutim tempora sinistra tegentem apprimimus; sie enim, etsi
furca musica oscillans auriculae sinistrae et meatui auditorio proxima, ab aure
dextra vero valde remota est, tarnen effectum multo vehementiorem hac aure, quam
in aure sinistra habet, et vice versa. Apparet vero sonum in hoc experimento neque
per meatum auditorium, neque per tubam Eustachii, sed tantum per ossa capitis ad
labyrinthum perferri, et tum vehementius audiri, si meatus auditorius aurium clausus
est. Hie effectus vehementior in clausas aures admirationem quidem movet, quia
facile crederes, fore ut vis soni per ossa capitis reeepti augeatur, si idem sonus
simul per meatum auditorium aditum habet, at tarnen non plane repugnat, suspicari
enim licet meatu auditorio clauso aut mutationem aliquam auris fieri, qua labyrinthus
aptior reddetur ad sonos per ossa cranii propagatos reeipiendos, aut duos sonos
diversa via, per ossa cranii scilicet et per meatum auditorium, ad labyrinthum per-
41ti Polansky
venientes se invicem tollere. Quod illani explicationem attinet soni vis v. c. per
resonantiam, forsitan ab ue're in tympano et in meatu auditorio contento profeetam,
ri fortasse potest, si auris clausa est.
Weiter meint also, durch Verschluß des äußeren Gehörgangs gehe eint- Ver-
änderung des Ohres in der Weise vor sich, daß das Labyrinth zur Wahrnehmung
der durch Knochenleitung fortgepflanzten Töne geeigneter wird, oder daß vielleicht
zwei Töne, die auf verschiedenen Wegen (Knochen- und Luftleitung) zürn Labyrinth
gelangen, sich gegenseitig schwächen. Er gibt aber auch zu, daß der Stinimgabelton
durch die Resonanz im Gehörgange und der Trommelhöhle verstärkt wird.
Weber war ein Gegner der Hypothese von den Schneckensaiten, da er diese
in der Lamina spiralis nicht auffinden konnte. Er hielt die Spiralplatte vielmehr
für ein kompaktes Gebilde und verglich sie mit dem Resonanzboden eines Klavi-
chords, der ohne jede Formveränderung bei allen Tönen in Schwingungen gerät
und dadurch die Töne verstärkt.
Die Beobachtung, daß manche Schwerhörige eine auf den Schädel
aufgesetzte Stimmgabel auf dem schwerhörigen Ohr stärker perzipieren
als auf dem normalen, erweckte in Weber die Ueberzeugung, die Stimm-
gabel werde in Zukunft zur Diagnose gewisser Höraffektionen angewendet
werden. Zu diagnostischen Zwecken finden wir diesen Versuch bereits
bei Bonnafont*) und Schmalz**).
Der Wiener Arzt Pol ansky :;:::::;:) bediente sich in allen Fällen von hoch-
gradiger Schwerhörigkeit der Taschenuhr als „Akuometer", die er auf den Warzen-
fortsatz , die Stirne oder Zähne des Patienten auflegte . um den Grad der Empfind-
lichkeit des Hörnerven für „Kopfknockenschallwellen" zu bestimmen. Bei leicht-
gradiger Hörstörung verwendete er einen Stab, an dem eine verschiebbare Taschen-
uhr angebracht war und an dem eine Marke die Entfernung bezeichnete, von der
ein Normalhörender die Uhr perzipieren konnte, wenn er bei verstopften Gehör-
gängen das eine Imde des Stabes mit den Zähnen gefaßt hatte.
Die gefundene Entfernung diente ihm als Maßstab der verminderten Hör-
fähigkeit für „ Kopfknochenschallwellen''. Er verglich auch den Grad der Empfind-
lichkeit gegen „Kopfknochenschallwellen" mit dem gegen „Luftschallwellen'', ob beide
relativ vermindert wären oder ob nicht der eine weiter vom normalen Zustande ab-
stehe als der andere. In diesen Ausführungen Po 1 ansky s ist somit die Idee des
sogenannten Rinn eschen Versuches enthalten.
Hier wären noch einige auf die Kopfknochenleitung bezügliche, interessante
Beobachtungen zu erwähnen. Perierf) beobachtete an Patienten, deren Schädel
trepaniert worden war. daß sie bei hermetisch verschlossenen Ohren vermittels der
Trepanationsnarbe das Gesprochene verstehen konnten. Waren die Ohren ver-
schlossen und wurde die Trepanationsnarbe mit der Hand bedeckt, so hörten die
Kranken nicht.
;j Emploi du diapason dans le traitement des AfFections de l'organe de l'oüie.
Coinpt. rend. d. l'Acad. d. Sciences 1845, T. XX.
| Erf. üb. d. Krankh. d. Gehörs u. ihre Heilung, 1846, u. Ueber Benützung
d. Stimmgabel z. Unterscheid, d. nervösen Schwerhörigkeit von einer durch Verstopfung
herrührenden. Beitr. z. Gehör- u. Sprachheilk. Leipzig 1848, III, p. 32.
i Grundriß zu einer Lehre von den Ohrenkrankheiten. Wien 1842.
f) Ref. in Frorieps Notizen, Jahrg. 1834.
Literatur. 417
Swan*) beschreibt einen Fall von beiderseitiger angeborener Mißbildung der
Ohrmuschel und Atresie beider Gehörgänge bei einer 36jährigen Patientin. Das Mädchen
fing erst mit 8 Jahren zu sprechen an und sprach mit 12 Jahren gut. Hörweite für
Konversationssprache 6 — 7 Fuß. Uhr durch Knochenleitung gehört. Die Annahme
Swans, daß in diesem Falle das Hören durch den N. facialis vermittelt wurde, ist
eine irrige, da hier offenbar bei intaktem Mittelohr und Labyrinth der Schall durch
die Kopfknochen, zum Teil auch durch die Ohrtrompete zum Perzeptionsorgan gelangte.
Bellinge ri, Physiologische Reflexionen über die Struktur und Lage der
Gehör- und Gesichtsorgane. In den Denkschr. d. Akad. d. Wissensch. in Turin 1839.
— Biot, Precis elementaire de physique experimentale. Paris 1824. T. I. — Le
Baron Cagniard de la Tour, Sur la Sirene, nouvelle machine d'acoustique destinee
ä mesurer les vibrations de l'air qui constituent le son. Ann. de Chim. et de Phys.
1819, T. XII. — Chladni, Die Akustik. Leipzig 1802. — Derselbe, Ueber Töne
bloß durch schnell aufeinander folgende Stöße, ohne einen klingenden Körper.
Poggendorfs Ann. d. Phys. u. Chem. 1826, Bd. VIII. — Derselbe, Neue Beiträge
zur Akustik. Leipzig 1817. — Derselbe, Bemerkungen über die Töne einer Pfeife
in verschiedenen Gasarten. Voigts Magazin 1798, Bd. I. — Derselbe, Ueber
Longitudinalschwingungen der Saiten und Stäbe. Nebst beigefügten Bemerkungen
über die Fortleitung des Schalles durch feste Körper Voigts Magazin f. den neuest.
Zust. der Naturk. Jena 1797, Bd. I — Derselbe, Remarques concernant le Memoire
de M. Savart sur la Communication des mouvements vibratoires entre les corps
solides, imprime dans les Ann. d. Ch. et d. Ph. 1820, T. IV. Annal. de Chim. et de
Physique 1822, T. XX. ■ — Derselbe, Resultats des experiences faites, par ordre du
Bureau des Longitudes, pour la determination de la vitesse du son dans Fatmosphere.
Ann. de Chim. et de Physique 1822, T. XX. — Cordier. Sur la possibilite d'imprimer
ä volonte des mouvements aux oreilles. Journ. general d. med., de chir et de pharm.
1823, T. 83. — Edm. Dann, Commentatio de paracusi sive de auditus hallucina-
tionibus. Berol. 1830. — Despretz, Observation sur la limite des sons graves et
aigus. Comptes rendus hebdomadaires 1845, T. XX. — Fabre d'Olivet, Notions
sur les sens de l'ouie en general et en particulier sur le developpement de ce sens,
opere chez Rodolphe Grivel et chez plusieurs autres enfans sourds-muets de naissance.
IL Ed. Montpellier 1819. — Fischer, Ueber die Perzeption der Töne mittels des
Gefühlssinnes. Frorieps Notizen 1836, Bd. XLIX. — Alex. Fischer, Tractat.
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ging by the ear of the position of sonorous bodies. Manchester Mem. New. Series,
1839, Vol. V. — J. H. Hassenfratz. Bemerkungen über die wahre Ursache der
Schallverstärkung durch Sprachröhre. Collections des Mem. des Savants etrangers.
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Notizen, Jahrg. 1841. — Rob. B. Todd, Hearing (Physiology). Ibid. London 1839.
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höchsten. In seinen Vers, aus d. organ. Physik. Jena 1804. — Türk, Von der Ein-
wirkung des N. trigem. auf d. Akust. Oesterr. Wochenschr. 1843, Nr. 44. — Vi dal,
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durch die Zähne. Bullet, de la societe philomatique 1800, Nr. 41 ; Gilberts Ann.
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Gilberts Annalen d. Physik 1804, Bd. XVII. — Derselbe, Ueber Kombinationstöne
in Beziehung auf einige Streitschrift, etc. Gilberts Ann. d. Phys. 1805, Bd. XXI. —
Volquarts, Membranae tympani exploratio anatomico-physiologica. Kiel 1839. —
Wagner, Icones physiologicae. Lips. Physiologie. Leipzig 1839. — J. A. Walther,
Darlegung und Bedeutung der Augenlider und die Funktion des Gehörorgans etc.
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Zweck der Fenestra rot. Amtl. Ber. üb. d. Verb, deutsch. Naturf. u. Aerzte in Braun-
schweig 1841, p. 83. — A. H. L. Westrumb, Ueber die Bedeutung der Eustachi
sehen Trompete. M eckeis Arch. f. Anat. u. Phys. 1828. — Thomas Toung,
Untersuchungen über Schall und Licht. Bearbeitet von Vieth f. Gilberts Annalen
d. Physik 1806, Bd. XXII.
Uebersicht der pathologisch-anatomischen Befunde
im Gehörorgane in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die pathologische Anatomie, die sich erst gegen Ende dieser
Periode als selbständige Disziplin entwickelt, läßt eine zusammenfassende
Bearbeitung der pathologischen Anatomie des Gehörorgans vollständig
vermissen.
Selbst die grundlegenden Werke Cruveilhiers und Rokitanskys
enthalten nichts Bemerkenswertes über das Gehörorgan. Wir können
daher nur über eine Anzahl pathologisch-anatomischer Einzelbefunde be-
Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 419
richten, die sich in der Literatur dieses Zeitraumes zerstreut finden. Am
zahlreichsten sind auch hier wieder Mitteilungen über Bildungsano-
malien des äußeren Ohres.
So beschreibt Puskal1) den vollständigen Mangel der Ohrmuschel und des
Processus mastoideus bei einem neugeborenen Kinde, Löffler (s. S. 316) eine Spalt-
bildung in der Ohrmuschel (Coloboma auriculae) ; Heusinger2) einen Fall mit voll-
ständig fehlendem äußeren Ohr und mannigfach mißbildeten Schläfebeinen bei einem
nach der Geburt verstorbenen Mädchen. Steinmetz3) sah einen Fall von gänz-
lichem Mangel des äußeren Ohres bei einem 18 Monate alten Knaben, Wiedemeyer ')
ein Rudiment eines äußeren Ohres und Gehörgangs bei einem 18jährigen Jüngling.
Cooper5) berichtet von einem Kinde, bei dem beiderseits keine Spur eines äußeren
Ohres vorhanden war. Mussey6) beobachtete einen 27jährigen Mann mit kongeni-
taler Mißbildung beider Ohrmuscheln und vollkommenem Mangel der äußeren Gehör-
gänge. Die Sondierung der Tuba Eustachii mißlang. Trotz dieser Mißbildung soll
das Gehör angeblich durch Vermittlung der Kopfknochen erhalten gewesen sein.
Ueber Defekte der Ohrmuschel oder des Gehörgangs mit erhaltenem Gehör berichten
ferner: Hohl7), Vannoni8), Lincke9), Cooper10), Walther11), Jäger12).
Distopie der Ohrmuschel beschreiben Dzondi 13) und Meckel14). Bram-
ley15) erwähnt eine eigentümliche, nur in Nepal vorkommende Geschwulst des Ohr-
läppchens (Atherom).
Das ganze Gehörorgan betreffende Mißbildungen schildert ausführlich Carl
Langer16). Seine Untersuchungen betreffen die Synotie bei Doppelmißbildungen
und die Verdoppelung der Schläfenbeine bei einköpfigen Doppelmißgeburten.
Andere Mitteilungen über Verschmelzung der Gehörorgane doppelköpfiger
Mißgeburten bringen Heyland17), Zschokke18). Schilderungen über hochgradige
Verbildung der Gehörorgane bei Monstren finden sich bei Hesselbach 19), Tiede-
mann20) und Hyrtl (S. 392).
Ueber pathologisch-anatomische Veränderungen des Trommelfells liegen
nur spärliche Mitteilungen vor. Rosental21) fand bei der Sektion eines Taubstummen
das Trommelfell getrübt und verdickt. Den von Elsässer22) mitgeteilten Fall
von kongenitalem Defekt beider Trommelfelle deutet Schwartze*) als einen durch
Krankheit verursachten Verlust des Trommelfells. Pseudomembranen im äußeren
Gehörgange beobachteten Köhler23), Saunders24), Stevenson25), Maunoir26),
üaillie27). Bernard28) sah einen Fall von Pseudogehörgang, der hinter dem
natürlichen Gehörgang in der Gegend des Warzenfortsatzes lag.
Die Beobachtungen über pathologische Anatomie des Mittelohrs beschränken
sich im wesentlichen auf zufällige bei den Sektionen erhobene Befunde. Zu den
häufigeren zählt die Ankylose der Gehörknöchelchen. Huschke29) schildert die
Verwachsung des Hammerkopfes mit dem Trommelhöhlendach. Ankylose des
Steigbügels im Vorhofsfenster wird von Bonnafont30) in der Einleitung
zu seinem Werke erwähnt. Zwei ähnliche Fälle bei Taubstummen beobachtete
Huschke31), einen weiteren Hyrtl 32). Erwähnenswert sind auch die Beobachtungen
Ottos33) und Hyrtls34) über die Verschmelzung der Gehörknöchelchen bei der
Synotie der Doppelmißbildungen. Mangel aller oder einzelner Gehörknöchelchen
finden sich öfter verzeichnet; Mangel aller Gehörknöchelchen bei Otto (a. a. 0.),
Fehlen des Stapes bei Deleau35), des Os lenticulare bei Bochdalek3") (a. a. O.)
und Hyrtl. Ueber den Verlust aller Gehörknöchelchen durch Karies berichten
*) Patholog. Anatomie des Ohres im Handbuch d. pathol. Anatomie von Klebs.
420 Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wolf37) und Vlodorp S8), über den des Amboßes allein Blosfeld39). Fehlen
aller Binnenmuskeln des Ohres fand Hesselba eh. Fehlen des M. stapedius
in zwei Fällen und des Tensor tympani in einem Falle Hyrtl (a. a. 0.).
Nicht selten wurde Verengerung oder gänzlicher Verschluß des runden Fensters
beobachtet, so von Vieussens 40), Nuhn41), Scha llgr über 42), Ribes43),
Huschke44), C'ock45). Meniere46). Hierher ist vielleicht auch der von Fleisch-
mann47) beschriebene Fall von Osteosklerose des Schläfebeins bei einem Taub-
stummen zu rechnen.
Die Kenntnis der Karies und Nekrose des Felsenbeins wurde seit
Petit (S. 322) nicht wesentlich gefördert. Schmalz4*) fand bei zwei Präparaten
mit Karies „eine außerordentliche Dichtheit des Warzenfortsatzes ". Hamernjk*)
beobachtete intra vitam Fälle von Fazialisparalyse oder Parese im Verlaufe von Tuber-
kulose, bei denen sich post mortem der Fazialkanal in größerer oder geringerer
Ausdehnung durch Karies zerstört fand.
Die am Warz enf ortsatze beschriebenen Veränderungen sind entweder
kariöser Natur (s. o.) oder es handelt sich um den sklerotischen Warzenfortsatz,
der nach unserer jetzigen Kenntnis häufig als anatomische Varietät vorkommt.
Meckel49) beschreibt einen vom Schläfebein vollständig getrennten Warzenfortsatz,
offenbar entstanden durch Ausbleiben der Verschmelzung mit den anderen Ossifika-
tionszentren des Schläfebeins.
Spärlich sind die Berichte über pathologisch-anatomische Veränderungen des
Tubenknorpels. Otto50) beschreibt einen Fall von totaler Verwachsung der
Pharyngealrnündung der Tube ohne weitere Begründung. Die häufigste Ursache der
Tubenerkrankung will er in der Verstopfung derselben mit Schleim und in der An-
sammlung einer dicklichen, klaren, gallertartigen Masse in der Paukenhöhle und im
Labyrinth gefunden haben51). Lincke52) zitiert einen von Lusardi beschriebenen
Fall, betreffend eine große, die Tubenmündung verschließende Exostose der Nasen-
scheidewand. Ferner wurden bei alten Leuten Verkalkungen53) und Verknöche-
rungen54) des Tubenknorpels gefunden.
Die pathologische Anatomie des Labyrinthes, deren weitere Ausgestaltung
eist in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt, umfaßte hauptsächlich eine Reihe
makroskopischer Befunde, welche meist an den Leichen Taubstummer erhoben
wurden, lieferte doch das Gehörorgan Taubstummer das hauptsächlichste Material
für die pathologisch-anatomische Untersuchung bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts.
In dem von Meniere (s. o.) mitgeteilten Falle von Taubstummheit bestand
neben Verschluß des runden Fensters eine hochgradige Mißbildung der Schnecke, in
der die Lamina spiralis nur l*/a Windungen machte. Er fand ferner in zwei Fällen
das Vestibulum, in dem die Labyrinthflüssigkeit fehlte, auf die Hälfte seiner normalen
Größe reduziert ; in einem anderen Falle den oberen Bogengang obliteriert, bei einem
weiteren den Acusticus atrophisch.
Mürer55) beschreibt das Gehörorgan eines 11jährigen Knaben, der infolge
einer fieberhaften purulenten Otitis im zweiten Lebensjahre das Gehör verlor. Die
Sektion ergab: Die halbzirkelförmigen Kanäle fehlten, nur ihre Mündungen waren
vorhanden. Die Stelle der Bogengänge wurde durch pneumatische Zellen einge-
nommen. Mürer glaubt, daß es sich hier um kongenitale Veränderungen und
durch sie verursachte Taubstummheit handle. Platner60), der diesen Fall ebenfalls
erwähnt, glaubt, daß die pathologischen Veränderungen durch eine vorhergegangene
Labyrintheiterung bedingt gewesen seien. Thurnam56) fand bei der Sektion des
") Zeitschr. d. Gesellsch. d. Aerzte zu Wien. I. Jahrg., 6. Heft, 1841.
Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 421
Gehörorgans eines Taubstummen den horizontalen Bogengang an einer Stelle unter-
brochen und im Vorhofe eine kleine kalkartige Inkrustation. Eine genauere Unter-
suchung des Gehörorgans eines taubstummen Mädchens lieferte Dr. Mansf el d :'7).
Das Trommelfell verlief nahezu horizontal und war mit einer dicken geröteten
Schleimhaut bedeckt. Der Steigbügel war mißbildet, seine Platte mit dem Rande
der Fenestra vestibuli verwachsen. Die Tube war verengt, der Steigbügelmuskel
von sehniger Beschaffenheit, der Tensor tympani war nicht vorhanden. Die beiden
Säckchen mit den häutigen Bogengängen fehlten vollständig. Die Scala tympani
öffnete sich in den Vorhof.
Defekte der Bogengänge werden häufig beschrieben, so von Cock (1. c.)
zwei Fälle von partiellem Defekt zweier Bogengänge. Aehnliche Befunde bei Taub-
stummen liefern S c h a 1 1 g r u b e r 58) und Bochdalek (1. c). In Bochdaleks Falle
fehlten rechts alle drei Bogengänge ; ihre Mündungen waren durch seichte Grübchen
angedeutet. Links waren die Schenkel des oberen und hinteren Bogengangs nicht
zum Crus commune vereinigt, sondern endigten blind als zwei enge Röhrchen.
Cock*) faßt das Ergebnis seiner Untersuchungen an den Gehörorganen der
im Asylum for Deaf and Dumb verstorbenen taubstummen Kinder folgendermaßen
zusammen : 1. Granulationen, welche die Trommelhöhle mehr oder minder vollkommen
ausfüllten, die Gehörknöchelchen einhüllten und in die Eustachische Trompete, die
Cellulae mastoideae und die Fenestra Cochleae hineinwucherten. 2. Mangel der
Fenestra Cochleae. 3. Partieller oder vollkommener Mangel der Spiralkanäle der
Cochlea. 4. Ungewöhnliche Erweiterung des Aquaeductus vestibuli. 5. Mangel der
halbzirkelförmigen Kanäle. 6. Abnorme Festigkeit und Härte des Schläfebeins.
In einem anderen von Bochdaleks**) Fällen zeigte das Labyrinth außer
vollständigem Mangel der beiden Wasserleitungen keine Anomalie. Bochdalek
erwähnt noch besonders die Atrophie des Acusticus bei Taubstummen und will in
den meisten Fällen eine besondere Stärke des N. intermedius beobachtet haben. Auch
Römer***) und besonders Hyrtlf) brachten sehr genaue Sektionsbefunde Taub-
stummer, die sich im wesentlichen mit den angeführten Resultaten decken. Beson-
deres Interesse beanspruchen die Befunde über Labyrinth eiterung.
Biechy und Batissier59) beschreiben eine klinisch beobachtete primäre
akute Labyrinthentzündung, die auch durch einen nicht klar geschilderten Sektions-
befund festgestellt worden sein soll.
Ueber Labyrintheiterung finden sich in der Literatur zwei nicht zu be-
zweifelnde Fälle beschrieben, der eine von Platner00), den ich bereits in meiner
Arbeit „ Labyrinthbefunde bei chronischen Mittelohreiterungen" (A. f. (). Bd. LXY) zitiert
habe, der andere von Willemi er 61), der im Sektionsbericht kurz und eindeutig
sagt: „Meatus auditorius internus pus continet. Item canalis semieircularis et superior
et horizontalis sicuti pars Cochleae inferior pure impleta. Membrana fenestrae ovalis
deleta et membrana tympani perforata cernitur".
Hier wäre auch ein von Grisolle02) beobachteter Fall zu erwähnen. Nach
3 Jahre dauernder Mittelohreiterung trat zugleich mit dem Sistieren der Eiterung,
Kopfschmerz, Gesichtslähmung ohne Beteiligung des Gaumensegels und vollständige
Taubheit des erkrankten Ohres ein. Patient erkrankte später an Variola und starb.
Bei der Sektion fand man einen Tuberkel (Cholesteatom?) im Felsenbein, der bis
*) Frorieps Notizen 1839, Nr. 230. Nr. 10 des XI. Bds.
**) Schmalz, Beiträge zur Gehör- und Sprachheilkunde. Heft II u. III. 184^.
***) Ibid. Heft III, p. 6!>— 72.
f) Ibid. Heft III, p. 73 ff. (s. auch S. 391).
422 Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Eälfte des 19. Jahrhunderts.
an die Dura niater reichte, in den Vorhof eingehrochen war und den Facialis frei-
st hatte.
Einen Fall traumatischer Labyrintheiterung zitiert "Williams*):
Ein junger Mann stieß sich eine Nadel ins Ohr, worauf eine Ohreiterung eintrat.
Am vierten Tage erfolgte unter zerebralen Symptomen der Tod. Bei der Sektion fand
man die Platte und einen Schenkel des Stapes im Vestibulum, und als Todesursache
Meningitis.
Von intrakraniellen Komplikationen ist der Himabszess des öfteren
erwähnt , doch wird er meistens immer noch als die Ursache der Ohreiterung an-
ehen, so von Otto in vier Fällen, während der otitische Ursprung als selten gilt,
so von Otto (1. c.) in einem Falle.
Bricheteau63) fand bei der Sektion einer Frau, die 20 Jahre an einer link-
seitigen Ohreiterung gelitten hatte und unter Versiegen des Flusses an zerebralen Er-
scheinungen letal endete, neben einer diffusen Konvexitätsmeningitis der linken Hemi-
sphäre einen walnußgroßen Schläfelappenabszeß. Das Tegmen tympani, die Gebilde
der Trommelhöhle und des inneren Ohres waren durch Karies vollständig zerstört.
Einen ausführlichen Sektionsbericht über einen Fall von otitischem Kleinhirnabszeß
liefert Willemi er (1. c).
In einem Falle von Holst, bei dem der Tod durch eine diffuse eitrige Menin-
gitis erfolgte, ist die große Zerstörung im Schläfenbein und die Mitbeteiligung des
Acusticus bemerkenswert64). Am Schläfebeine eines an Hirnabszeß und Meningitis
verstorbenen Knaben konnte Will ein i er eine beginnende Sequestration der ganzen
Pyramide konstatieren65). Bichot66) teilt einen Fall von eitriger Otitis mit, in
deren Verlaufe Hirnsymjjtome auftraten, die am 30. Tage der Erkrankung zum
Tode führten. Es dürfte sich aber hier um eine chronische Mittelohreiterung ge-
handelt haben, da Bichot das Vorhandensein von Polypen im Ohre erwähnt. Bei
der Sektion fand sich ein Hirnabszeß, ohne daß der Induktionsweg vom primären
Eiterherde nachgewiesen werden konnte.
Ueber zentral bedingte Hörstörungen und über deren anatomische Grundlagen
war man in dieser Periode noch ganz im Dunklen. Das Bestreben, eine einheitliche
anatomische Ursache der Taubstummheit zu finden, mochte wohl den Streit ver-
ursacht haben, ob das Fehlen bezw. die mangelhafte Ausbildung der von Soemm er-
ring entdeckten, im vierten Hirnventrikel entspringenden Striae acusticae die Ursache
der Taubstummheit sein könnten. Rudolfi67) führt gegen Ackermann63), der
diese Genese der Taubstummheit verficht, einen Fall an, in dem er die Striae auf
der einen Seite viel weniger entwickelt fand als auf der anderen, trotzdem die Person
auf beiden Ohren taub war. Auch will er an den Leichen Normalhörender häufig
die Striae sehr verschieden entwickelt gefunden haben.
Die histologische Untersuchung des Gehörorgans , der später in der
Otologie eine so große Rolle zufiel, fand nur wenig Bearbeiter. Pappenheim
fand bei Ohreiterungen nach Typhus und Pneumonie entzündliche Veränderungen
in der Trommelhöhlenscbleimhaut: „Entzündungskugeln kleinerer Art, viele blasse
Kugeln, viele Nuclei von Eiterkörperchen". Pappenheim war auch der erste, der
Polypen und Balggeschwülste histologisch untersuchte**).
2) Oesterr. med. Wochenschr. 1834, 29. April, Nr. 18. — 2) Specimen malae
conformationis organorum auditus humani rarissimum et memoratu dignissimum.
*) Nuovo Mercurio delle Scienze. June 1829. — Ospedale di Parma. S. Lancet
1828—1829. p. 190. — Zit. bei Will iams: „Treatise on the ear". London 1840. p. 127.
**) Die spezielle Gewebelehre des Gehörorgans. Breslau 1840. p. 145 ff.
Literatur. 423
Jena 1n24. (Der zitierte Fall findet sich bei Lincke, Bd. I, p. 599 ausführlich be-
schrieben.) — 3) Gräfe u. Walthers Journ. d. Chirurgie u. Augenheilkunde. Bd. XIX.
— *) Gräfe u. Walthers Journ. d. Chirurgie u. Augenheilkunde. Bd. IX. —
Neuestes Handbuch der Chirurgie etc.. übers, von Froriep. Weimar 1820. —
6) Angeborener Mangel des Gehörgangs auf beiden Seiten ohne sehr beträchtliche
Verminderung des Gehörs. American Journal 1838. — 7)Meckels Archiv 1828,
p. 180. — 8) Di una sorditä congenita guarita dal professore G. Battista Mazzoni,
e di un nuovo strumento per traforare la membrana del timpano. Memoria di
Pietro Vannoni. Firenze 1830, p. 4. — 9) Das Gehörorgan, p. 614. — 10) Neuest.
Handb. d. Chirurgie etc. Aus d. Engl, übers, u. durchges. v. Froriep. Weimar
1820, Bd. II, p. 156. — n) Ceber die angeborenen Fetthautgeschwülste und andere
Bildungsfehler. Landshut 1814. — 12) Ammons Zeitschr. f. Ophthalmologie, 1837,
Bd. V. — I3) „Aeskulap". Leipzig 1821, Bd. I. — ,4) Anatomisch-physiologische
Beobachtungen und Untersuchungen. Halle 1822. - - 15) Transact. of the med. and
physical. Society of Calcutta, Vol. VII. — 16) Zur Anatomie des Gehörorgans doppel-
leibiger Mißgeburten. Oesterr. med. Wochenschr. 1846, Nr. 21. — 17) Monstri has-
siaci disquisitio medica. Giessae 1664. — ls) De ianis. Dissert. anat. physiol. Berol.
1 ^ J 7 . — 19i Beschreibung der pathologischen Präparate, welche in der königl. ana-
tomischen Anstalt zu Würzburg aufbewahrt werden. Gießen 1824. — 20) Zeitschr.
f. Physiologie, Bd. I. — 21) Ho ms, Nasses u. Henk es Arch. f. med. Erfahrungen.
Jahrg. 1819, Juli u. Aug., p. 17. — 22) Hufeland, Journ. d. prakt. Heilkunde 1828,
St. 1, p. 123, Not. — 23) M eckeis Handb. d. pathol. Anatomie. Leipzig 1812. Bd. I.
— '-'■') The anatomy of the human ear etc. London 1829, p. 49. — 25) Die Ursachen,
Verhütung und Heilung der Taubheit. A. d. Engl. Hamm 1832. — 26) Himlys
Bibliothek f. Ophthalmologie 1816, Bd. I. — 2T) Beiträge zur praktischen Arznei-
wissenschaft und pathologischen Anatomie. A. d. Engl, von Lengfeld. Halber-
stadt 1829. — 28) Magendie, Journal de physiologie experim. 1824, Bd. IV. —
29) Soemmerring, Lehre von den Eingeweiden und Sinnesorganen des menschlichen
Körpers, 1844, p. 908. — 30) Traite theoretique et pratique des maladies de l'oreille,
1860. — ") 1. c p. 909. — 32) Oesterr. Jahrb. XI. p. 423. — 33) Seltene Beobach-
tungen. I. Bd., X. u. XI. — 31) Oesterr. Jahrb. XL — 35) Introduction ä des recherches
pratiques sur les maladies de Toreille, qui occasionnent la surdite etc. Paris 1834,
I. Teil , p. 39. — :ifi) Mücke. Vortrag über die wahrscheinliche Anzahl der Taub-
stummen in Böhmen, nebst der Angabe der Zeit und der Ursache des Eintritts der
Gehörlosigkeit bei 165 Kindern, und der anatomischen Untersuchung der Gehörwerk-
zeuge von vier verstorbenen Taubstummen. Prag 1836. — 37) Graefe u. Walthers
Journ. f. Chirurg, u. Augenheilk. 1826, Bd. VII, H. 2. p. 297. — 38) Van der Hoeven,
Diss. pathol. de morbis aurium auditusque. Lugd. Batav. 1824, p. 50. — S9J Schmidts
Jahrbücher 1840, Bd. VII, p. 30. — 40) Cru veilhier, Essai sur l'anat. pathol. Paris
1816. — 41) Commentat. de vitiis quae surdomutitati subesse solent. Heidelb. 1841.
— 42) Abhandlungen im Fache der Gerichtsarzneikunde. Grätz 1823. — 43) Revue
med. 1823. — 44) 1. c. p. 911. — 4ä) Medic. Chirurgie, transactions. Vol. XIX.
p. 156—157. — 46) Gaz. med. 16. Juli 1842. — 4;) Leichenöffnungen. Erlangen
1815. Zitiert bei Schwartze 1. c. — 43) Pathologische Präparate des Gehörorgans,
angefertigt von Dr. Ambrogio Gherini, und vorhanden in dem Kabinette des
Zivilspitales in Mailand. In den Beiträgen zur Gehör- und Sprachheilkunde von
Schmalz, Heft III. — 49) Anatomisch-physiologische Beobachtungen und Unter-
suchungen. Halle 1822. — 50) Pathologische Anatomie 1824. — 51) Seltene Beob-
achtungen zur Anatomie. Physiologie und Pathologie gehörig. Breslau 1816, Heft I.
Zit. bei Schwartze 1. c. — 5L>) Bd. II, p. 470. — :'3) H. Meyer im Arch. f. Physiol.
424 Diagnostische Hilfsmittel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
1844. — 54) Schytz im Arch. f. Physiol. 1844. H. Meyer 1. c. - ') Frorieps
Notizen 1825. — 56) Frorieps Notizen 183^. — :'7) Monatsschr. f. Med., Augenheil-
kunde u. Chirurgie von Amnion 1839. Vergl. Frorieps Notizen 1840. — 58) i. c.
— 59) Revue des special, etc. med. Chirurg. Juillet. Revue med. p. 587. Heidenreich in
Cannstatts Jahresbericht pro 1846. Zit. bei Schwartze I.e. — 60) De auribus defecti-
vis. Diss. inaug. anatomico-pathologica et physiologica etc. Marburg 1838. — B1) Spe-
eimen anatomico-pathol. de otorrhoea. Trajecti 1835, p. 29. — e2) Presse med. 32.
Vergl. auch Frorieps Notizen 1837. — °3) Schmidts Jahrb. 1839. Bd. VI, p. 283. —
64) „Nervus acusticus infiammatus. et canalis nervorum communis pure impletus
cernitur. Ossis temporum diversae partes carie perforatae sunt. " Frorieps Notizen,
Bd. XI, p. 138. — 65) „Os petrosum necrosi ita affectum, ut libere moveri posset,
parte tantum postica interna, versus partem basilarem adhuc integra." Will emier
1. c. p. 24—26. — 66) Frorieps Notizen 1826, Nr. 295, p. 127 (Nr. 9 d. XIV. Bds.).
— 67) Grundriß der Physiologie. Berlin 1824, Bd. II, Abt. II, p. 140. — 68) Klinische
Annalen. Jena 1805. § 96.
Uebersicht der diagnostischen Hilfsmittel in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.
Der erste Schritt zur Anbahnung der Diagnostik der Ohrerkrankungen war
durch die Erfindung des Ohrenspiegels getan, durch den die direkte Besichtigung
des Trommelfells ermöglicht -wurde. Wie erwähnt, gehen die Versuche, ein Ohr-
spekulum zu konstruieren, auf Guy de Chauliac (S. 153) und Fabricius
Hildanus zurück. Das zangenförmige Spekulum von Hildanus wurde später
von Conrad v. Solingen1), Perret2), Neuburg3), Schmalz4), Weiß5) und
Kramer modifiziert. Das zangenförmige Spekulum des letzteren hatte sich am
längsten behauptet. Komplizierter waren die Spekula von Hoffmann6), Lincke7),
Robbi8) und Spangenberg9).
Neuburg hat das Verdienst, das erste ungespaltene Spekulum angegeben zu
haben, während gewöhnlich Ignaz Grub er10) als der Erfinder desselben be-
zeichnet wird.
Hand in Hand mit der Anwendung des Spekulums gingen die Versuche, einen
zweckmäßigen Beleuchtungsapparat zu ersinnen. Man hatte bereits die Wichtig-
keit des Trommelfellbefundes für die Diagnose der Ohrerkrankungen erkannt und war
daher bestrebt, sich durch eine günstige Beleuchtung von den Launen des Wetters
unabhängig zu machen. Der erste, der sich eines primitiven künstlichen Beleuch-
tungsapparates bediente, war Fabricius ab Aquapendente (S. 115). Seinem
Versuche, die tieferen Partien des Gehörganges zu beleuchten, folgten Cleland"),
Bozzini12), Deleau13), Buchanan und Kramer, Grauvogl14), Warden15),
Jordan1"), Schmalz17), Polansky18) mit mehr oder minder komplizierten
Apparaten.
Hoffmann19) in Burgsteinfurt gebührt das Verdienst, die Beleuchtung
mittels eines zentral durchbohrten Hohlspiegels in die Praxis
eingeführt zu haben.
Trotz des Fortschrittes in der Technik der Untersuchung des äußeren Gehör-
gangs und des Trommelfells wurde bis gegen Ende dieser Periode der Bedeutung
der Trommelfellbefunde für die Diagnostik nicht die gebührende Beachtung zu-
gewendet. Dennoch zeigt sich auch hier schon ein Fortschritt, indem Lincke in
Diagnostische Hilfsmittel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 425
zwei Fällen von Totaldefekt des Trommelfells in der Lage war, das Stapesköpfchen
in der granulierenden Schleimhaut zu erkennen.
Die früher hei ungenügender Beleuchtung zu diagnostischen Zwecken an-
gewendete Sondierung des Trommelfells und der Trommelhöhle wurde von den
späteren Ohrenärzten als eine unzuverlässige und gefährliche Untersuchungsmethode
verworfen. Erst die Einführung des Reflektors und Spekulums machte die Sonde
zu einem Instrument, das unter Leitung des Auges vollkommen ungefährlich, die
Diagnose in vielen Fällen wesentlich erleichtert.
Die Anwendung des Valsalvaschen Versuchs zur Feststellung der Weg-
samkeit der Ohrtrompete ergah nur bei Perforation des Trommelfells ein positives
Resultat. Bei intaktem Trommelfelle war sie wegen des Mangels einer Kontrolle durch
den Arzt resultatlos. Laennec. der Erfinder des Stethoskops, warder erste, der die
Auskultation des Ohrs als diagnostisches Mittel empfahl20). Curtis21) brachte ein
Otoskop (Cephaloskop) in Vorschlag, welches die ganze Ohrmuschel umfaßte; mit
diesem will er ein Rauschen der Luft in der Trommelhöhle deutlich vernommen
haben, wenn der Patient durch das entsprechende Nasenloch bei Verschluß des ent-
gegengesetzten kräftig atmete. Die Erfindung des jetzt gebräuchlichen Otoskops
von Toynbee fällt knapp vor die Wende dieser Periode. Deleaus' Versuch, auf
Grund der bei der Auskultation wahrgenommenen Geräusche ein diagnostisches System
aufzubauen, ist als mißlungen anzusehen.
Der Katheterismus der Ohrtrompete wurde nach mancher Richtung hin
modifiziert und verbessert. Die silbernen Katheter wurden in Bezug auf Form
und Krümmung des Schnabels von Itard, Kramer, Gairal, Lincke, Kuh
(Doppelkatheter), Möller u. a. vielfach verändert. Der elastische Katheter
Deleaus23) wurde später vollkommen aufgegeben. Gairal schlug als Hilfsmittel
zur Erleichterung des Katheterismus das Palatometer vor. das gleichfalls keinen
Eingang in die Praxis fand. Die zum Fixieren des Katheters in der Nase von Itard,
Kramer, Deleau, Möller, Bonnafont u. a. ersonnenen Klammem und
Stirnbinden, kamen nach dieser Periode außer Gebrauch.
Für die Diagnose der Tubenerkrankungen war ferner die Erfindung der
Sondierung und Bougierung der Ohrtrompete von Bedeutung. Letztere
scheint zuerst von Saissy und Deleau (1. c.) in die Praxis eingeführt worden zu
sein. Sie benützten vorzugsweise Darmsaiten, Lincke Sonden aus Silber, Fabrizi
Fischbeinsonden.
Zur Diagnose der Trommelfellperforation bediente man sich der
Auskultation beim Valsalvaschen Versuch und des Durchpressens von Tabakrauch
aus dem Ohre. Itard schlug vor, bei seitlicher Kopfstellung den äußeren Gehörgang
mit Wasser zu füllen und das Aufsteigen von Luftblasen beim Katheterismus zu beob-
achten. Die von Fabrizi (1. c.) propagierte künstliche Perforation des Trommelfells
zu diagnostischen Zwecken wurde von den zeitgenössischen Spezialisten kaum beachtet.
Zur Feststellung des Grades der Schwerhörigkeit bediente man sich
verschiedener Hörmesser. Die Methode Pfingstens24), der die Buchstaben des
Alphabets je nach ihrer Lautstärke in drei Klassen einteilte und nach dem Ver-
stehen dieser Klassen verschiedene Grade von Schwerhörigkeit unterschied, wurde
bald durch die wiederholt modifizierten Akuometer verdrängt, die von Wolke -' ')•
Itard (I.e.), Schmalz26), Blanchet27) u. a. empfohlen wurden. Am häufigsten
wurde der einfachste Gehörmesser, die Taschenuhr, verwendet; daneben überzeugte
man sich auch durch das Vorsprechen von Sätzen von der Gehörschärfe des Patienten
(Lincke). M. Frank28) wußte bereits, daß die Hörfähigkeit für die menschliche
Stimme in keinem bestimmten Verhältnisse zur Hörfähigkeit der Taschenuhr steht.
426 Prothesen.
i Wird von Lincke abgebildet Bd. II, Tab. I, Fig. 2. — '-') L'art du cou-
telier expert en instruments de Chirurgie. Premiere section. Paris 1772. P. II,
]). 340. — 3) Mem. et observ. sur la Perforation de la membrane du tympan.
Bruxelles 1827, p. 35. — 4) v. Walthersund Amnions Journ. 1844, Bd. 3, p. 48.
— 5) Abgebildet bei Lincke Bd. II, T. I, Fig. 7a u. b. — e) Caspers Wochen-
schrift 1841, Nr. 1. — 7) 1. c. p. 174. — s) Abgeb. b. Lincke Bd. II, T. I, Fig. 6.
— 9) Graefes u. Walthers Journ. Bd. 29, H. 2. — 10) Haas, Examen auris
aegrotantis. Vienn. 1841. — ") Philos. Trans. Vol. XXI. P. II. London 1744, p. 848.
— 12) Der Lichtleiter etc. Weimar 1807. — 1:i) Description d'un instrument pour retablir
l'ouie dans plusieurs cas de surdite. Paris 1823. — 14) Griesingers med. Sechs-
wochenschrift 1848, H. 2 u. 3. — 15) Lond. and Edinb. monthly Journ. 1844. —
ie) Illuminative instrument. Med. Times and Gaz. 1845. — 17) Beschreibg. eines sehr
einfach. Lichtleiters zur Untersuchg. d. Ohrs. In Oppenheims Zeitschr. 1849. —
1S) Grund r. z. einer Lehre v. d. Ohrenkrankh. Wien 1842. — ,9) Caspers Wochen-
schrift 1841, Nr. 1. — 20) De l'auscultation mediate ou Traite du diagnostic des
maladies des poumons et du coeur, fonde principalement sur ce nouveau moyen
d'exploration. Paris 1819. 2 Bde. — 21) The cephaloscope, and its use in the dis-
crirnination of the normal and abnorm sounds in the organ of hearing. London
1842. — 22) Lond. med. Gaz. Febr. 1849. — 23) Essai sur les maladies de l'oreille
interne. 1827 — 24) Gehörmesser zur Untersuchung der Gehörfähigkeit galvanisierter
Taubstummer, in besonderer Rücksicht auf die Erlernung der artikulierten Ton-
sprache und auf deren Elemente gegründet. Kiel 1804. — 25) Nachricht von den
zu Jever durch die Galvani- Voltais che Gehörgebekunst beglückten Taub-
stummen. Oldenburg 1802. — 26) Walthers und Amnions Journal 1844. Bd. 3,
H. 1. und Erfahrungen etc. — 27) La surdi-mutite. Traite phil. et med. Paris
1850. 28) Ueber den gegenwärtigen Standpunkt der objektiven otiatrischen Dia-
gnostik. München 1849.
Das Bestreben, bei hochgradigeren Hörstörungen zur Verbesserung des Gehörs
Prothesen zu konstruieren, reicht bis in die älteste Zeit zurück. Ausführliches
hierüber findet sich bei Vidus Vidius1), Beck2) und Itard3).
In Spanien waren schon lange unter der Bezeichnung „Sarbatana" me-
tallene Schallfänger in Gebrauch. Wie Nicius Erythraeus mitteilt, benützte der
schwerhörige Dichter Lallius Nursinus ein silbernes Hörrohr, das ihm von Eustachio,
den er besungen hatte, geschenkt worden sein dürfte').
Die mannigfaltige oft abenteuerliche Gestalt, die den Hörrohren gegeben
wurde, war nicht eben dazu angetan, ihre Wirkung zu erhöhen. Im Gegenteil haben
sich die einfachsten Hörrohre als die brauchbarsten erwiesen. Die Hörrohre von
Nuck (S. 225), Riolan (S. 279), Le Cat (S. 279) wurden bereits früher erwähnt.
Als das praktischste Hörrohr dieser Zeit kann das von Curtis5) angegebene be-
zeichnet werden, welches nach dem Prinzip des auf hoher See benützten Sprach-
rohrs konstruiert ist. Ebenso einfach ist das von Bernstein1) angegebene bieg-
-ame Hörrohr und der elastische Schlauch Dunkers7), den Krame r als
zweckmäßig empfiehlt.
Die komplizierten Hörmaschinen von Du QuetR), Nollet9). Amuel10),
Schmalz11), Itard12) u. a. sind bald als unbrauchbar erkannt worden. Das von
Jorissen13) empfohlene, von Itard modifizierte pyramidenförmige Sprachrohr sollte
durch Vermittlung der Kopf knochen das Gehör verbessern. Als Ersatz bei Total-
verlust der Ohrmuschel wurden künstliche Ohren aus Pappe, gepreßtem Leder
(s. Pare S. 150), Silber oder aus Muscheln empfohlen.
Stand des Taubstummenunterrichts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 427
') Opera, tom. 2. Francof. ad M. 1626. — 2) Die Krankheiten des Gehörorgans.
Leipzig 1827. Abschn. IV. — 3) Itard a. a. 0. — 4) Wenceslai Trnka de
Krzowitz, Historia cophoseos et Baryecoiae. Vindob. 1778, p. 207 f. — 5) Abhand-
lungen über den gesunden und kranken Zustand des Ohrs. Leipzig 1819, p. 43,
84. mit Tafel — 6) Bernsteins Kupfertafeln mit Erklärungen und Zusätzen zur
systematischen Darstellung des chirurgischen Verbandes. Jena 1802. — 7j Kramer
p. 868. — s) Machines et Inventions approuvees par l'Academie d. sc. publ. par
Gallon. Paris 1735, Nr. 110—116, 2. Teil, S. 119—129. — 9) Kunst physikalische
Versuche anzustellen. Leipzig 1771. 3 Bde., S. 46. Zitiert nach Beck, Die Krank-
heiten des Gehörorgans Heidelberg und Leipzig 1827, p. 70. — 10) Frank, Prak-
tische Anleitung zur Erkenntnis und Behandlung der Ohrkrankheiten. Erlangen 1845,
p. 198. - ") Frank 1. c. p. 194. — 12) Itard a. a. O. — 13) Dissertat. Halae 1757.
Stand des Taubstummenunterrichts bis zum Ende des
18. Jahrhunderts.
Bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts liegen nur vereinzelte Versuche
vor, Taubstummen den Verkehr mit Normalhörenden zu ermöglichen.
Die Taubstummen wurden als lästige Parias betrachtet, für die man
eigene Rechte und Gesetze zu schaffen sich berechtigt glaubte. Diese
inhumane Auffassung wird einigermaßen erklärlich, wenn man bedenkt,
daß den Unglücklichen beim Mangel einer entsprechenden Lehrmethode
jede Möglichkeit benommen wurde, auch nur den geringsten Grad von
Bildung zu erlangen.
Erst der genialen Idee des spanischen Benediktinermönches Pedro
Po nee de Leon war es vorbehalten, die Taubstummen der menschlichen
Gesellschaft als nützliche Mitglieder zuzuführen.
Pedro Po nee de Leon, geboren 1520 zu Valladolid, lebte als Benediktiner-
mönch im Konvent San Salvador de Oha in der Provinz Burgos. In einer Aufzeich-
nung dieses Klosters findet sich das Jahr 1584 als sein Todesjahr angegeben.
Beseelt von edler Menschenliebe erfand er eine Methode, die Taubstummen
durch Unterricht aus ihrem tiefen Elend zu erheben. Er genoß bald einen solchen
Ruf. daß er unter seine Schüler auch Taubstumme von hoher Geburt zählte, so
Gaspar de Gurrea, den Sohn des Gouverneurs von Aragonien, und Pedro Tovar
Enriquez, den Bruder des Connetable von Kastilien.
Von den zahlreichen Zeugnissen, die uns über Po nee von seinen Zeitgenossen
vorliegen, wollen wir nur das seines Mitbruders im Stifte zu Ofia, des Juan de
Castahiza anführen, der in seiner Vida de San Benito, Salamanca 158S, über Ponce
sagt: Pedro Ponce, monje profeso de Sahagün, por industria y sagaeidad espe-
ciales, enseha ä hablar ä los mudos; por verdadera filosofia demuestra la posibilidad
y razones que hay para ello , y asi lo dejarä bien probado en im libro que tiene
escrito; pero lo que mas admira es que, no pudiendo oir lnunanamente, los hace oir,
hablar y aprender la lengua latina. con otras, escribir. pintar y otras muchas cosas,
como es buen testigo D. Gaspar de Gurrea y otros varios diseipulos*).
*) cit. Dr. D. Eloy Bejarano: La Espana y los sordo-mudos. Kevista de Espe-
cialidades, del. Dr. Forns. VIII. Nr. 150.
428 Stand des Taubstummenunterrichts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Die Methode Ponces scheint, wie aus der Feberlieferung seines Freundes
Vallesius ersichtlich ist. der später von Hei nicke inaugurierten sehr nahe
gekommen zu sein. Die betreffende Stelle findet sich in dem Werke des Vallesius,
„De eis. quae scripta sunt physice in libris sacris, sive de sacra philosophia." 3. editio
Lugduni 1652 und lautet: . . .
Petrus Pontius, Monachus Sancti Benedicti. amicus meus, qui (res mira-
bilis) natos surdos docebat loqui, non alia arte, quam docens primum scribere, res
ipsos digito indicando , quae characteribus illis significarentur , deinde ad motus
linguae qui characteribus responderent, provocando. Cap. III. p. 78.
Seine Unterrichtsmethode bestand somit darin , daß er die Zöglinge zuerst
-fhreiben und lesen lehrte, die einzelnen Wörter an die Tafel schrieb und ihnen
die Gegenstände zeigte, die durch die Wörter bezeichnet werden. Dann machte er
ihnen die Mundstellung vor. die das Aussprechen der einzelnen Buchstaben bedingt,
und lehrte sie so Gesprochenes vom Munde ablesen und selbst artikulierend sprechen.
Hier ist also schon der Kern der deutschen Methode enthalten, aber auch die
französische verdankt ihm die Erfindung ihres wichtigsten Hilfsmittels, des Hand-
alphabets.
Ponce hatte das Glück, in Spanien zahlreiche Schüler zu finden, welche das
edle Werk ihres Meisters fortsetzten. Der hervorragendste unter ihnen ist Juan
Pablo Bonnet, der unter dem Titel: „Reduccion de las letras, y arte para enseiias
a hablar a los mudos." Madrid 1620, das erste Werk über Taubstummenunterricht
geschrieben hat. Bonnet, ein gebürtiger Aragonier, war Sekretär des Connetable
Velasco. In dessen Hause kam er mit Ponce zusammen, der die taubstummen
Geschwister des Connetable unterrichtete. Die zwischen Bonnet und Ponce als-
bald sich entwickelnde Freundschaft läßt Lincke vermuten, daß das Werk Bonnets
nichts anderes sei, als das von ihm herausgegebene Manuskript Ponces.
Gleichzeitig mit Bonnet versuchte sich Emanuel Ramire z de Carrion
im Taubstummenunterrichte. Er war Lehrer des taubstummen Marquis de Priego
und scheint allerdings, wie sein Biograph D'Ab laincourt berichtet, einigen
Krfolg gehabt zu haben. Wir sind jedoch geneigt, diesen Erfolg mehr dem uns
nicht überlieferten Kern seiner Methode zuzuschreiben, als dem Wust von Medika-
menten und Prozeduren, durch die er seine Methode ausschmückte, vielleicht aus
Furcht vor Nachahmung oder vielleicht, wie Schmalz meint, aus Furcht vor der
Inquisition, um nicht für einen Hexenmeister gehalten zu werden.
Während nun der Taubstummenunterricht in Spanien bis zu Beginn des
19. Jahrhunderts im wesentlichen auf der Stufe der Entwicklung stehen blieb, zu der
ihn Ponce und Bonnet erhoben hatten, sehen wir ihn in Holland wesentliche
Fortschritte machen, die er vornehmlich dem in Wahrmund bei Leyden lebenden
schweizerischen Arzte Amman zu danken hatte.
Johann Conrad Am m an, 1669 in Schaffhausen geboren, studierte in Basel
Medizin und ging später nach Holland, wo er sich mit dem Taubstummenunterrichte
beschäftigte. Seine Methode bezeichnet gegen die Ponces insoferne einen Fort-
schritt, als er dem Handalphabet eine viel geringere Rolle einräumte, dagegen
größeren Wert auf die Erlernung der Lautsprache legte. Um aber die Zöglinge im
Ablesen und Nachahmen der den einzelnen Lauten entsprechenden Mundstellungen
noch zu unterstützen , ließ er sie, während er ihnen die Mundstellung zeigte und
die Laute aussprach , ihre Finger auf deinen Kehlkopf legen. Auf diese Weise ge-
lang es ihm , den Zöglingen die feinen Unterschiede in den Vibrationen des Kehl-
kopfes durch den Tastsinn begreiflich zu machen.
Auch in England tauchte im 17. Jahrhundert unabhängig von den übrigen
Pereira. 429
Ländern der Gedanke des Taubstummenunterrichts auf. J ohn Wallis (1616 — 1703),
Kaplan Königs Karl IL, ein hervorragender Gelehrter, Mathematiker. Sprachforscher
und Verfasser einer englischen Grammatik in lateinischer Sprache, widmete sich ein-
gehend dem Taubstummenunterrichte und teilt im Anhang zu dieser Grammatik, be-
titelt „Tractatus Grammatico-physicus de Loquela" seine Methode mit:;:).
Nach dem Tode Wallis geriet in England der Taubstummenunterricht in
"V ergessenheit. Erst ein Jahrhundert später finden wir wieder einige englische Ver-
treter der Disziplin. Von diesen sind zu nennen: William Holder, George
Sibscota, George Dalgarno, Henry Baker**), dann Thomas Braidwood,
ein Taubstummenlehrer, der anfänglich in Edinburg, später in Hackney in der Nähe
von London eine Taubstummenschule leitete, ferner sein Neffe Dr. Watson, der
Leiter des Deaf and Dumb Asylum in Bermondsey, der auch ein Werk unter dem
Titel „Instruction of the Deaf and Dumb", London 1809. schrieb.
Am spätesten entwickelte sich der Taubstummenunterricht in den beiden Län-
dern . in denen er seine höchste Entwicklung erreichen sollte , in Frankreich und
Deutschland.
In Frankreich tauchen erst zu Anfang des 18. Jahrhundert die ersten Ver-
suche des Taubstummenunterrichtes auf. Abbe de l'Epee nennt M. Ernaud, Per-
reire und Madame de la Croix duFauxbourg Saint Antoine als die ersten,
die sich mit dem Taubstummenunterrichte befaßten, allerdings „sans avoir concerte
ensemble le plan de leurs Operations" ***). Ueber Madame de la Croix wissen wir
nichts Näheres.
Ernaud beschäftigte sich um das Jahr 1756 in Bordeaux mit dem Taub-
stummenunterricht und scheint sich vorwiegend der Am man sehen Methode bedient
zu haben. Um dieselbe Zeit lehrte auch P. Duchamp in Orleans Taubstumme
schreiben und sprechen.
Eine eingehendere Würdigung verdient Johannes Rodriguez Pereira, ein
portugiesischer Jude, der sich 1745 in la Rochelle mit dem Taubstummenunterrichte
befaßte. 1749 und 1751 stellte er wiederholt Zöglinge, die ausgezeichnete Fortschritte
auch im Sprechen gemacht hatten, der Akademie zu Paris vor, die ihm auch ihre
Anerkennung zollte. Diese Erfolge müssen jedoch mehr seinem Talente und seiner
unüberwindlichen Ausdauer, als seiner Methode zugeschrieben werden. Das beste
Zeugnis stellt ihm sein Gegner Abbe de l'Epee in zwei 1749 und 1751 der könig-
lichen Akademie der Wissenschaften zu Paris erstatteten Gutachten f) aus. welche
in der schmeichelhaftesten und anerkennendsten Weise von Pereiras Erfolgen
sprechen. Er sagt in dem Schlußworte des zweiten Gutachtens: „Cela suffit con-
flrmer le jugement que nous fimes de M. Perreire. dans notre rapport du mois
de Juillet 1749, et pour faire sentir que sa maniere d'instruire les Muets ne peut
etre que tres-ingenieuse; que son usage interesse le bien public; et qu'on ne scauroit
trop encourager celui qui s'en fert avec tant de succesjf).
*) Lawrence Turnbull: On deaf-mutism and the method of educating
the deaf and dumb. (Transact. of the med. Soc. of the State of Pennsylvania.) Sep-
Abdr. ohne Jahreszahl.
j Vgl. Schmalz: Ueber die Taubstummen und ihre Bildung etc. Dresden
und Leipzig 1838.
; ::::) Abbe de l'Epee: Institution des sourds et muets. par la voie des signes
methodiques. Paris 1776 bei Nyon.
7) 1. c. pag. 15 ff.
tf) 1. c. pag. 21.
430 A-kbt- de l'Epee.
Das größte Verdienst um den Taubstummenunterricht erwarb sich jedoch der
Abbe Charles Michel de l'Epee. 1712 zu Versailles als der Sohn eines Archi-
tekten geboren, wandte er sich dem geistlichen Stande zu. Mitleid und religiöse
Gründe bewogen ihn, 1752 den Unterricht zweier taubstummer Schwestern zu über-
nehmen, die ihren Lehrer, den Pater Vanin, durch den Tod verloren hatten').
Sein sehnlichster Wunsch, eine öffentliche Taubstummenanstalt zu gründen, wurde
allerdings von der Regierung nicht erfüllt, aber mit Aufopferung seines ganzen Ver-
mögens brachte er es doch so weit, eine große Anzahl taubstummer Kinder zu unter-
richten und viele tüchtige Schüler heranzubilden, die sein edles Werk fortsetzen
konnten.
In seinen Hauptwerken: „La veritable maniere d'instruire les sourds et
muets, conprirnee par une longue experience", Paris 1784 und „Institution des
sourds et muets par la voie des signes metbodiques", Paris, 1776 legt er seine
Methode dar und verficht sie gegen Pereira. Von seiner Bescheidenheit zeugt
jene Stelle, in der er ausdrücklich das Verdienst ablehnt, eine neue Methode gleich
Wallis, Bonnet oder Amman gefunden zu haben: ne m'ayant point mis a
portee de connaitre aucun de ce illustres Auteurs, je ne pensai pas meine a de-
sirer, et encore moins ä entreprendre de faire parier mes deux Kleves. La veritable
maniere etc. . . . pag. 8. Sein Verdienst besteht darin, den ausgedehnten Gebrauch
der Daktylologie eingeschränkt und das Hauptgewicht des Unterrichts auf die Aus-
bildung der natürlichen Zeichensprache gelegt zu haben. Die Daktylologie verwendet
er hauptsächlich im Beginne des Unterrichts zur Erlernung der Schrift. Sobald die
Taubstummen über den elementarsten Unterricht hinaus sind, wird die Daktylologie
nicht mehr verwendet, dagegen in ausgedehntestem Maße die Zeichensprache, um die
Taubstummen auf diese Weise nicht nur mit den Worten, sondern auch mit deren
Inhalt bekannt zu machen, ein Ziel, das jeder Unterricht anstrebt und das Hein icke
später in so vollkommener Weise erreichen sollte.
Der würdige Nachfolger des Abbe de l'Epee war der Abbe Roche Am-
broise Sieard, geb. 1742 zu Fousseret bei Toulouse. Seine Lebenszeit fällt in
die große französische Revolution und die Jahre 1792 — 1799 waren deshalb für ihn
wie für so viele andere nur Schreckensjahre. Mehrere Male aus seinem Institut
vertrieben, nahm er mit einer Zähigkeit und einem Mute, wie sie nur der edle
Eifer für eine gute Sache verleihen kann, mit eigener Lebensgefahr seine Lehr-
tätigkeit immer wieder auf. Erst an seinem Lebensabend wurde ihm die verdiente
Anerkennung zu teil. Hochbetagt und mit Ehren überhäuft starb er im Jahre 1822.
Der Taubstummenunterricht in Deutschland beschränkt sich bis zum Auf-
treten Heinickes auf die Versuche einzelner Männer, die meist dem geistlichen
Stande angehörten, taubstumme Verwandte oder Bekannte zu unterrichten. Von
diesen Männern wäre zu nennen: Joachim Pascha, der Hofprediger des Kur-
fürsten Joachim IL von Brandenburg, von dem erzählt wird, daß er seine taub-
stumme Tochter durch Kupferstiche unterrichtete; ferner Jakob Wild, der sich
einer Sprachmaschine bediente und Georg Raphel, der seine eigenen drei taub-
stummen Kinder sprechen lehrte.
Erst mit Heinicke beginnt in Deutschland die Periode des zielbewußten
systematischen Taubstummenunterrichts.
Samuel Heinicke wurde am 10. April 1729 als der Sohn eines Bauers im
Dorfe Nautschitz an der Saale geboren. Als ihn sein Vater zu einer Ehe zwingen
,l Croyant donc que ces deux enfans vivroient et nourroient dans l'ignorance
de leur religion . . . 1. c. pag. 8.
Tafel XXVII
ABBE DE L'EPEE
Heinicke. 431
•wollte, die seiner Neigung nicht entsprach, verließ er seine Eltern und wandte sich
nach Dresden, wo er, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, Unterricht erteilen
mußte. Der Zufall wollte es, daß unter seinen Schülern auch ein taubstummer
Knabe war, den er nach der Methode Ammans mit sehr gutem Erfolg unterrichtete.
Später ging er nach Hamburg, wo er 1768 — 1778 in dem Klosterdorf Eppendorf
eine Lehrstelle bekleidete. Da unter seinen Zöglingen abermals taubstumme Kinder
waren, trat er wieder der Frage des Taubstummenunterrichts näher, die ihn von jetzt
ab bis zu seinem Lebensende beschäftigen sollte. Er gründete 1778 in Leipzig die
erste Taubstummenanstalt und leitete diese bis zu seinem Tode im Jahre 1790.
Ohne die Verdienste Heinickes schmälern zu wollen, ist doch nicht zu ver-
kennen, daß der Kern seiner Methode nicht nur bei Amman, sondern sogar schon
in der Methode Ponces zu finden ist.
Auch Schmalz*) und Meissner**) berichten, daß Heinicke den Unter-
richt anfangs nur nach der Methode Ammans leitete und daß der Erfolg ein
ausgezeichneter war. Umso weniger können wir die heftigen persönlichen Ver-
dächtigungen und Angriffe Heinickes gegen seine Vorgänger begreifen. So sagt
er in seiner Schrift „Ueber die Denkart der Taubstummen", Leipzig 1780, p. 43
u. f. unter anderem***): „Aelteren und Vorgesetzte solcher unglücklichen Kinder,
denen es nun nicht gleichgültig ist , sie , wie Instrumente , worauf man Lehr-
jungen lernen läßt, unwissenden Männern preiszugegeben, die, entweder aus Un-
wissenheit oder Habsucht, sich mit einem solchen Unterrichte befassen, müssen sich
daher wohl vorsehen, wenn sie der Prellerey entgehen und ihre Kinder nicht ins
Verderben stürzen wollen" . . .
Heinickes Verdienst besteht darin, besonderen Wert darauf gelegt zu
haben, daß der Unterricht mit der Tonsprache begonnen werde. Die Tonsprache
selbst hat nicht er in die Unterrichtstechnik eingeführt ; vielmehr finden wir sie in
ihren Anfängen bereits bei Po nee und schon ziemlich ausgebildet bei Amman.
Heinicke ist es allerdings gelungen, den Taubstummen in ausgedehntem Maße ab-
strakte Begriffe beizubringen, allein schon alle seine Vorgänger hatten sich dieses
Ziel gesteckt und waren ihm, wenn sie es auch noch nicht erreichten, doch zum Teil
schon nahe gekommen.
Die von Heinicke angewandten, schon vor ihm von dem livländischen Pro-
fessor Jakob Wild versuchten Sprachmaschinen, haben sich beim Taubstummen-
unterricht nicht bewährt. Heinicke gibt übrigens in seinen Werken keine genaue
Angabe über seine Methode, er ergeht sich vielmehr in allgemeine Betrachtungen,
die keine genügenden Anhaltspunkte für den Unterricht bieten. Ohne ihm selbst-
süchtige Motive unterschieben zu wollen, muß doch zugestanden werden, daß der
Leser in seinen Werken nicht das findet, was er sucht, und man wird wohl auch
die Selbstkritik berechtigt finden, die er im Schlußwort der „Denkart der Taub-
stummen" übt, wenn er sagt: „Meine Schreibart ist daher kaum erträglich".
Unter den Schülern Heinickes wäre vor allem Eschke, der Leiter des
Taubstummeninstituts in Berlin und Petschke, der Direktor der Taubstummen-
anstalt in Leipzig zu erwähnen.
*) Schmalz: Kurze Geschichte und Statistik der Taubstummenanstalten
und des Taubstummenunterrichts. Dresden 1830, pag. 127.
i Meissner: Taubstummheit und Taubstummenbildung. Leipzig und
Heidelberg 1856, pag. 226.
***) „Ich rechne unter diese mir bekannten schädlichen Lehrarten die von
Wallis, Amman, Raphel, Perreire, de i'Epee, Deschamps und alle
anderen von diesem Zuschnitt."
Pathologie u. Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrh.
Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die im Beginne des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Werke über
Ohrenheilkunde stehen großenteils noch auf der früheren Stufe, da
weder die pathologische Anatomie noch die Untersuchungsmethodik eine
genügende Grundlage für die Diagnostik der Ohrerkrankungren bot.
Immerhin wurden durch die Spezialisierung des Faches nicht zu unter-
schätzende Iiesultate erzielt und durch Teilnahme einer größeren Zahl
von Mitarbeitern ein rascherer Fortschritt angebahnt.
Den sinnfälligsten Ausdruck erhielt der regere Eifer für die Er-
weiterung des Faches in der Gründung von Ambulatorien oder Heil-
anstalten für Ohrenkranke. Hierzu ging von England die erste An-
regung aus, wo John Cunningham Saunders (1773 — 1810) 1804 den
ersten Plan für eine derartige, wissenschaftlichen und praktischen Zwecken
dienende Anstalt entwarf.
Dank dem Wohltätigkeitssinne des englischen Volkes konnte bereits
im März 1805 das durch private Beiträge gestiftete Institut unter dem
Namen London Dispensary for curing diseases of the Eye and Ear er-
öffnet werden. Leider waren die Erfolge aus äußerlichen Gründen nicht
entsprechend, so daß späterhin die Anstalt bloß auf die Aufnahme von
Augenkranken beschränkt wurde. Im Jahre 1816 jedoch erhielt ein
Schüler Saunders, John Harrison Curtis, das Privilegium, eine
Anstalt für Ohrenkranke zu gründen, die in ihrem Bestände besser ge-
sichert war. Ebenso gewährten andernorts Dispensarien für Augenkrank-
heiten der Otiatrie Gastfreundschaft, wie in Hüll und seit 1820 in New
York. In Frankreich waren es die Taubstummeninstitute, von wo die
wissenschaftliche Otiatrie ihren Ausgang nahm. Dagegen blieb namentlich
Deutschland mit der Gründung öffentlicher Institute für Ohrenkranke bis
zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, ein Umstand, welcher der wissen-
schaftlichen Entwicklung sehr hinderlich war. Das Verdienst, den wissen-
schaftlichen Aufschwung der Otiatrie in dieser Periode gefördert zu haben,
gebührt in erster Linie den Franzosen, während Deutsche erst später an dem
Wettkampf mit Erfolg teilnahmen. Die otologische Literatur Englands,
die zunächst besprochen werden soll, hat bis zum Auftreten Wildes und
Toynbees nur wenig zum Fortschritte unseres Spezialfaches beigetragen.
England.
Im Jahre 1806 erschien ein Werkchen \) John Cunningham
Saunders', welches trotz seiner großen Mängel manche Anregungen für
die weitere Ausbildung der praktischen Otiatrie enthält. Wenn auch der
Tafel XXVIII
JOHN CUNNINGHAM SAUNDERS
Saunders. 43;',
Umkreis seiner Beobachtungen noch ein beschränkter ist und die Lücken-
haftigkeit in jedem Abschnitte hervortritt, so zeigt das Buch doch schon
eine modernere Richtung.
Die Diagnostik beruht noch ganz auf der mangelhaften Okularinspektion
des Trommelfells im Sonnenlichte, auf dem Valsal vaschen Versuch und auf der
subjektiven Symptomatologie. Die Therapie, soweit sie nicht intern war, beschränkte
sich auf Ausspritzungen des Gehörgangs, Anwendung von ätzenden Mitteln wie Ar-
gentuni nitricum, Zinkvitriol etc. und die mit Vorliebe verwendete Paracentese. Die
Pathologie umfaßt die Krankheiten des äußeren und mittleren Ohres; alle anderen
Ohraffektionen werden kurzweg als „nervöse" bezeichnet. Von Einzelheiten, die durch
eine beigegebene kleine Kasuistik illustriert sind, heben wir folgendes hervor. Ent-
zündungen des äußeren Gehörgangs erfordern antiphlogistisches Regime, eventuell bei
starken Eiterungen Inzision zwischen Warzenfortsatz und Ohrmuschel (der spätere
Wildesche Schnitt). Ulzeröse Prozesse im äußeren Gehörgang werden als „Herpetic
ulcerous eruption" bezeichnet. Den Gehörgang verschließende Membranen bedingen
Schwerhörigkeit verschiedenen Grades. Der Beseitigung der Polypen soll stets eine
Aetzung an der Basis nachfolgen.
Unter den Affektionen der Trommelhöhle wird der eitrige Ausfluß („the
puriform discharge from the tympanum") besonders nach Scarlatina eingehender
besprochen. Er unterscheidet sich von dem durch eine Entzündung des äußeren Ge-
hörgangs verursachten dadurch, daß nach Sistierung der Eiterung die Hörstörung
nicht schwindet, weil das Trommelfell zum großen Teile zerstört und manchmal
auch die Gehörknöchelchen exfoliiert werden. Zur Differentialdiagnose wird der
Valsalva sehe Versuch herangezogen, hei welchem das hörbare Ausströmen der Luft
durch den äußeren Gehörgang eine Perforation des Trommelfells erkennen läßt2).
Die Behandlung müsse antiphlogistisch sein. Hingegen bekämpft er die
Anwendung der damals gebräuchlichen Einträufelungen scharfer und spirituöser Mittel
ins <>hr („an error that unquestionably tends to produce the worst catastrophe").
Vermute man bei akuten Entzündungen Eiter in der Trommelhöhle, so empfehle
sich Paracentese des Trommelfells3). Saunders unterscheidet drei Stadien der
eitrigen Entzündung der Trommelhöhle: 1. einfach eitriger Ausfluß; 2. eitriger Aus-
fluß und „Fungus" oder „Polyp" ; 3. eitriger Ausfluß und Karies der Trommelhöhle.
Die ersten beiden sind heilbar, das letztere nicht. Als nicht seltene Ursache der
Taubheit erklärt er die Obstruktion der Tuba Eustachii, in welchem Falle die Luft
der Trommelhöhle absorbiert und durch Schleim ersetzt werde. Am häufigsten wird
dieser Verschluß durch syphilitische Geschwüre oder durch maligne Neubildungen
in der Nase bedingt. Beim Vals al vaschen Versuch habe der Patient nicht das
charakteristische Gefühl („which arises from the inflation of the Tympanum"). Die
beste Behandlungsweise bestehe in der Durchbohrung des Trommelfells im Verein
mit antiluetischer Kur. Die Labyrinth er kr ankungen faßt Saunders als
„nervous deafness" zusammen4).
Ungeachtet ihrer Lückenhaftigkeit verdient die Schrift als eine nicht zu unter-
schätzende Leistung bezeichnet zu werden, da sie gerade die weniger bekannten
Formen der Entzündung, den Verlauf und die Stadien des Prozesses genauer ver-
folgt und ausführlicher als bisher behandelt.
*) The anatomy of the human ear, illustrated by a series of engravings of
the natural size, with a treatise on the diseases of that organ, the causes of deafness
their proper treatment. London 1806, 1817, 1829. — 2) In general. when the patient
blows strongly with the nose and mouth closed. aire will be expelled at the Meatus
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 28
434 Curtis.
Externus. Wherever this circumstance is observed, it is clear that the discharge
proceeds from, or is connected with an injury or destruction of the Membrana Tym-
pani. — 3) If I could be assured by any symptom that suppuration has taken place,
I should not hesitate to make a small Perforation of the Membrana Tympani. —
4) In this sense it is a generic term , and signifies every disease the seat of which
is in the nerve or parts containing the nerve.
Geringeren Wert besitzt die Abhandlung von John Harrison Curtis,
der trotz langjähriger Erfahrung auch nicht das Geringste von eigener,
originärer Auffassungsgabe durchblicken läßt. Stellenweise sind Absätze
aus dem Saund ersehen Buche wörtlich abgeschrieben. Die Kritik der
Zeitgenossen über seine Arbeiten war nichts weniger als schmeichelhaft*).
Immerhin war seine Schrift dadurch von Nutzen, daß sie weitere ärzt-
liche Kreise mit der Notwendigkeit otiatrischer Therapie bekannt machte,
zu^ einer Zeit, in welcher man sich auf Grund humoralpathologischer,
auf das Heilwirken der Natur gestützter Ansichten scheute, jene Ohr-
erkrankungen zu bekämpfen, die mit eitrigem Ausfluß verbunden waren.
Es bedurfte auch des Appells an das in Vorurteilen befangene Laien-
publikum, um den Aerzten ein Wirkungsgebiet zu schaffen, und in
diesem Sinne erfüllte die populär geschriebene Abhandlung Curtis' a)
ihren Zweck.
Die Einteilung und Behandlung der einzelnen Ohrkrankheiten ist dieselbe wie
bei Saun der s. Auch er empfiehlt bei Ohrenfluß jeder Art adstringierende Mittel,
bei Verstopfung der Tuba die Paracentese.
Gleich geringen Wert für die Otologie bekunden alle anderen zahlreichen
Publikationen Curtis'. Es genügt hier zu erwähnen, daß er sich in seinem zweiten
Werke2) zu der kühnen Behauptung versteigt, man müsse bei zweifelhaften
Fällen von Schwerhörigkeit sein Hauptaugenmerk darauf richten, zu erkennen, ob
die Cotunnische Feuchtigkeit ganz oder zum Teile vertrocknet sei, oder ob sich ver-
härtetes Ohrenschmalz im Gehörgange vorfinde.
Die Krankheiten des inneren Ohres zerfallen nach Curtis in konstitutionelle
(angeborene, zerebrale, sympathische etc.) und lokale, welch letztere er, trotzdem
er ihre nicht seltene Abhängigkeit von Strukturveränderungen erkennt, als nervöse
bezeichnet. Ihr charakteristisches Symptom ist die besondere Art der subjektiven
Geräusche , welche mit dem Tosen der Meereswogen oder mit dem Aufbrausen des
siedenden Wassers, dem Rauschen der durch den Wind bewegten Blätter u. s. w.
Aehnlichkeit haben. Zur Illustration des damaligen Standes der Ohrtherapie wollen
wir Curtis über seine Behandlung der „Nerventaubheit" sprechen lassen. Es handelte
sich um einen 22jährigen Mann, der einige Jahre an hartnäckiger Nerventaubheit
litt, und der durch Aderlaß, Haarseil, Vesicans hinter dem Ohre und innerliche
Quecksilberkur nach 6 Wochen von seiner Taubheit geheilt wurde: „As he was a
robust man, of a plethoric habit , and was very desirous of obtaining bis hearing,
I took twelve ounces of blood from the arm, put a seton (Haarseil) in the nape of
his neck, and applied a blister behind each ear, which were kept open for a fort-
night, he took five grains of the submuriate of mercury every night, and an ounce
;) Vergl Frorieps Notizen, Jahrg. 1822.
Buchanan. 435
and a half of the sulphate of magnesia twice a week; at the same time adopting a
stiüct antiphlogistic regimen."
Die Untersuchungsmethode bestand in der oberflächlichen Okularinspektion.
Die Diagnose, ob das Trommelfell intakt oder perforiert sei, wurde meist durch die
stumpfe Sonde gemacht, wozu freilich ein sehr ausgebildeter „tactus eruditus"
gehörte.
]) Treatise on the physiology and diseases of the ear; containing a compara-
tive view of its structure and function and of its various diseases arranged according
to the anatomy of the organ , or as they affect the external , the intermediate and
the internal ear. London 1817, 1818, 1836. — 2) Cases illustrative of the treatment
of the diseases of the ear, both local and constitutional. London 1818. Ins Deutsche
übersetzt von Robbi. Leipzig 1819, 1823.
Außer den bereits zitierten Schriften Curtis' erwähnen wir noch: An essay on
the deaf and dumb , showing the necessity of treatment in early infancy, with
observations on congenital deafness. London, 2. Edit., 1834. Uebersetzt von Wiese.
Leipzig 1830. — Observations on the Preservation of hearing. Der gegenwärtige
Stand der Ohrenheilkunde. (The present state of aural surgery.) Aus dem Eng-
lischen. Leipzig 1840.
Thomas Buchanan. Der bedeutende Aufschwung, den die Ohren-
heilkunde in Frankreich durch Itard und Saissy nahm, konnte auch
die Otiatrie in England und Deutschland nicht unbeeinflußt lassen. Wir
sahen, daß die englischen Aerzte die Durchbohrung des Trommelfells mit
großem Eifer betrieben, dagegen den Katheterismus der Ohrtrompete
gänzlich außer acht ließen. Der erste, der in Anlehnung an die fran-
zösische Schule hierin einen Wandel schuf, war der Arzt am Dispensary
für Augen- und Ohrenkrankheiten in Hüll, Thomas Buchanan
(1782 — 1853). Seine Leistungen reichten aber an die der Franzosen
nicht heran.
Der sein Werk*) einleitende anatomisch-physiologische Teil ist als ganz wertlos
zu bezeichnen. So legt er der Formation des Ohrknorpels und der qualitativen und
quantitativen Beschaffenheit des Cerumens eine ihr nicht zukommende Bedeutung
für das Hören bei. Im Gegensatz zur Ansicht Itards u. a. , die den Verlust des
Ohrknorpels für die Gehörfunktion völlig gleichgültig hielten, glaubt er aus der
Gestalt, Anheftungsstelle und Tiefe der Ohrmuschel wertvolle Anhaltspunkte für die
Hörperzeption zu finden. Die beste Bedingung für ein scharfes Gehör werde gegeben,
wenn die Ohrmuschel weit und tief geformt sei, das Ohrläppchen in der Diagonale
vorwärts gerichtet stehe und der Anheftungswinkel des Ohrknorpels 25 — 45 ° betrage.
Zum Beweise seiner Ansicht bringt Buchanan zwei Krankengeschichten, die
erweisen sollten , daß man eine Verbesserung des Gehörs erwirken könne , wenn
der Ohrknorpel in eine Richtung von 45° zum Schläfebein gebracht wird. In dem
einen der Fälle durchschnitt sich der Patient zufällig die Ohrmuschel. Nach erfolgter
Heilung bildete der Ohrknorpel mit dem Schädel einen Winkel von 45 °. Nun zeigte
sich die überraschende Erscheinung, daß der Patient auf diesem Ohre besser hörte
als auf dem unverletzten, das nur in einem Winkel von ca. 10° abstand. Ebenso-
*) An engraved representation of the anatomy of the human ear etc. Hüll 1823.
436 Wright.
wenig beweisend wie diese Krankengeschichte sind seine mit außerordentlicher
Sorgfalt angestellten Messungen (an luO lebenden Individuen) des Durchmessers des
Ohrknorpels, der Ohrmuschel, des Gehörgangs und des Insertionswinkels, da er
nur kurz angibt, ob die Personen scharf- oder i] ig waren, ohne ein Mali für
die Hörweite anzuführen oder über seine Untersuchungsergebnisse des inneren Ohres
zu berichten. Noch übertriebener sind seine Bemerkungen über den Einfluß des
Ohrenschmalzes auf die Gehörfunktion. Er schätzt die Zahl der Drüsen auf tausend
bis zweitausend und nennt die Auskleidung des Gehörgangs mit Ohrenschmalz
„ceruminous tubulär circle". Sie soll den Zweck haben, die Schallschwingungen
durch die Raumverengerung zusammenzudrängen, die Rauhheit des Gehörgangs zu
mildern etc. Bei Ermangelung dieses Ohrenschmalzes käme es zu unregelmäßiger
Schallbrechung und Schallzerstreuung. Es entspricht dalier auch ganz dieser Denk-
ise, daß Buchanan besonders darauf bedacht war. durch eine Ohrensalbe die
Trockenheit des Gehörgangs zu beseitigen und hiedurch zur Hörverbesserung
wesentlich beizutragen. Eür eines der besten Mittel zur Behandlung der Ohrenflüsse
erklärt er das Acid. pyrolignosuni.
Abgesehen von den irrigen physiologischen Ansichten enthalten die Arbeiten *)
Buchanans doch einige praktische Anleitungen zur Behandlung der Ohrenkrank-
heiten. Bei der objektiven Untersuchung des Trommelfells schlug er zuerst vor, den
äußeren Gehörgang durch Abziehung der Ohrmuschel nach oben und hinten gerade
zu strecken, um den größeren Teil der Membran übersehen zu können. Er bediente
sich bei künstlicher Beleuchtung eines von ihm konstruierten „Inspector auris". Zur
Entfernung von verhärtetem Ohrenschmalz und von Fremdkörpern verwendete er mit
Vorliebe eine Spritze mit dünner langer Spitze, die genügend Raum für das ab-
fließende ^\'asser ließ. Daß er bei Tuben- und Trommelhöhlenkatarrhen den Kathete-
rismus tubae anwendete, wurde schon früher besprochen.
Neben den bekanntesten Otologen dieser Periode war noch eine
Reihe von Spezialärzten von geringerem Rufe schriftstellerisch tätig.
Von ihnen seien J. Swan**) und J. Kennedv***) erwähnt.
William Wright. Das mit kritischer Auswahl geschriebene, von
großer Literaturkenntnis zeugende Buch des Verfassers „On the varieties
of deafness, and diseases of the ear with proposed methods of relieving
them", London 1829, sollte seiner Form und seinem Inhalte nach dem
Praktiker als Leitfaden dienen.
Wright tritt energisch gegen die Behandlung der Ohrerkrankungen durch
Apotheker und Wundärzte auf, warnt vor dem Mißbrauch der Paracentese, bei der
er allerdings die Gefahr der Carotisverletzung übertreibt, und erklärt sich als Gegner
reizender Instillationen. Die Anwendung von Salben im äußeren Gehörgang solle
nur auf geringe Mengen beschränkt werden. Er nimmt entschieden Stellung gegen
die um diese Zeit angewendete energische Quecksilberbehandlung, von der er in den
meisten Fällen üble Folgen gesehen haben will. Der Autor zieht so ziemlich alles
*) Illustrations of acoustic surgery. London 1825. Uebersetzt ins Deutsche in
Linckes Sammlung, Bd.il. — Physiological illustrations of the organ of hearing etc.
London 1828. Vergl. in Linckes Sammlung, Bd. 1.
**) Observation on some points relatings to Ihe physiology and pathology of
the ear. Medico-chir. transact. for the year 1818, T. IX.
**) A treatise on the Eye and on some of the diseases of the ear. London 1813.
Pilcher. 437
zu seiner Zeit bekannte , den Praktiker interessierende in Betracht und widmet
mehrere Kapitel hygienischen Ratschlägen. Erwähnenswert ist auch die reiche
Kasuistik, die er allerdings zum Teil seinen anderen Werken entlehnt: „An essay
on the ear, its anatomical structure and incidental complaints." London 1818.
„An Address to Persons afflicted with nervous deafness." J »bservations on the
improper Öse of Mercury in Nervous deafness." „Piain Advice to the deaf." „The
Aurist. or JMedical Guide for the deaf." London 1826.
„A new and familiär Treatise on the Structure of the ear and on deafness"
von Webster, London 1836, ist ein durchaus populär geschriebenes, jedoch wissen-
schaftlich ganz unbedeutendes Buch, das manchmal sogar der Popularität zuliebe
der Wissenschaft Gewalt antut, so wenn Webster den Mechanismus des Ohres mit
dem einer Dampfmaschine vergleicht (p. 70). Das letzte Kapitel ist dem von ihm
erfundenen Otaphone gewidmet.
Der Praktiker A. Turnbull hat in seinem Werke „A treatise on painful and
nervous diseases", London 1837, auch den Ohrerkrankungen ein allerdings nur sechs
Seiten umfassendes Kapitel eingeräumt. Seine Kenntnisse in der Ohrenheilkunde
und ihrer Literatur sind so gering, daß man sich nicht wundern darf, wenn er mit
seiner in dem genannten Werke förmlich als Panacee gepriesenen Veratria neur-
algische Ohrenschmerzen, subjektive Geräusche, Ohrenschmerzen der Kinder, kurz alle
Ohrerkrankungen, deren er allerdings nur wenige kennt, heilen will.
Seine abenteuerliche Phantasie geht so weit, daß er behauptet, die durch Ver-
größerung der Tonsillen entstandene Schwerhörigkeit durch äußere Applikation einer
Veratriasalbe geheilt zu haben. Von allen zeitgenössischen Publikationen scheint
kaum mehr als die Coopersche Perforation des Trommelfells zu ihm gedrungen zu
sein, die ihn offenbar veranlaßte, einen plumpen, zwecklosen, von ihm „Aurexsektor"
genannten Trepan zu ersinnen und in dem genannten Werke abzubilden.
Was den in der Literatur des öfteren zitierten plötzlichen Todesfall beim
Katheterismus tubae durch Turnbull anlangt, so entnehmen wir Frorieps Notizen
1839, Nr. 223 folgende Daten. Turnbull ließ einem Kranken von seinem Assistenten
eine Lufteintreibung in die Trommelhöhle durch den Katheter mittels einer Luft-
pumpe machen. Der Assistent führte den Katheter abwechselnd in die rechte und
linke Nasenhälfte ein, während der Kranke selbst die Pumpe handhabte. Dabei
trat unter dem Bilde eines apoplektischen Insultes der Tod plötzlich ein. Bei der
gerichtlichen Untersuchung neigten die sehr zurückhaltenden Gutachten der Sach-
verständigen allerdings der Annahme eines apoplektischen Insultes als Todesursache
zu, allein der Sektionsbericht läßt uns wohl kaum einen Zweifel über die wahr«'
Todesursache. Es fanden sich Blutungen und Luftbläschen unter der Dura, Luft-
embolie in den Duravenen und eine Hämorrhagie in der Trommelhöhle.
Das von der Medical Society of London preisgekrönte Werk: „A treatise on
the Structure, economy and diseases of the ear", London 1838, George Pilchers
wird man höher schätzen, wenn man sich erinnert, daß es nur 1 Jahr später er-
schienen ist. als das eben besprochene Buch Turnbulls. Pilchers Buch enthält
wohl nichts Neues. Aber der mit guten Abbildungen übersichtlicher Ohrpräparate
versehene kurze Abriß der vergleichenden und deskriptiven Anatomie des Gehörorgan-,
der die ersten zwei Kapitel des Buches füllt, macht durchaus den Eindruck eigener
Studien. So leugnet er auf Grund selbständiger Präparation die von Everard Homo
(S. 362) beschriebenen Muskelfasern im Trommelfell. Dem Abschnitte über Trommel-
fellperforationen ist eine Tafel mit mehreren roh ausgeführten . augenscheinlich er-
dachten Trommelfellbildern beigegeben, die Pilcher der Abhandlung AstleyCoopers
entlehnt hat.
438 Yearsl.y.
Das Kapitel über Mißbildungen enthält nur eine Zusammenstellung schon be-
kannten Materials, mit einer für einen Ausländer jedenfalls anerkennenswerten Be-
rücksichtigung deutscher Autoren.
John Stevenson, Augen- und Ohrenarzt in London, schrieb außer zahl-
reichen Artikeln in englischen Fachzeitschriften ein anspruchloses, populär gehaltenes
Büchlein betitelt „Deafness, its causes prevention and eure", London 1839, das außer
einigen kasuistischen Mitteilungen des Autors nichts Neues enthält.
Joseph Williams von der Universität zu Edinburgh preisgekröntes Buch:
„Treatise on the ear", London 1840. ist keine Originalarbeit, enthält aber einige
interessante kasuistische Mitteilungen.
Ein Büchlein, das höchstens den Wert eines Leitfadens für den Studierenden
beanspruchen kann, ist William Duftons »The Nature and treatment of deafness
and diseases of the ear". London 1844.
Mehr Beachtung verdient das Werk James Yearsleys » Deafness practically
illustrated, being an exposition of the nature, causes and treatment of the diseases
of the ear". London 1839. In dieser sowie in mehreren kleineren Schriften*) zeigt
sich Yearsley im Gegensatze zu seinen englischen Kollegen in der zeitgenössischen
deutschen und französischen Literatur bewandert.
Die von Yearsley verfaßten, unter verschiedenem Titel herausgegebenen
Halbjahrsberichte der »Institution for curing diseases of the ear" enthalten außer
statistischen Daten manche instruktive kasuistische Mitteilungen und in jedem Hefte
eine größere Abhandlung aus der Pathologie und Therapie der Ohrenkrankheiten.
Erwähnenswert ist die von ihm zuerst aufgestellte Indikation der künstlichen Perfo-
ration des Trommelfells in Fällen, bei denen nach narbigem Verschluß einer durch
Kiterung entstandenen Perforationsöffnung eine Hörverschlimmerung eintritt. Durch
die Wiederherstellung der Oeffnung im Trommelfell wird den Schallwellen ein Weg
zum runden Fenster gebahnt, dessen Bedeutung für die Schallperzeption in der
»Schnecke schon durch die Arbeiten Scarpas und Johannes Müllers besonders
hervorgehoben wurde.
Sein „Auriskop" genannter Beleuchtungsapparat, sowie sein kompendiöser
Apparat zur Einleitung medikamentöser Dämpfe per tubam in die Trommelhöhle
sind bereits vergessen. Hingegen knüpft sich der Name Yearsleys an seine Erfindung
des künstlichen Trommelfells, das er in Form eines Wattekügelchens angab**). Anlaß
hierzu bot ein Patient mit Perforation des Trommelfells, der durch Einschieben eines
erweichten Papierstückchens in die Tiefe des Gehörgangs sein Gehör zeitweilig ver-
bessern konnte. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß gleichzeitig und un-
abhängig von ihm Erhard in Berlin in seiner Dissertation die Einführung des
Wattekügelchens bis zum perforierten Trommelfell als hörverbesserndes Mittel
empfiehlt
Die Förderung, die die Ohrenheilkunde den englischen Forschern
in dieser Periode zu danken hat, ist nur unbedeutend gegenüber
dem anerkannten Fortschritte der deutschen und französischen Otiatrie
dieser Periode.
*) Practical Observation on the catheterism of the Eustachian passages etc.
London 1839.
i The Lancet 1848.
**) De auditu quodam dif'ficili nondum observato. Berlin 1849.
Itard. 439
Der tiefe Stand der Otiatrie in England wird am besten gekenn-
zeichnet durch die Worte Yearsleys:
„It must further be observed, that in no department of medical
science are we so much behind our Continental neighbours , as in the
treatment of aural disease. The explanation of this fact may be found
in the statement just made, that, in this country, the subject has hitherto
been treated only by non-professional persons ; whereas, on the continent,
we find such men as Kramer, Itard, Deleau, Saissy, and others.
devoting their best energies to its improvement. And with what success,
is evidenced in their works. Most of the British practitioners, indeed,
in this branch, are still blundering on, amidst the same unsuccessful
results, as have for ages past attended the practice of aural surgery.
The remedial measures are still limited to syringing, blisters, irritating
ointments, purgatives, acoustic oils, stimulating ear-drops, acrid injections,
emetics, gargles etc. over and over again employed, and that, in all
cases, without any discrimination or judgment. Wherever the disease
of the ear may be, whether external or internal to the membrane of
the drum , the same senseless and generally inefficient means are pres-
cribed"*).
Frankreich.
Einen ungleich größeren Umfang erreichte die praktische Ohren-
heilkunde in Frankreich, wo die Diagnostik und Therapie der Ohren-
krankheiten auf rationellerer Grundlage entwickelt wurde , als bei den
englischen Vertretern des Faches. In erster Reihe sind Itard und
Saissy zu nennen, die im Beginne des Jahrhunderts den ersten Anstoß
zu einer exakteren Forschungsmethode gaben.
Jean Marie Gaspard Itard, 1775 zu Oraison in der Provence
geboren, ergriff' nach Absolvierung seiner Studien die kaufmännische
Laufbahn und wurde nur durch einen eigentümlichen Zufall gezwungen,
sich der Medizin zuzuwenden. Als er nämlich in der Absicht, sich der
Anwerbung zum Militärdienst zu entziehen, vorgab, Mediziner zu sein,
wurde er trotz seiner gänzlichen Unkenntnis auf medizinischem Gebiete
als Unterarzt an das Militärspital in Saliers gewiesen. Rasch fand er
sich in dem neuen Beruf zurecht und wurde in kurzer Aufeinander-
folge „Chirurgien interne" am Hospital d'instruction zu Paris, dann
„Chirurgien aide-major" des Val-de-Gräce und endlich Arzt des Pariser
Taubstummeninstitutes. Er starb am 5. Juli 1838 in Paris.
Seine Schrift „Traite des maladies de Toreille et de l'audition"
(Paris 1821) enthält in origineller Darstellung die Resultate seiner
*) Deaf'ness successfully treated, through the passages leading from the throat
to the ear. Report of the medical proceedings of the „Institution for curing disease
of the eara. London 1841.
440 Itard.
zwanzigjährigen Tätigkeit (am königlichen Pariser Taubsturnmeninstitut)
und bildet durch die heigegebene, sorgfältig gewählte instruktive Kasuistik
eine Fundgrube ausgezeichneter, mit kritischem Blicke klargestellter Be-
obachtungen. Was diesem Buche einen besonderen Wert verleiht, ist
die seltene Aufrichtigkeit, mit der es sogar die Mängel und Schatten-
seiten der angewandten therapeutischen Methoden hervorkehrt. Itard s
Einfluß ist es in erster Linie zu danken, daß auch in Deutschland und
England endlich mit dem alten Schlendrian gebrochen wurde. Wenn
man den tiefen Stand der Ohrenheilkunde vor ihm bedenkt, so ist es
erklärlich, daß auch Itard sich von vielen Irrtümern seiner Vorgänger
nicht ganz frei machen konnte.
Das Werk zerfällt in zwei Teile, von denen der erste die Abschnitte über
Anatomie und Physiologie und über Pathologie umfaßt, während der zweite Teil
ausschließlich den Öhrenkrankheiten gewidmet ist. Der anatomisch-physiologische
Teil enthält in gedrängter Kürze nur bereits Bekanntes. Der pathologische Teil
bringt 172 Krankengeschichten, zum großen Teile selbst beobachteter Fälle.
Befremdend wirkt in Itards Monographie die doppelte Betrachtungsweise der
Ohrenkrankheiten, die er einmal nach der anatomischen Lokalisation beschreibt,
dann wieder unter dem funktionellen Begriff „ Krankheiten des Gehörs" noch-
mals subsumiert, eine Darstellung, die auf den ersten Blick etwas verwirrend wirkt.
Das System, in das Itard die Krankheiten des Gehörorgans zu bringen
versucht, steht nach keiner Richtung mit unseren heutigen Anschauungen in Ein-
klang. Bei ihm wie bei seinen Zeitgenossen macht sich bei der Darstellung der
Ohrerkrankungen der Mangel pathologisch-anatomischer Kenntnisse in auffälliger
Weise geltend.
Itard behandelt im ersten Buche, das von anatomischer Lokalisation geleitet
ist : a) Krankheiten , die dem inneren und äußeren Ohr gemeinsam sind , Ohrenent-
zündung (Otitis). Ohrenfluß (Otorrhoea), Ohrenschmerz (Otalgia). Fremdkörper (Würmer,
Insekten) ; b) Krankheiten des äußeren Ohres (Imperforation. Verengerung des Gehör-
gangs, Polypen, Verstopfung durch Ohrenschmalz, Fremdkörper, krankhafte Erweiterung
des Gehörgangs); c) Krankheiten des inneren Ohres (Ruptur des Trommelfells, Ver-
dickung, Erschlaffung und Anspannung des Trommelfells, Obstruktion der Trommel-
höhle, Entzündung. Verschließung der Tuba, Atrophie des Acusticus, Mangel an
Cotunnischer Feuchtigkeit). Im zweiten Buche finden sich unter dem Gesamt-
begriff Krankheiten des Gehörs folgende Abschnitte : 1. Erhöhung des Gehörs; 2. Ver-
dorbenheit des Gehörs (Ohrtönen und andere akustische Anomalien) ; 3. Verminderung
oder Vernichtung des Gehörs (Dysecoia, Cophosis), die letzte Gruppe zerfällt in
achtzehn Unterabteilungen. Die Taubheit könne nämlich bedingt sein durch schlei-
migen, eiterförmigen Ausfluß, Ulzeration und Karies, Gehörgangsexkreszenzen, Kon-
kretionen im Gehörgange, Verschließung, Erweiterung des Gehörgangs, Verdickung,
Perforation des Trommelfells, Kontinuitätstrennung der Gehörknöchelchen, Ver-
schließung der Tuba, Verstopfung, Blutkongestion des inneren Ohres, Kompression.
Paralyse des Gehörnerven*); endlich kennt der Verfasser Taubheit durch Plethora,
Metastase, Diathese oder Bilduncrsanomalien.
*) Die bereits von Sylvius und Hoff mann beobachtete Atrophie des Hör-
nerven bei Taubstummen konstatierte auch Itard; doch sah er sie nicht als die
Ursache, sondern als die Folge der Taubheit an.
ltard. 441
Itartl subsumiert unter den Begriff „0 titisu die Entzündungen des äußeren
und inneren (mittleren) Ohres. Er teilt die Entzündungen ein in die katarrhalische
äußere , eiterhafte äußere , katarrhalische innere und eiterhafte innere Otitis. Die
chronischen Entzündungen erscheinen unter dem Sammelbegriff Otorrhoea, die wieder
in schleimige und eitrige, lokal bedingte oder sympathische (durch Karies der um-
gebenden Knochen, Parotitiden, Zerebralotorrhoen) zerfiel. Zu tadeln ist, daß ltard
für die Diagnostik der Otitiden lediglich auf die Intensität der subjektiven Symptome
und auf die Art und den Ausflußort des Eiters (Gehörgang oder Rachen) verwies,
dagegen die Okularinspektion sehr vernachlässigte. Zu tadeln ist ferner die Trennung
der Otitis von ihren Folgezuständen, indem er die Verengerung des Gehörgangs, die
Polypen etc. als selbständige Erkrankungen abhandelt. Dagegen ließ er andere will-
kürlich konstruierte, pathologische Folgezustände wie die Erschlaffung und An-
spannung des Trommelfells, die Trennung und Verwachsung der Gehörknöchelchen,
die hypothetische Lähmung und Konvulsion der inneren Muskeln des Ohres, gänzlich
fallen. Befremdend wirkt seine Angabe über den Mangel oder die Verminderung
der Cotunnischen Flüssigkeit.
Das Kapitel über Erkrankungen des Labyrinths bietet, mangels einer
pathologischanatomischen Grundlage, wenig Interesse. Immerhin widmet er der
durch Paralyse des Hörnerven hervorgerufenen Taubheit ein umfangreiches
Kapitel. In einem besonderen Abschnitt behandelt er die Taubheit infolge Kom-
pression des Hörnervenstammes durch Hirntumoren. Als diagnostisch wichtige
Symptome dieser zerebralen Hörstörung führt ltard. an: Kopfschmerz. Schwindel,
Gedächtnisschwäche und peripher wahrnehmbare Störungen anderer Hirnnerven.
ltard beschreibt auch einen Fall von zweifelloser Labyrintheiterung (Beobachtung 22),
Jen er aber irrtümlich als Otorrhoea cerebralis deutet.
Bezüglich der Therapie stand ltard zum Teil noch unter dem Einflüsse
seiner Vorgänger, indem noch Aderlässe, Blutegel, Haarseile, Brech- und Abführ-
mittel, Tonika. Quecksilberpräparate bei ihm eine große Rolle spielen. Ein beson-
deres Verdienst erwarb er sich aber durch die Vereinfachung des Katheterismus
tubae, durch die rationellere Anwendung von Injektionen per Katheter und durch
sein energisches Auftreten gegen die planlose Durchbohrung des Warzenfortsatzes.
Hier geht ltard zu weit, wenn er diese Operation auch bei Abszeß und Karies des
Warzenfortsatzes verwirft und den spontanen Durchbruch abzuwarten empfiehlt.
Ungleich größeren Wert mißt ltard der Trommelfellperforation bei,
die er zur Entleerung von eitrigem Sekrete aus der Trommelhöhle anwendet. Um
das Sekret gründlich zu entfernen empfiehlt er Injektionen von auflösenden und
reinigenden Flüssigkeiten durch die Perforation in die Trommelhöhle. Diese sind be-
sonders dann indiziert, wenn nach der Paracentese keine Hörverbesserung eintritt.
unrationell erscheint uns der Vorschlag Itards, die Injektionen in den Gehörgang
10 — 12mal täglich zu wiederholen und bei andauerndem Schmerz, Schwindel, Sausen
durch luftdichtes Einfügen des Spritzenansatzes in den Gehörgang die Flüssigkeit,
bis zum Abfließen durch den Schlund, durch das Mittelohr zu pressen. Er bemerkt
aber ausdrücklich, daß durch diese Methode (die wir jetzt nur bei chronischen
Mittelohreiterungen anwenden) zuweilen starker Schwindel, Kopfschmerz und Ohren-
sausen hervorgerufen wird und daß er in den meisten Fällen der Injektion per tubam
vermittels des Katheters den Vorzug gebe. Das Instrumentarium Itards besteht aus
einer Injektionsspritze , einem Katheter aus Silber, einer Bougie von elastischem
Harz und einem mit einer Pinzette verbundenen metallenen Stirnband zur Fixation
des Katheters.
Zur Injektion in die Tube wendete ltard nur selten laues Wasser an, sondern
142 Itard.
Meerwasser , Lösungen von salzsaurer Soda , Eisenoxyd etc. oder Abkochungen ad-
stringierender Pflanzen, Dekokt von Tabaksblättern, ätherische Tinkturen von Arniku etc.
Statt der Flüssigkeiten brachte er auch gasförmige Vaporisationen und Furni-
gationen wie Rauch von Tabak, von geröstetem Kaffee, von getrockneter Raute oder
endlich Aetherdämpfe in Anwendung, letztere sollten bei „nervöser" Taubheit von
besonderem Nutzen sein.
Itard bediente sieh hierzu einer Phiole, deren Hals in eine kupferne, mit
einem Hahn versehene, genau in die Kathetermündung passende Röhre endigte. In
diese Phiole goß er Essigäther, stellte sie, durch den Hahn wohlverschlossen, eine
Minute lang in heißes Wasser, nahm sie dann heraus und öffnete, nach dem Einfügen
in den Katheter, rasch den Hahn. Diese Prozedur wurde mehrmals hintereinander
wiederholt.
Hervorzuheben ist, daß Itard den Lufteintreibungen in die Trommelhöhle
durch den Katheter, denen später eine so große Rolle in der Behandlung der Mittel-
oh raffektionen zufiel und die er durch 8 Jahre in 238 Fällen anwendete, jeden
therapeutischen Wert abspricht *).
In seiner Eigenschaft als langjähriger Arzt der „Institution des sourds et
muets" in Paris widmete sich Itard auch eingehend dem Studium der Taub-
stummheit. In dem betreffenden Abschnitte seines Werkes spricht er sich dahin
aus, daß die die Taubstummheit bedingenden anatomischen Veränderungen im
Gehörorgane, sofern die Taubstummheit nicht angeboren ist, dieselben sein können
wie die bei der erworbenen Taubheit, und daß die Stummheit nur dann eintritt,
wenn Taubheit im frühen Kindesalter entsteht. Als pathologische Veränderungen
führt er an: Anfüllung der Trommelhöhle mit kreidigen Massen, Neubildungen, de-
struktive Prozesse im Gehörorgan, schleimige Degeneration des Hörnerven etc.
Er teilt die Taubstummen in Gruppen ein. Die erste hört noch die Sprache,
die zweite die Stimme, die dritte noch die Töne, die vierte nur mehr Lärm, die
fünfte endlich ist gegen Töne und Geräusche vollkommen taub. Interessant sind
seine Beobachtungen über den Geistes- und Gemütszustand der Taubstummen. In
zahlreichen Krankengeschichten teilt er die mannigfaltigen Heilungsversuche mit,
die von ihm und anderen Aerzten bei Taubstummen versucht wurden. Unter diesen
Versuchen ist besonders die Durchbohrung des Trommelfells zu nennen, die er in
13 Fällen ausführte, ohne sich auch nur eines einzigen Erfolges rühmen zu können.
Gelegentlich eines Besuches bei Abbe Sicard im Jahre 1802, der sich mit dem
Unterrichte der Taubstummen befaßte, will Itard bemerkt haben, daß die taub-
stummen Kinder umso leisere Töne zu vernehmen im stände waren, je länger sie
mit Instrumenten geprüft wurden. Dies war ihm „ein Lichtstrahl, der ihm auf dem
Wege, einen schon bei der Geburt gelähmten Sinn wieder zu beleben, leuchten sollte".
Dies brachte Itard auf den Gedanken, das Gehör bei Taubstummen durch
Hör Übungen zu verbessern. Es spricht für seine rationelle Denkungsart , daß er,
die schweren pathologischen Veränderungen im Gehörorgane berücksichtigend, die
total tauben Zöglinge von den Hörübungen ausschloß. Seine Methode machte
im Laufe seiner Lehrtätigkeit viele Modifikationen durch. Anfangs suchte er das
Gehör durch den Ton einer großen Turmglocke zu üben, die er von Tag zu Tag
schwächer anschlug. Er kam jedoch bald auf die Idee, statt der Schallstärke die
Entfernung der Schallquelle zu variieren.
Er stellte seine Zöglinge (ausgenommen die der fünften Kategorie) in einem
langen fensterlosen Gange in einer Reihe auf, entfernte sich mit einer Stutz-Uhr-
I Mem. de l'Acad. Roy. de med. Paris 1836. T. V.
Tafel XXIX
J. M. GASPARD ITARD
Itard. 443
glocke von ihnen und merkte die Entfernung an , in der jeder von ihnen zu hören
aufhörte. Bei diesen Uebungen machte Itard die Beobachtung, daß die Verbesserung
der Hörweite für einzelne Töne nur bis zu einer bestimmten Grenze geht. Ist diese
Grenze erreicht, dann ist auch jede weitere Mühe umsonst. Erzielt man dann doch
noch eine Hörverbesserung für Töne, so geht sie meist schon innerhalb 24 Stunden
wieder verloren. Alle diese mühevollen Uebungen „ hatten nur den Zweck, die
Empfindlichkeit der Gehörorgane zu vermehren'1 *).
Weit schwieriger war die Aufgabe, sie „zu den verschiedenen Arten der Per-
zeption geschickt zu machen". Die Kinder mußten den Unterschied zwischen starken
und schwachen Tönen, ihre Richtung und ihre Verschiedenheit bei den einzelnen
Instrumenten kennen lernen. Mit den erzielten Resultaten gab sich Itard nicht
zufrieden. Es galt noch den Taubstummen die Sprache durch das Gehör verständlich
zu machen. Der Schwierigkeit dieser Aufgabe war er sich wohl bewußt, da er
die Beobachtung machte, „daß ein stumpfes Ohr die Töne und halben Töne der
musikalischen Tonleiter weit leichter deutlich unterscheidet, als die verschiedenen
Vokale". Die Methode, die er nun anzuwenden versuchte, bestand darin, daß er
sich hinter die Kinder stellte und die Vokale laut aussprach. Auf diese Weise
konnte er jedoch keinen Erfolg erzielen. Kein einziger seiner Zöglinge versuchte es,
auch nur einen Laut nachzusprechen. Itard mußte den Versuch aufgeben und
ihnen erst durch Zeichen verständlich machen , daß sie sich bemühen müßten , das
Vorgesprochene zu wiederholen. Darauf nahm er den Versuch von neuem vor.
Allein er entlockte ihnen so unartikulierte Laute, daß er bald zu der Ueberzeugung
kam, die Hörübungen würden niemals zum Verständnis der Sprache führen. Er
ersann eine Methode, die derjenigen Heinickes wohl sehr nahe kommt, doch dürfte
er Heinickes Unterrichtsmethode (S. 430) nicht gekannt haben. Er ließ seine Zög-
linge, während er die Laute, die er ihnen verständlich machen wollte, deutlich aus-
sprach, auf die Bewegungen seiner Sprachorgane achten. Dies hatte den Vorteil,
daß neben der Verwendung ihrer Hörreste und der Heranziehung des Gesichtssinnes
zum Verständnis des Gesprochenen, auch ihr Nachahmungstrieb geweckt wurde, der
sie veranlaßte, sich im Sprechen zu üben.
Bei den Vokalen ging dies noch verhältnismäßig leicht. Eine unerschütterliche
Geduld und mannigfache Kunstgriffe erforderte es jedoch , die Taubstummen zum
Nachsprechen der Konsonanten zu bewegen. So mußte er beispielsweise bei einem
seiner Zöglinge jedem Konsonanten die Silbe ra voraussetzen , um ihm den Konso-
nanten einzuprägen.
Itard wählte von den Zöglingen seines Institutes sechs aus, um sie persönlich
nach dieser Methode zu unterrichten, während die übrigen Schüler seines Institutes
von Lehrern in der Zeichensprache unterrichtet wurden. Von den sechs Knaben
schickte er drei bald wieder in das Institut zurück, angeblich aus äußeren Gründen,
wahrscheinlich jedoch, weil die Erfolge nicht ermutigend waren. Den anderen drei
Knaben ließ er seinen persönlichen Unterricht weiter angedeihen, bis er sie für ge-
nügend ausgebildet hielt. Aber das erzielte Resultat war auch hier sehr ungleich-
artig, denn nur einer scheint den gehegten Erwartungen entsprochen zu haben.
Und dieser eine war gerade derjenige, der das geringste Hörvermögen besaß und
dessen Taubheit nach Itards eigenen Worten „von der Art war, daß sein Gehör
nie sehr weit entwickelt werden konnte". Diese Tatsache ist wohl ein Beweis dafür,
daß die optimistischen Hoffnungen, die Itard an die Hörübungen knüpfte, nicht
in Erfüllung gegangen waren und auch der geringe Erfolg nur auf die Fortschritte
*) p. 523.
| | | >;ihs\ ,
im Ablesen des Gesprochenen vom Munde und auf die Entwicklung der Intelligenz
zurückgeführt werden konnte.
Die von ltard versuchte Unterrichtsmethode sollte vor der Zeichensprache
den Vorteil haben, die Taubstummen in den Stand zu setzen, nicht nur untereinander,
sondern auch in der Gesellschaft Vollsinniger zu verkehren. Mit dem im Vergleich
zu der aufgewendeten Midie und Zeit kaum nennenswerten Resultate, stimmt es
überein, daß ltard am Schlüsse dieses Kapitels doch die Zeichensprache mit den
AVorten : „ Diese hat die Natur den Taubstummen angewiesen und gewährt den Vorteil,
daß sie durch dieselbe miteinander verkehren können," als souveräne Unterrichts-
methode empfiehlt.
Trotz der wenig ermunternden Anregungen Itards wurden die Hörübungen
in verschiedenen Taubstummenanstalten versucht, um nach längeren resultatlosen
Bemühungen wieder aufgegeben zu werden. Umso erstaunlicher ist es. daß diese
aussichtslosen Bemühungen in den Dreißigerjahren von Dr. Baries in Berlin, zu
Ende der Achtzigerjahre von Abbe Verrier in Bourg la Reine und im letzten
Dezennium des vorigen Jahrhunderts von Urbantschitsch in Wien wieder auf-
genommen wurden. Die zahlreichen Nachprüfungen durch hervorragende Autoritäten
wie Bezold, Passow, Treitel, Kessel, Heimann, Gutzmann u.a. haben er-
wiesen, daß durch Hörübungen bei Taubstummen von einer Erweiterung des Gehörs
keine Rede sein kann.
Antoine Saissy, 1756 in Mongin (Provence) geboren, von den
Eltern zum Landmann bestimmt, genoß bis zum 22. Jahre nur elemen-
tarsten Unterricht. Der Zufall führte medizinische Bücher in seine
Hände. Mit erstaunlicher Raschheit übersprang er die Stufen der nötigen
Vorbildung, um sich in voller Begeisterung der Heilwissenschaft zu
widmen. Vom Jahre 1777 — 1782 findtm wir ihn zu Paris, wo er mit
großem Eifer dem medizinischen Unterrichte folgte. 1783 trat er als
Chirurg in die Praxis, verließ 1786 Frankreich, um als Chirurgien-major
der königlichen Handelsgesellschaft drei Jahre unter den Barbaresken
zu verweilen. Zurückgekehrt, lenkte er durch seine preisgekrönte Schrift
über den Winterschlaf der Tiere die Aufmerksamkeit der Gelehrten
auf sich. Erst im vorgerückten Alter wandte er sich der Ohren-
heilkunde zu und überreichte 1814 der medizinischen Gesellschaft zu
Bordeaux als Frucht seiner eingehenden Studien seine mit großem Bei-
fall aufgenommene Abhandlung über die inneren Krankheiten des Ohres.
Bis zu seinem 1822 erfolgten Tode bemühte er sich, diese Schrift zu
erweitern und zu verbessern.
Saissys Werk") über die Krankheiten des inneren Ohres gehört
unstreitig zu den besten dieser Periode, da es trotz seiner großen
Mängel eine genauere Kenntnis einiger Krankheitsformen des Mittel-
ohrs und der Eustachischen Röhre vorbereitete. Es zerfällt in sechs
Abschnitte, welche die Krankheiten des Trommelfells, der Trommelhöhle
*) Essai sur les maladies de l'oreille interne. Pari.-, Lyon 1827. Deutsche
Ausgabe: Ilmenau 1829, übers, von C. Fitzler.
SaissJ- __ '_ 445
und des Proc. mastoideus, der Eustachischen Röhre, der Teile die
letztere umgeben, des Labyrinths und des Gehörnerven behandeln.
In dem Abschnitt von den Krankheiten des Trommelfells wird als
selbständige Form die schwammige Haut, welche das Trommelfell des Neu-
geborenen bedeckt („De la membrane fongueuse qui recouvre celle du tyrnpan")
beschrieben. Auf Grund mehrerer in der Literatur angeführter Fälle mißt er dieser
im Normalen vorkommenden, dicken Epidermislage bei Neugeborenen eine ihr keines-
wegs zukommende Bedeutung für die Pathologie (z. B. der Taubstummheit) bei.
Saissy behauptet, zuerst vom Trommelfell entspringende Polypen be-
obachtet zu haben, da er in der Literatur keinen hierauf bezüglichen Fall gefunden
hätte. Er beschreibt nur einen Fall . bei dem er nach Entfernung des Polypen
einen rötlichen Fleck am Trommelfelle sah. den er als die Stelle deutete, wo der
Stiel des Polygen aufgesessen sei.
Was Saissy über die Erschlaf fung des Trommelfells, die er otoskopisch
nicht beobachtet hat, mitteilt, beruht auf theoretischer Spekulation. Die weitläufig
aus der Literatur herbeigezogene Aetiologie dieser Erkrankung ist so verworren und
phantastisch, daß wir auf eine nähere Wiedergabe seiner Ansichten verzichten können.
Interesse verdient ein von Saissy geschilderter Fall, bei dem otoskopisch
das Trommelfell „hinabgedrückt" war und eine zitzenähnliche Vertiefung in die
Trommelhöhle (eul de lampe) bildete. Er warnt in solchen Fä.llen vor Einsjjritzungen
in den äußeren Gehörgang, empfiehlt dagegen anstatt der einfachen Luftdusche mit
dem Katheter die jetzt als schädlich angesehenen Injektionen per tubam.
Was Saissy als Entzündung des Trommelfells, ohne den Trommelfell-
befund zu erwähnen, beschreibt, kann nach den Symptomen zu schließen eher als
akute eitrige Otitis gedeutet werden.
Bei Besprechung der Verdickung des Trommelfells, die er irr-
tümlich als primäre Erkrankung und ohne Trommelfellbefund schildert, unterzieht
er die Coopersche Perforation des Trommelfells einer scharfen Kritik,
erklärt die Ausführung der Operation für unsicher, nicht gefahrlos und ohne
die von Itard vorgeschlagene Injektion medikamentöser Flüssigkeiten für voll-
ständig wirkungslos. Indiziert sei die Perforation nur 1. bei Verkn orpel un g (?)
oder Verknöcherung des Trommelfells bei sonst intaktem Zustande der übrigen
Teile des Ohres; 2. bei Undurchgängigkeit der Eustachischen Ohrtromjjete infolge
von Bildungsfehlern, chronischer Anschwellung und bei Strikturen des Kanals. In
jedem anderen Fall von Schwerhörigkeit sei sie absolut zu verwerfen. Das Instrumen-
tarium und die Technik der Co op ersehen Operation wurden von ihm wesentlich
modifiziert. Er verwendet eine elastische statt der silbernen Troikartkanüle, einen
dickeren und an der Spitze gekrümmten Troikartstachel und empfiehlt zur Offrn-
haltung der künstlichen Oeffnung das Einlegen einer befetteten Darmsaite.
Die Ruptur des Trommelfells, unter welcher Bezeichnung er die trau-
matischen und pathologischen Perforationen zusammenfaßt, erklärt er für spontan
heilbar. Als diagnostische Zeichen führt Saissy an: das hörbare Durchzischen der
Luft beim Valsal vaschen Versuch, das Abfließen der in den Gehörgang einge-
spritzten Flüssigkeit durch den Schlund und das Ausfließen der per tubam injizierten
Flüssigkeit durch den äußeren Gehörgang.
Im zweiten Abschnitt des Werkes behandelt Saissy den Katarrh des
inneren Ohres. In der Aetiologie vertritt er noch den alten Standpunkt, ohne
die häufigste Ursache , die Fortpflanzung des Katarrhs vom Nasenrachenraum zum
Mittelohr, zu erwähnen. Sein akuter Katarrh entspricht unserer Otitis media acuta.
446 Saissy.
In einem Falle, bei dem, nach den Symptomen zu schließen, ein einfacher Mittel-
ohrkatarrh bestand, machte Saissy Einspritzungen mit lauem Aetherwasser (eau
ötheree), worauf eine akute Mittelohrentzündung mit serös-schleimigem Ausfluß aus
dem Ohre folgte. Saissy zieht hieraus keineswegs den Schluß, daß bei einfachen
sekretorischen Mittelohrkatarrhen Injektionen in die Trommelhöhle per tubam
schädlich sind.
Durchaus zutreffend ist seine Schilderung des Symptomenkomplexes bei der
mit Mastoiditis komplizierten akuten Mittelohrentzündung.
Saissy s innerer chronischer Katarrh ist, nach den mitgeteilten
Fällen zu urteilen, identisch mit der chronischen Mittelohreiterung, doch führt er
in dieser Gruppe wieder einen Fall ohne Perforation des Trommelfells an, den er
durch Injektionen per tubam gebessert haben will. Interessant ist die Bemerkung
Saissys, daß durch die ausschließliche Behandlung des rechten Ohres das Fort-
schreiten der Taubheit auf dem linken Ohre hintangehalten wurde, was unwider-
leglich die Sympathie zwischen beiden Ohren beweise.
Die Therapie des akuten Katarrhs besteht in passender Diät, Klistieren, Fuß-
bädern, Blasenpflastern im Nacken oder zwischen den Schultern und Vermeidung
von kalter und feuchter Luft. Die von Alard zur Entleerung des Exsudates vor-
geschlagene Punktion des Trommelfells sei nur dann ausführbar, wenn der Kathete-
rismus tubae und die Injektion lauen Wassers in die Trommelhöhle ohne Erfolg
versucht wurden.
Bei chronischer Mittelohreiterung wendet er Ausspritzungen des Gehörgangs
mit lauem Brunnenwasser mit oder ohne medikamentöse Zusätze, oder endlich die
Durchspülung des Mittelohrs mittels des Katheters durch die Tube an. Befangen in
den Anschauungen seiner Zeit rät er die Heilung des Ausflusses nur bei jugendlichen
Personen und nur unter gleichzeitiger Etablierung eines Fontanells zu versuchen, da
die Unterdrückung des Ohrenflusses leicht den Tod nach sich ziehen könne. Ohren-
flüsse, die durch Suppression von Hämorrhoidalblutungen oder der Menstruation ent-
standen, sistieren, wenn die Blutungen wieder eintreten.
Saissy beschreibt ziemlich gut das klinische Bild der Otitis media supp. acuta,
die bei Scarlatina, Morbillen, Variola auftritt und empfiehlt zur Bekämpfung der
Eiterung vor dem Durchbruche des Trommelfells neben Abführmitteln und Blutegeln
die Punktion des Trommelfells, nach Eintritt der Eiterung Durchspülung des Mittel-
ohres per tubam.
Die Eröffnung des Warzenfortsatzes hält er nur bei Karies und Abszeß im
Warzenfortsatze für berechtigt, verwirft aber alle anderen von Arnemann aufge-
stellten Indikationen für diese Operation,
Den sekretorischen Mittelohrkatarrh mit Ausscheidung serösen oder schleimigen
Exsudates bezeichnet Saissy als Wassersucht der Trommelhöhle und der
Zellen des Warzenfortsatzes. Er empfiehlt auch hier die jetzt als schädlich erkannten
Injektionen in die Trommelhöhle per tubam , und erst wenn diese resultatlos ange-
wendet wurden , die Paracentese des Trommelfells. Dieselbe Behandlung rät er
bei Bluterguß in die Trommelhöhle, den er besonders bei Traumen am Schädel
beobachtet haben will. Schleimansammlung in der Trommelhöhle diagnostiziert
Saissy dann, wenn beim Valsalvaschen Versuch die Luft nicht in das Mittelohr
eindringt oder die Injektionen durch die Tube auf starken Widerstand stoßen. Die
Behandlung besteht in Injektionen per Katheter in die Trommelhöhle.
Nach Saissy sind die Sekrete in der Trommelhöhle der Verdichtung fähig.
Indem der dünnere Teil der Feuchtigkeit resorbiert wird, bleibt der dichtere als
geronnen zurück und veranlaßt Schwerhörigkeit. Hier dürften wohl die durch
Deleau. 447
Katarrhe bedingten Bindegewebsneubildungen gemeint sein, über deren Natur und
Entstehung Saissy eine falsche Vorstellung hatte.
Das Kapitel „Von dem Ohrbrausen" behandelt weitläufig die Ansichten der
älteren und zeitgenössischen Autoren über die Aetiologie der subjektiven Geräusche,
ohne neue Gesichtspunkte zu enthalten. In der Therapie steht er noch auf dem
Standpunkte der alten Aerzte.
Ausführlich behandelt S aissy im dritten Abschnitte seines Werkes die Krank-
heiten der Eustachischen Ohrtrompete. Der Verschluß oder die Verengerung
derselben kann entweder angeboren oder durch Geschwüre (infolge Syphilis, Variola etc.)
im Nasenrachenräume und im Tubenkanal erworben sein. Zur Beseitigung der Strik-
turen schlägt Saissy folgende Operation vor. Er durchsticht mit einem durch einen
Katheter vorgeschobenen Stilett die den Verschluß verursachende Membran und legt
dann eine Darmsaite ein, um die gemachte Oeffnung bleibend zu erhalten. Saissy
empfiehlt, den Katheter behutsam zu entfernen, die Darmsaite aber im Tubenkanale
liegen zu lassen, indem man ihr äußeres Ende nahe der Nase abschneidet und mit
Watte in der Nasenöffnung fixiert. Es entspricht dies der modernen „Bougie ä
demeure". Der geringe Wert dieser Operation ergibt sich aus der Tatsache, daß
sie von Saissy nur einmal und ohne Erfolg ausgeführt wurde, und daß in der
Folgezeit, offenbar wegen der großen Gefahr einer Verletzung der benachbarten
Karotis dieser operative Eingriff nicht mehr versucht wurde.
Zur Beseitigung der Verstopfung der Ohrtrompete, durch Schwellung der
Schleimhaut, durch Ansammlung von Schleim, Blut oder eine kreideähnliche Masse (?)
empfiehlt Saissy Injektionen durch den Katheter mittels der von ihm verbesserten
Instrumente.
Erwähnenswert ist seine Bemerkung, daß langdauernde chronische Eiterungen
das runde oder ovale Fenster durchbrechen können, worauf bereits Hofmeister
(S. 342) hingewiesen hat. Ueber eigene, die Labyrintheiterung beweisende Befunde
verfügt Saissy nicht, er teilt nur zwei Beobachtungen seines Kollegen Viricel
mit , der bei der Sektion eines Falles braunrötlichen Eiter , bei der eines anderen
eine „seröse Materie" im Labyrinthe fand.
Zu den verdienstvollen Nachfolgern Itards und Saissys zählt
der jüngere Deleau, dem die praktische Ohrenheilkunde wesentliche
Verbesserungen in der Technik des Catheterismus tubae und die Ein-
führung der Luftdusche durch den Katheter verdankt.
Nie. Deleau jeune, am 21. April 1797 geboren, war zuerst als
praktischer Arzt in Commercy tätig und erhielt später eine Stelle am
Hospice des orphelins zu Paris, wo er die Abteilung für Ohrenkranke
leitete. Er starb im Jahre 1862.
Deleau trug sich, offenbar in Unkenntnis der der Taubstummheit zu Grunde
liegenden anatomischen Veränderungen, anfangs mit dem hochfliegenden Probleme,
durch die Trommelfellperfoiation Taubstummheit zu heilen. Er berichtet in seinem
„Memoire sur la Perforation de la membrane du tympan" über 18 Fälle, in denen
er durch die Trommelfelloperation wohl keine Heilung der Taubheit, doch eine
merkliche Hörverbesserung erzielt haben will. Später wandte sich Deleau fast aus-
schließlich den Krankheiten des Mittelohrs und vornehmlich der Vervollkommnung
des Catheterismus tubae zu. Er bediente sich elastischer Katheter, die jedoch keinen
Eingang in die Praxis fanden. Er verwirft als schädlich die von Itard und Saissy
L48
Deleau.
bei Mittelohrkatarrhen bevorzugten [njektionen von Flüssigkeit per tubam und
empfiehl! als viel wirksamer die Luftdusche (douche d'air) mittels des Katheters,
die. er entweder mit dem .Munde oder mit einer Kautschukblase oder mit Hilfe einer
Luftpumpe ausführte. Die Injektionen per tubam will er nur zur Plntfernung von
Fremdkörpern bei defektem Trommelfell angewendet wissen.
Angeregt durch Laennecs Untersuchungen über die Auskultation des Proc.
mastoid. suchte Deleau die Auskultation des Ohres während der Luftdusche dia-
gnostisch zu verwerten. Er auskultiert noch durch Anlegen seines Ohres an das des
Patienten. Ist die Trommelhöhle normal lufthaltig und die Tube wegsam, so ver-
nimmt man ein Geräusch, das dem Kauschen eines Wasserfalls oder eines im .Walde
niederprasselnden Regens zu vergleichen ist („bruit sec de la caisse"); oft hört man
gleichzeitig mit diesem Geräusche ein Schwirren, das von den Schwingungen der
Trompetenmündung herrührt (bruit du pavillon). Ist jedoch die Tube verengt, so
bewegt sich der Luftstrom rückwärts und es entsteht ein trockener Ton, der, mit
dem Geräusche des normalen Ohres verglichen, gleichsam in der Ferne vernehmlich
ist. Ist Sekret in der Trommelhöhle vorhanden, so hört man ein Rasseln dem ähnlich,
welches entsteht, wenn man durch eine Röhre in schleimiges Wasser bläst. Deleau
nennt es das Schleimgeräusch der Trommelhöhle („bruit miiqueuse").
Deleau o-ing von der schon früher anerkannten Idee aus, daß das normale
Gehör von der normalen Wegsamkeit der Ohrtrompete abhängig sei und deutete die
durch katarrhalischen Verschluß der Tube hervorgerufene Schwerhörigkeit bereits in
der noch heute unbestrittenen Weise durch die veränderte Spannung, welche das
Trommelfell infolge der Resorption der Luft in der Trommelhöhle erleidet.
Die nervöse Taubheit galt ihm als unheilbar. Das für die Diagnose charakte-
ristische Merkmal derselben ist nach Deleau das freie Einströmen der Luft in die
Trommelhöhle. Jetzt wissen wir, daß dieses Merkmal diagnostisch nicht verwertbar
ist, da auch bei der Steigbügelankylose (Otosklerose) der Tubenkanal normal wegsam
sein kann.
Die künstliche Perforation des Trommelfells führte Deleau in der ersten
Periode seiner ärztlichen Tätigkeit nicht nur bei Verdickung des Trommelfells und
Unwegsamkeit des Tubenkanals aus, sondern auch bei Verstopfungen des Tuben-
kanals im Kindesalter, wo aus äußeren Gründen die Luftdusche durch den Katheter
unausführbar ist.
Zur Erweiterung von Tubenstrikturen wendet Deleau anstatt der von Itard
und Saissy empfohlenen Bougies, längliche, dünne Preßschwammstückchen durch
den Katheter an, wobei er aber hervorhebt, daß schon die Einblasung von kom-
primierter Luft in das Mittelohr eine Erweiterung des Tubenkanals bewirke. Eine
solche Wirkung der Luftdusche können wir jetzt nur für Schwellungstrikturen. nicht
aber für bindegewebige Verengerungen gelten lassen.
Deleau will durch die Luftdusche mittels des Katheters bei Taubstummen
günstige Erfolge erzielt haben. Seine Berichte hierüber waren so glänzend, daß ihm
das Institut de France jährlich die Summe von 6000 Franken für die Behandlung
von vier Taubstummen bewilligte. Es ist klar, daß es sich — vorausgesetzt Deleau
habe wirklich eine Besserung erzielt — nicht um Taubstumme mit schweren Läsionen
im Labyrinthe oder im Gehirne handelte, sondern am Kinder, die infolge katarrhali-
scher Schleimansammlung im Mittelohre das Sprechen nicht erlernen konnten.
Trotz der zahlreichen Irrtümer, denen wir in den Schriften Deleaus begegnen,
muß ihm doch das Verdienst zugesprochen werden, daß er zuerst den Catheterismus
tubae für die Diagnose der Mittelohrerkrankungen heranzog und daß er die Therapie
der Ohrerkrankun<ren durch die Aufnahme der Luftdusche wesentlich erweiterte.
Tafel XXX
NIC. DELEAU JEUNE
Deleau. 449
Von den zahlreichen Schriften Deleau's seien hier folgende erwähnt.
Tableau de guerisons de surdites operees par le catheterisme de la trompe
d'Eustache suivi d'une lettre adressee ä FAcadernie de medecine. Paris 1827. —
Recherches physiologiques et pathologiques sur la presence de Fair atmospherique
dans l'oreille moyenne. (Journal des connaissances medicales 1835.) — Traite du
catheterisme de la trompe d'Eustache et de Femploi de l'air atmospherique dans les
maladies de l'oreille moyenne. Paris 1838. — Extrait d'un Memoire sur l'emploi
de Fair atmospherique dans le diagnostic, le prognostic et le traitment de la surdite.
in Magendie's Journal de physiologie experiment. et pathologique. Paris 1829, T. IX,
p. 311 — 340. — L'ouie et la parole rendues ä Honore Trezel, sourd-muet de naissance.
Paris 1825.
Im Anschlüsse wären noch einige interessante, das Gebiet der Otologie streifende
Arbeiten über den serösen Ausfluß aus dem Ohre infolge von Schädelbasis-
frakturen zu erwähnen. Die Ansichten über die Quelle des serösen Ausflusses gehen
vielfach auseinander. Nach Guthrie rührt er von einer vermehrten FJxhalation der
Arachnoidealhöhle, nach Robert*) von der Cotugnoschen Lymphe im Labyrinthe
her. Laugier glaubt, daß die frakturierte Stelle selbst die Flüssigkeit sezerniere,
während Chassaignac**) den Ausfluß als das aus dem zerrissenen Sinus austretende
Blutserum erklärt. Die allein richtige, allgemein akzeptierte Ansicht, daß es sich
bei Schädelbasisfrakturen fast immer um den Abfluß von Cerebrospinalflüssig-
k e i t handle, wurde von B o d i n e r und Berard vertreten, denen sich später Robert,
gestützt auf zwei Fälle von Bruch der Schädelbasis mit Abfluß von Liquor durch die
Nase, anschloß.
Die Abhandlung des französischen Arztes Dr. Philippe „Ueber
Geistes- und Gehörgymnastik, als unerläßliche Ergänzung der
Kur der Taubheit"***), bietet einen Beweis dafür, daß manche theo-
retisch ersonnenen Heilmethoden immer wieder von neuem auftauchen,
um aufs neue als nutzlos der Vergessenheit anheimzufallen.
Philippe will den Schwerhörigen und Tauben dadurch zum Hören zwingen,
daß er seine Aufmerksamkeit zu wecken sucht. Dazu müsse man zunächst den
Kranken vorbereitende Töne hören lassen, die seinen Gehörsinn auffordern, in Tätig-
keit zu treten. Am besten sei es, ihn häufig bei seinem Namen anzurufen. Auch
lautes Lesen sei als eines der ersten Mittel anzuwenden. Diese kontinuierliche Ein-
führung von Tonwellen versetze das Nervensystem in einen Zustand andauernder
Erregung, der es aus seiner Atonie erwecke. Beim Aussprechen der Worte
möge man die Stimme nicht allzusehr erheben, damit die Perzeption auch mit
schwachen Hilfsmitteln stattfinde und das Nervensystem hierdurch an Aktivität
zunehme. Als weiteres mächtiges Hilfsmittel empfiehlt Philippe häufige und
anhaltende Konversation. „Verwandte, Freunde, alle Angehörigen des Kranken
müssen viel mit ihm sprechen und ihn von Gegenständen unterhalten, welche ihm
angenehm sind." Es sei auffallend, wie ein Kranker, der zu Beginn des Gespräches
sehr wenig hörte, später weit leichter hörte, weil seine Aufmerksamkeit gespannt
und sein Interesse für die Sache gefesselt war. Auch die Beschäftigung mit der
Musik hält Philippe für eine gymnastische Uebung des Gehörs, mit einem Worte
*) Froriep, Neue Notizen 1846, Nr. 806, p. 215.
**) Froriep, Neue Notizen 1846, Nr. 842, p. 91.
***) Journal de Medecine de Bordeaux 1846 und Frorieps Notizen Bd. 38, 1846.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. *rd
450 Gairal.
alle Arten von Geräuschen, mit Ausnahme derjenigen, die durch allzu große Intensität
den Gehörsinn belästigen und daher die Grenzen für das normale Hören noch weiter
hinausrücken würden. Bekanntlich wurde ganz dieselbe Methode der Hörübungen
bei erwachsenen Schwerhörigen in der Neuzeit als „neue Methode" empfohlen, um
nach mehrjährigen Versuchen von den Praktikern als nutzlos aufgegeben zu werden.
Die zahlreichen zeitgenössischen Schriften und Kompendien über Ohrenheil-
kunde in Frankreich enthalten mehr oder minder gelungene Auszüge aus den Werken
der vorerwähnten Autoren. Was in ihnen als neu vorgebracht wird, beschränkt sich
auf Modifikationen von Instrumenten und Apparaten und auf Behandlungsmethoden,
die alle bereits verschollen sind. Erwähnt seien nur Gairal*), dessen Katheter
am Schnabelende mit einem Wulste versehen ist; Bonnet**) aus Lyon, der den
Katheterismus durch Aetzungen der Pharynxschleimhaut mit Quecksilber- oder Silber-
nitrat ersetzen will; Petrequin***), der mit seiner „Methode speciale aluminee"
die Mittelohrkatarrhe durch Alaungurgelungen und Bestäuben des Pharynx mit Alaun-
pulver zu heilen angab; endlich Ducros-j-), der mit Recht bei Mittelohrkatarrhen
auf die Behandlung der Nasenrachenschleimhaut besonderes Gewicht legt.
Die Hauptarbeiten Bonnafonts und Meniere's gehören bereits der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts an.
Zu erwähnen wären noch aus dieser Periode: Alard, Essai sur le catarrhe
de l'oreille. Paris 1807. Eine kleine von Itard und Saissy unabhängige Schrift
von geringem Wert. — Trucy, Considerations sur la Perforation de la membrane
du tympan. Paris 1802. — Monfalcon. Art. Maladies de l'oreille externe in T. 38
des Diction. des scienc. medic. ■ — Lacrey, Notice sur une cause particuliere de surdite.
inconnue jusqu'ä ce jour , suivie d'observations. Im Journ. compl. du Diction. des
scienc. medic. Paris 1822, T. XIII. — Pinel, Recherches sur les causes de la surdite
chez les vieillards. In Journ. complem. du Diction. des scienc. medic. Paris 1824,
T. XX. — Goze, Dissertation sur Ja surdite causee par l'engouement et l'obturation
de la trompe d'Eustache. Paris 1827. — Maurice-Mene, Entdeckungen über die
Natur und den Sitz der Migräne und der Taubheit, nebst einer neuen Behandlung
derselben. Uebersetzung nach der 2. Auflage. Leipzig 1837. — Hubert-Valleroux,
Essai theorique et pratique sur les maladies de l'oreille. Paris 1846.
Deutschland.
Während in Frankreich durch die Arbeiten Itards und Saissys
ein namhafter Fortschritt in der praktischen Ohrenheilkunde angebahnt
Avurde, erfuhr die Otiatrie in Deutschland im selben Zeiträume fast gar
keine Förderung. Man beschränkte sich hier darauf, das von den Eng-
ländern und Franzosen überlieferte Material zu sichten und kritisch zu
ordnen. Einen namhaften Umfang erreichte in dieser Periode die Ueber-
setzungsliteratur französischer und englischer Autoren. Später folgten
*) Recherches sur la surdite, considere sous le rapport de ses causes et de son
traitement et de nouvelle metbode pour le catheterisme de la trompe d'Eustache.
Paria 1836.
**) Bulletin gencral de therap. med. et Chirurg. Paris 1837, T. XIII.
***) Gaz. med. de Paris 1839.
f) Seance de l'Academie des Sciences. 8 Nov. 1841.
Karl Joseph Beck. 451
Publikationen, die mit Berücksichtigung der Werke fremder Autoren
auch eigene Erfahrungen enthielten und eine Uebersicht über den Stand
der Otiatrie gewährten. Neben diesen gibt es zahlreiche wertlose populäre
Schriften, in denen man die leichte Darstellung und Verständlichkeit der
französischen und englischen Pamphlete vermißt.
K. J. Beck. Zu den deutschen Autoren, die sich in den ersten Dezennien
des 19. Jahrhunderts eines besonderen Rufes erfreuten, zählt in erster Reihe Karl
Joseph Beck, der in seinem Werke „Die Krankheiten des Gehörorgans", Heidelberg
und Leipzig 1827, nicht ohne Kritik die Leistungen der bekannteren französischen,
englischen und deutschen Aerzte verwertet und auch die ältere Literatur berück-
sichtigt. Das Buch enthält neben großen Mängeln manches Gute. Tadelnswert ist
die geringe Verwendung des Ohrenspiegels und des Katheters zu diagnostischen
Zwecken. Becks Einteilung der Ohraffektionen krankt noch an dem Einfluß der
damals zur Neige gehenden naturphilosophischen Richtung in der Medizin. Die uns
heute undenkbar scheinende Einteilung der Ohraffektionen nach einzelnen Symptomen
als Krankheitsgruppen, muß um so mehr befremden, als die Monographie Becks
in eine Periode fällt, in der sich bereits realere Anschauungen in der Medizin geltend
machten. Des historischen Interesses halber lassen wir eine Skizze der Klassifikation
Becks folgen.
Die Monographie zerfällt in drei Bücher. Das erste umfaßt die Untersuchungs-
lehre, Heilmittellehre und Operationslehre, Prothesis und Kosmetik. Der zweite
pathologische Teil besteht aus der Pathogenie und pathologischen Anatomie, das
dritte Buch ist der speziellen Darstellung der Ohrenkrankheiten gewidmet. Diese
teilt Beck wieder in zwei Hauptabteilungen, nämlich in die „dynamisch-organischen
und in die mechanischen Störungen". In die erste Klasse reiht er die Krankheiten
des p 1 a s t i s c h e n Apparates, die des i r r i t a b 1 e n Apparates und die des sensiblen
Apparates.
Zur ersten Gruppe zählen: a) Die Entzündungen (Otitis externa. Otitis
interna. Myringitis, Syringitis Eustachiana). b) Fehlerhafte Sekretionen (abnorme
Ceruminalabsonderung, Otorrhoea externa, Otorrhoea interna, abnorme Sekretion der
Labyrinthflüssigkeit), c) Mangelhafte und perverse Nutrition (Geschwüre, Fisteln,
Caries, Phthisis und Atrophie des Trommelfells, Atrophie des Gehörnerven), e) Neue
Bildungen (Polypen, Pseudomembranen, Konkretionen und Säfteanhäufungen im Ohre).
Die Krankheiten des irr it ab len Apparates zerfallen in K rampf (Spannung
des Trommelfells) und Lähmung (Erschlaffung der Ohrmuschel und des Trommelfells).
Zu den Krankheiten des sensiblen Apparates gehören: a) Schmerz (Otalgia).
h\ Verändertes Empfindungsvermögen (Hyperacusis , Cophosis, Dysecoia, Baryecoia,
Paracusis).
Die mechanischen Störungen teilt Beck ein in: abnorme Kohäsion
(Verengerung und Imperforation des Gehörganges, Verschließung der Eustachischen
Ohrtrompete); abnorme Trennung (Wunden); fremde Körper (mit und ohne
Verwundung).
Joseph Frank bespricht im zweiten Teile seiner „Praxeos med. universae
praecepta 1821 " (Vol. II, Sect. I, p. 877) ausführlich die Krankheiten des Ohres. Ohne
Rücksicht auf die wertvollen Leistungen der französischen Aerzte, artet seine Dar-
stellung in subtile Systemsucht aus. So teilt er die Entzündungen ein in traumatische,
katarrhalische, metastatische, konsensuale, artbritische, skrofulöse, venerische, von
denen jede eine spezielle Behandlungsmethode erfordere. Als Krankheiten der
Membr. tymp. finden neben Exkreszenzen, Verdickung, Entzündung, Ruptur,
452 Joseph Frank.
Erosion, auch zu große Spannung und Erschlaffung, und Prolaps Erwähnung. Des-
gleichen werden als eigene Krankheitstypen „vitia ossiculorum auditus nee non
foraminis tum ovalis tum rotundi", „Hydrops acutus", „Suppuratio et caries cavi
tympani" beschrieben. Otalgie und Ohrentönen gelten als selbständige Krankheits-
formen. Fast nirgends finden wir in Franks Darstellung diagnostische Anhalts-
punkte zur Erkenntnis der von ihm aufgestellten Krankheitsformen.
Auf einer recht niedrigen Stufe stehen auch die „Aphorismen über Ohren-
krankheiten" von Joseph Ritter v. Vering*). Allerdings macht das Schriftchen
keinen Anspruch auf Originalität, doch sind auch die für die Praxis mit Nutzen
verwertbaren Erfahrungen anderer nicht berücksichtigt. Von einer objektiven Dia-
gnostik ist keine Spur. Der Ohrenspiegel wird kaum erwähnt, dagegen empfiehlt
v. Vering den unpraktischen dreifach gekrümmten Katheter Saissys, trotzdem
der praktisch anerkannte Katheter Itards länger als ein Dezennium bekannt war.
Von dem Werte der Aphorismen v. Ve rings möge folgende Stichprobe zeugen. So
heifit es p. 40: „Die Leber steht zur Gehörfähigkeit in einem wichtigen Wechsel-
verhältnisse, demnach auch bei Leberleiden und Krankheiten der Gallenblase Schwer-
hörigkeit häufig beobachtet wird." Und p. 48: „Kranke, welche mit Leber- oder
Milzanschoppung behaftet sind, werden auf dem rechten oder linken Ohre schwer-
hörig."
Von den um diese Zeit erschienenen zahlreichen Dissertationen und Abhandlungen
sind zu erwähnen: Kranz1), May2), Wilpert3), Ball4), Eschke5), Heilmaier6),
Meißner7), Mürer8), Ehrharter9), Reye10), Sanocki11), Ohlhauth12),
Mischke13), Lobethal14), Wever15), Würl16) und Schleip17).
') Jo. Gust. Kranz, Diss. inaug. med. de surditate in genere et de methodis
medendi operationibusque, quibus medicina et chirurgia auditum deficientem restituere
valet. Halae 1810. — 2) Jos. May, Diss. inaug. med. de cophosi et baryecoia.
Vindob. 1812. — 3) Diss. de morbis quibusdam organi auditus. Dorpati. — 4) Diss.
de aure humana et ejus morbis. Edinb. 1815. — 5) Carl Adolph Eschke, Diss.
inaug. med. de auditus vitiis. Berolini 1819. — 6) Diss. de morbis quibusdam organi
auditus. Landishuti 1824. — 7) Diss. de auditus diminutione et abolutione. Bero-
lini 1825. — 8) J. C. Mürer, De causis cophoseos surdo-mutorum indagatu difficilibus.
Hafn. 1825. — fl) Diss. inaug. med. de morbis organorum auditus. Vindob. 1825.
— ,0) Ed. The od. Reye, De auditus diminutione. Gott. 1826. — ") Diss. de
morbis auditus. Cracoviae 1829. — 12) Chr. Ohlhauth. De organi acustici vitiis.
Wirceburgi 1829. — 13) Diss. sistens historiam baryecoiae cura Louvriana sanatae,
adnexa contemplatione baryecoiae epicritica. Prag 1830. — 14) Conspectus morborum
auris humanae. Berol. 1833. — 15) Diss. inaug. med. chir. sistens observationes de
cophosi et baryecoia congenita, annexis. notaminibus physiologicis de funetione tubae
Eustachianae. Friburgi Brisgoviae 1835. — 16) Alfred Würl, Diss. inaug. med.
sistens synopsin nosologicam dyseeoiarum juxta Swediauri tatpwrjv dispositam. Prag
1835. — 17) Inauguralabhandlung über einige krankhafte Zustände des Gehörs. Er-
langen 1832. Selbständige Abhandlungen lieferten: J. Heller, Verhandeling over de
Doofheid. Amsterdam 1805 und Ernst Adolf Eschke, Kleine Bemerkungen über
die Taubheit. Berlin 1806.
Von den populären Schriften, die in den meisten Fällen dem Zwecke nichts
weniger als entsprachen, wären zu erwähnen: C. J. B. Ettmü 1 ler, Von den Krank-
heiten des Ohres und damit verbundener Harthörigkeit. Eine Haustafel für alle
*) Jos. Ritter v. Vering, Aphorismen über die Ohrenkrankheiten, Wien 1834.
Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Stände. Lübben 1802. — Jos. Malfatti. Ueber die Pflege des Gehörorgans. Im
Gesundheits-Taschenbuch für das Jahr 1802. Wien 1802. — G.W.Pfingsten, Be-
merkungen und Beobachtungen über Gehör. Gefühl, Taubheit, deren Abweichungen
voneinander und über einige Ursachen und Heilmittel der letzteren. Altona 1811.
- Ludw. Meiner, Die Krankheiten des Ohres und Gehörs oder Hilfe und Rat für
alle diejenigen, welche sich ein gutes und feines Gehör und Fehler derselben in Zeiten
vorbeugen wollen. Leipzig 1823. — Gfr. Wilh. Becker, Guter Rat für Taube
und Schwerhörige. Leip. 1827. — Joh. Chr. Lud. Riedel, Ueber die Krankheiten
des Ohres und Gehöres etc. Ein Not- und Hilfsbüchlein für alle Gehörkranke.
Leip. 1832. Guter Rat für Schwerhörige und Taube, oder die Ursache und Be-
handlung der Taubheit nebst einem neuen Verfahren, bestehend in der Anwendung
des Katheters bei der Eustachischen Trompete. — Eduard Schmalz, Ueber die
Erhaltung des Gehörs, oder das Wichtigste über den Bau und die Verrichtung des
Gehörorgans, über die Krankheiten des Ohres und Gehörs, über die Verhütung der-
selben, über das dabei zu beobachtende Verhalten und über die vorzüglichen Hör-
maschinen. Für Gebildete bearbeitet. Dresden und Leipzig 1837. — Kurze Geschichte
und Statistik der Taubstummenanstalten und des Taubstummenunterrichtes nebst
ärztlichen Bemerkungen. Dresden 1830. — Faßliche Anleitung, die Taubstummheit
in den ersten Lebensjahren zu erkennen und möglichst zu verhüten. Dresden und
Leipzig 1840. — Erfahrungen über die Krankheiten des Gehörs und ihre Heilung.
Leipzig 1846. — Ueber den Wert ohrenärztlicher Erfahrungen. Dresden 1847. —
Beiträge zur Gehör- und Sprachheilkunde. Leipzig 1848.
Ziemlich umfangreich ist die Literatur, welche bestimmte Abschnitte
des Gehörorgans in Spezialschriften behandelt. Ein großer Teil derselben findet
sich zerstreut in den zeitgenössischen Zeitschriften und Pmzyklopädien. So schrieben :
Ueber Ohrentzündungen: Baehrens, Lud. Carol. Henr., Diss. inaug.
med. de otorrhoea. Halae 1817. — Schlegtendal, Joh. Ferd., Diss. inaug. med.
de otitide. Halae 1831. — Malatides Daniel, Tractatus de otalgia, singula
doloris aurium genera. etc. Viennae 1820. — Kruckenberg, Die Ohrenentzün-
dungen. (Linck es Sammlung) 1824. — Schwarz, Ueber die Ohrenentzündung der
Kinder. (Linck es Sammlung) 1825. — Hoffmann, Heinr., Otorrhoea cerebralis
primaria. (Linck es Sammlung) 1827. — Willem i er, Guil. Aug. Felix Quarin.,
Specimen anat. pathol. inaug. de otorrhoea atque de variis modis, quibus pus effluere
et quorsum delabi soleat. Traj. ad Rhen. 1835. — Albers, J. F. H., Die Otorrhoea
cerebralis. Journal der Chir. und Augenheilkunde, Bd. 25. Berl. 1837.
Ueber Krankheiten des äußern Ohres: Löffler, Fr., Von den Krank-
heiten des äußern Ohres. (Linckes Sammlung.) — Monfalcon, Oreille. Diction.
des scienc. med. Tom. 38, 1. c. — Fischer, Christ. Ernst, Abhandlung vom
Krebse des Ohrs. Lüneburg 1804. — Krügelstein, Ueber den Krebs am Ohre.
Allgem. mediz. Annalen 1827. — Rauch, Ueber die Krankheiten des Gehörgangs
und des Trommelfells. Verm. Abhandl. aus d. Gebiet d. Heilkunde. Petersb. 1829.
— Froriep, Robert, Die neueren Leistungen auf dem Felde der Gehörkrankheiten.
C aspers Wochenschr. 1833. — Earle, Henry, Ueber Leiden des Gehörgangs (Med.
chir. Trans. Vol. X., p. 410). Lond. 1839.
Ueber Krankheiten des Mittelohrs: Goze, Anton Michael, Dissert.
sur la surdite causee par 1'engouement et obturation de la trompe d'Eustache. Paris
1827. — Adler, Ign., Diss. inaug. de morb. tub. P^ustach. Pest 1833. — Schramm,
Fried., Diss. inaug. med. chir. de morb. tub. Eust. Berol. 1835. — Wolf, Ver-
eiterung des inneren Ohres mit Abgang der Gehörknöchelchen ohne Verminderung
des Gehörs. Berlin 1835. — Kuh, De infiammatione auris mediae. Vratislaviae 1842.
454
Breßler.
üeber nervöse Taubheit: Frener, Pet. Aug., Ueber nervöse Taubheit.
Würzb. 1323. — Riedel, Theoph. Guil. , Diss. inaug. med. sistens surditatia
paralyticae nosologiam. Jena 1826.
Ueber Gehörstäuschungen: Sommer, Carol. Ed., Diss. de syrigmo.
Viteberg 1814. — Dann, Edm. , Cominent. de paracusi sive de auditus halluci-
nationibus. Berl. 1830. — Jacobs, Petr., Diss. de auditus fallaciis. Bonn 1832.
— ■ Hagen, Fried. Wilh., Die Sinnestäuschungen etc. Leipzig 1837.
Ueber 0 p e r a t i o n e n : W e g e 1 e r , J u 1 i u s, De aurium chirurgia. Berol. 1829.
— Dieffenbach, J. F., Von dem Wiederersatz des äußeren Ohres. Chir. Er-
fahrungen, Abt. II. Berl. 1830. — Neuß, Diss. de perforatione tympani. Gott.
1801. Gott. Anz. 1802, p. 2085. — Tro siener, Job. Emanuel, Ueber die Taub-
heit und ihre Heilung mittels Durchstechung des Trommelfells. Berl. 1806. —
Beck, J. S., Diss. de tympani perforatione in surditatis cura cautius rariusque
adhibenda. Erlang. 1806. Salzb. med.-chir. Ztg. 1807, II, p. 218. — Ka ver z, J. H.,
Diss. inaug. de perforatione tympani. Argent. 1807. — Nasse, Bemerkungen über
A. Coopers Durchbohrung des Trommelfells. Hufelands Journ. der prakt. Heilkunde.
Berl. 1807. — Himly, C, De perforatione membranae tympani. Gott. 1808. —
Nieuwenhuis, Luc. Cornel. , Diss. med. inaug. sistens momenta quaedam de
surditate per puncturam membranae tympani curanda. Traj. ad Rhen. 1807. —
Fuchs, Jo. Fried., Diss. anat. chir. de perforatione membranae tympani praecipue
de vera hujus operationis indicatione exhibens. Jena 1809. — Hunold, Ueber
die Durchbohrung des Trommelfells. Rudolst. 1810. — Kern, Vinc. v., Bemer-
kungen über die Durchbohrung des Trommelfells. Med. Jahrb. d. k. k. öster. Staates.
Wien 1813. — Harles, Ch. Tr., De membranae tympani perforatione in surditatis
cura rariusque cautiusque adhibenda. Op. minor, acad. Lips. 1815. — Neu-
bourg, J. A. de, Memoire et observations sur la Perforation de la membrane du
tympan. Bruxelles 1827. — Fabrizi, P., Neues Verfahren bei der Perforation der
Membrana tympani. Uebers. in Frorieps Notizen 1878. — Hendriksz, Ment.
Anton, Diss. de perfor. membr. tymp. Groning. 1828. — Weber, Geschichte
einer durch Perforation des Warzenfortsatzes bewerkstelligten Entleerung einer Eiter-
ablagerung im Innern des Ohres etc. In Friedreichs und Haselbachs Beiträgen zur
Natur- und Heilkunde. Würzb. 1825. — Westrumb, Aug. Heinr. Lud., Ueber
den Katheterismus der Eustachischen Trompeten. Rusts Magazin für die ge-
samte Heilkunde. Berl. 1831. — Kuh, Bemerkungen über die zum Katheterismu3
der Eustachischen Röhre erforderlichen Instrumente und Handgriffe. Berl. 1832.
— Troschel, Maxim iL, De tubae Eustachianae catheterismo commentatio. Berol.
1833. — Möller, Georg Herrn., Diss. de tub. Eust. catheterismo. Casselis 1836. —
Schikolla, Joannes, Diss. de Baryecoia. Vindobona 1831. — Pfaff, C. H.,
Versuch über die Anwendung der Vo Itaischen Säule bei Taubstummen. Kopenhagen
1802. — Pfingsten, G. W., Beobacht. und Erfahrungen über d. Gehörfehler d.
Taubstummen etc. Kiel 1802. — Pfingsten, G. W., Gehörmesser zur Untersuchung
der Gehörfähigkeit galvanisierter Taubstummer. Kiel 1804. — Wolke, C. H.,
Nachricht von den zu Jever durch die Galvani-Voltaische Gehörgebekunst be-
glückten Taubstummen. Oldenburg 1802.
Kaum mehr als bloß didaktische Bedeutung läßt sich den ohren-
ärztlichen Komjjendien von H. Breßler, Gust. v. Gaal und Martell
Frank zuerkennen.
H. Breßler. Die Schrift Breßlers, „Die Krankheiten des Seh-
Gaal. Martell Frank. 455
und Gehörorgans", Berlin 1840, erweist sich als eine nach englischen,
französischen und deutschen Vorlagen zusammengestoppelte Kompi-
lation, in der der Verfasser auch nicht den geringsten Versuch macht,
eine eigene Ansicht zu vertreten. Die Ohraffektionen werden in vier
Gruppen eingeteilt, nämlich Entzündungen, Ohrflüsse, nervöse Leiden
und mechanische Störungen. Von Entzündungen werden beschrieben:
die katarrhalische und „phlegmonöse" innere Ohrentzündung, die Myringitis,
die Syringitis, die erysipelatöse und phlegmonöse Otitis externa, die Ent-
zündung der drüsigen Haut und der Knochenhaut des Gehörganges, die
erysipelatöse, skirrhöse und Zellgewebsentzündung der Ohrmuschel. Der
„Ohrenfluß" zerfällt in die äußere und innere Otorrhöe. Als Nerven-
affektionen werden Otalgie, „nervöse Schwerhörigkeit" und Paracusis
aufgezählt. Zu den „organischen" Krankheiten rechnet Breßler die
Verengerung und Verschließung, die krankhafte Erweiterung und Polypen
des Gehörganges, die Verdickung, Zerreißung und Polypen des Trommel-
fells, die Verstopfung, Verengerung und Verwachsung der Tuba Eust.
Ganz flüchtig wird der pathologischen Zustände des Labyrinths gedacht,
mit der Motivierung, daß dieselben zwar anatomische aber keine prak-
tische klinische Bedeutung besäßen. Zur Gruppe der „mechanischen.
Störungen" gehören endlich Anhäufung von Cerumen und Fremdkörper.
Die Vermengung rein symptomatischer Begriffe mit oberflächlichen,
großenteils willkürlichen anatomischen, wie sie in der erwähnten Einteilung
hervortreten, benimmt der Schrift jeden Wert.
Gustav v. Gaal. Etwas höher ist jedenfalls der Wiener Arzt
Gustav v. Gaal zu stellen, der in seinem Lehrbuch „Die Krank-
heiten des Ohres und deren Behandlung", Wien 1844, die Anatomie
weit mehr berücksichtigt und den Untersuchungsmethoden größeren
Raum zuweist. Es erklärt sich dies daraus, daß v. Gaal seine Kompi-
lation mit einer gewissen Auswahl nach den besten französischen, eng-
lischen und deutschen Quellen verfaßte und insbesondere Whart 011 Jones
zum Wegweiser nahm. Eine gewisse Selbständigkeit verrät er darin,
daß er auch eigene Krankengeschichten mitteilt und auf Grund dieser
hie und da zu Urteilen gelangt, welche von denjenigen der Vorgänger
abweichen. Die Zahl der Krankheitsbilder, welche v. Gaal nach ana-
tomischen Gesichtspunkten vorführt, ist viel größer als bei Breßler,
doch teilt er mit diesem die äußerst lückenhafte Darstellung der Labyrinth-
affektionen, von denen er nur die Paracusis (Ohrtönen, Doppelthören),
die Hyperacusis und nervöse Taubheit kennt. Hinsichtlich der Taub-
stummheit zählt er eine Reihe von pathologisch-anatomischen Befunden
auf, welche mit derselben in Zusammenhang gebracht worden sind.
Martell Frank. Das ein Jahr später erschienene Werk des Würz-
burger Arztes Martell Frank „Praktische Anleitung zur Erkenntnis
456 Kramer.
und Behandlung der Ohrenkrankheiten" (Erlangen 1845) zeigt manche
Vorteile, sowohl was die Gruppierung des Stoffes, als auch was die Dar-
stellung anlangt. Für die damalige Zeit war es, soweit die Bedürfnisse
des praktischen Arztes in Betracht kamen, jedenfalls ein guter Leit-
faden. Der Verfasser stützte sich zwar größtenteils auf Kramer und
die französischen Autoren, verwertete aber auch die neueren anatomi-
schen Erkenntnisse, z. B. Toynbees erste Arbeiten und läßt an vielen
Stellen durchblicken, daß ihm eigene Erfahrung keineswegs fehle; wegen
der zahlreichen Zitate besitzt das Buch noch heute einigen literarhistori-
schen Wert. Es zerfällt in einen allgemeinen und in einen speziellen
Teil. In dem ersteren wird zusammenhängend, in sehr übersichtlicher
und leichtfaßlicher Weise die Symptomatologie , Aetiologie , Diagnostik,
Prognostik und otiatrische Therapie besprochen. Im speziellen Teile
finden die einzelnen Ohraffektionen eine dem damaligen Standpunkt ent-
sprechende Darstellung nach anatomischen Gesichtspunkten. Unter den
therapeutischen Methoden ist der Indikation der Perforation noch ein
weiter Spielraum eingeräumt. Die zahlreichen Abbildungen, welche
dem Buche beigegeben sind , beleben die Darstellung in hohem Maße.
Daß die Labyrinthaffektionen verhältnismäßig sehr stiefmütterlich be-
dacht sind, kann nicht überraschen, wenn man erwägt, daß noch recht
spärliche pathologisch-anatomische Grundlagen bekannt waren, und der
Verfasser daran festhielt, seine Ausführungen mit Hintansetzung jeder
Spekulation nur auf sicher erwiesene empirische Fakten zu stützen.
Wilhelm Kramer *). Eine Sonderstellung in der deutschen otiatri-
schen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen die
Schriften W. Kram er s ein. Ohne Anlehnung an seine Vorgänger, ja
im scharfen Gegensatze zu diesen ist er, gestützt auf langjährige Er-
fahrung, bestrebt, die Ohrenheilkunde nach eigenen Gesichtspunkten auf-
zubauen. Die Schärfe und Konsequenz, mit der er seine Ansichten ver-
focht, trugen dazu bei, seinen Lehren nicht nur in Deutschland, sondern
auch in England und Frankreich, durch nahezu vier Dezennien autori-
tative Geltung zu verschaffen. Ein heftiger Gegner der pathologischen
Anatomie, mußte aber sein auf symptomatischer Grundlage aufgebautes
System mit dem Aufblühen der modernen Otiatrie zusammenbrechen,
und mit Bedauern sehen wir, wie Kr am er noch zu Beginn der Sech-
zigerjahre gegen die auf anatomischer Basis sich neu reformierende
Otiatrie in heftigen Wutausbrüchen zu Felde zieht. Trotz der großen
Mängel, die das Werk Kramers aufweist, muß doch zugestanden werden,
daß es an Wertvollem vieles enthält, was wir bei den Vorgängern
Kramers vermissen. Insbesondere ist es seine Symptomatologie, die
*) Geboren in Halberstadt 1801. Gestorben in Berlin 1875.
Kram er. 4 ,",7
seinem Werke einen bleibenden Wert verleiht, trotzdem er oft die Krank-
heitserscheinungen für die Diagnose unrichtig verwertet. Wir dürfen
nur auf die klassische Schilderung des klinischen Bildes unserer jetzigen
Otosklerose hinweisen, die Kram er in die Gruppe der nervösen Schwer-
hörigkeit einreiht. Als besonderes Verdienst muß es Kram er ange-
rechnet werden, daß er in Bezug auf die Therapie rücksichtslos und
offen mit allen Traditionen der Vergangenheit brach und dadurch eine
nüchterne Beurteilung der Behandlung der Ohrenkrankheiten anbahnte.
In der Einleitung seines Hauptwerkes*) unterwirft Kr am er die Leistungen
seiner Vorgänger und Zeitgenossen in scharfer Polemik einer herben oft ungerechten
Kritik. Er versucht den Nachweis zu erbringen, daß die Kenntnis der Anatomie
und Physiologie und noch mehr der pathologischen Anatomie des Ohres zu lücken-
haft sei und daß sie dem Praktiker zu geringe Anhaltspunkte für sein therapeutisches
Wirken liefere.
Die beiden Kapitel über Prophylaxe und Symptomatologie enthalten
manche auf Erfahrung basierende, nützliche Winke.
Hingegen ist der Abschnitt über die Prüfung der Hörfähigkeit sehr
mangelhaft, indem er als einzig zuverlässigen Hörmesser eine nicht zu schwach
tickende Taschenuhr empfiehlt, ohne sich der jetzt so wichtigen Stimmgabel-
prüfung zu diagnostischen Zwecken zu bedienen.
Nach einem kurzen, nicht wesentlich Neues enthaltenden Exkurs über das
,, Ohrentönen " wendet sich Kramer der Besprechung der Häufigkeit der Ohrer-
krankungen und ihrer Aetiologie zu. Die Häufigkeit der Ohraffektionen sei in
dem schutzlosen Bau des Ohres und in der geringen Blutversorgung des Organs zu
suchen. Bezüglich der Aetiologie sagt Kr am er, daß er sich nach langjähriger
Praxis „von der Unmöglichkeit überzeugt habe, in den bei weitem meisten Fällen
von Ohrenkrankheiten deren wahre Ursachen aufzufinden, und selbst die wirklich
aufgefundenen Ursachen mit Erfolg zur Begründung von vernünftigen Heilanzeigen
zu benutzen". Mit Unrecht tadelt er die Aerzte, die gewisse Ohrenkrankheiten
als Resultat allgemeiner Erkrankungen (Lues, etc.) ansehen. Er hält sich vielmehr
berechtigt, in der bei weitem größten Mehrzahl der Fälle von Ohrenkrankheiten die
sog. Kr ankheitsu r sachen, als unserer Erkenntnis ganz unzugänglich, nicht zum
Gegenstande ängstlicher Nachforschung zu machen, und selbst da, wo die Veran-
lassung, z. B. Erkältung, ganz unzweifelhaft feststeht, nicht sie selbst, sondern un-
organisches Produkt, Entzündung des Trommelfells u. dgl., zur Basis der Heilanzeigen
zu machen. Kr am er ist geneigt, als unzweifelhaftes ätiologisches Moment eine
Heredität bei Ohrenkrankheiten anzunehmen, da die Anlage sich vererben könne,
was insofern von prognostischer Bedeutung sei, als sie auf ungewöhnliche Hartnäckigkeit
der jedesmaligen Ohrenkrankheit schließen lasse.
Nach Besprechung des Verlaufs und der Prognose der Ohrenkrankheiten,
die er im allgemeinen als eine ungünstige bezeichnet, wendet sich Krämer der
Behandlung der Ohraffektionen zu. Er empfiehlt diejenige Therapie als einzig
richtige, welche sich nach dem jeweiligen, durch Ohrenspiegel, Uhr, Katheter etc.
eruierten Ohrenbefund richtet und erst in zweiter Linie event. Allgemeinerkrankungen
berücksichtigt. Er tadelt streng die zu seiner Zeit übliche Allgemeinbehandlung,
welche die lokale Untersuchung des Ohres vernachlässigt und gibt eine ziemlich
H) Die Erkenntnis und Heilung der Ohrenkrankheiten. Berlin 1S49.
458 Kramer.
ausführliche kritische Uebersicht der zu seiner Zeit gebräuchlichen örtlich allgemein
wirkenden Heilmittel (Elektrizität, Galvanismus, Moxen, Vesikantien, Glüheisen, Fon-
tanellen), die er bis auf wenige Ausnahmen verwirft. Blutegel empfiehlt er nur bei
den entzündlichen Affektionen.
Dem scharf betonten Standpunkt entsprechend, daß die Ohrenaffektionen
durchaus lokaler Natur seien, verschmähte Kr am er den Gesamtorganismus mit
„ allgemein" wirkenden Heilmitteln zu belasten und bediente sich ihrer höchstens
als Adjuvantien. Zu der zeitgenössischen Therapie zählten die russischen Bader,
See-, Fluß- und Wellenbäder, warme Bäder, Schwefel-, Stahl-, Kräuter-, Laugen-,
Salzbäder etc., ferner Brech- und Abführmittel, Hunger-, Speichel-, Schmierkuren
und andere Mittel, welche vom Zentrum aus wirken sollten, wie Valeriana, Arnika,
Ambra, Cupr. sulf. u. s. w. Mit all diesen Heilschätzen räumte er in radikalster
Weise auf, um sich ganz und gar einer nüchternen lokalen Therapie zu widmen.
Im klinischen Teile des Kramerschen Werkes wird zuerst eine Anzahl
Krankengeschichten mitgeteilt und dann die betreffende Krankheitsform zusammen-
fassend besprochen.
Der spezielle Teil des Buches behandelt im ersten Kapitel die Krank-
heiten des äußeren Ohres, die Kramer wieder in die Krankheiten des Ohr-
knorpels, des äußeren Gehörgangs und des Trommelfells einteilt. Während ei-
serne Pathologie auf klinische Symptome gründen will , sehen wir hier im Gegen-
teile die Krankheiten der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs ganz ungerecht-
fertigterweise auf anatomischer Basis eingeteilt. Nach Krämer unterscheidet man
eine Entzündung 1. der Oberhaut; 2. der Lederhaut; 3. der Zellhaut und 4. der
Knorpelhaut. Jede einzelne dieser Abteilungen wird wieder in eine akute und in
eine chronische Form geteilt.
Was die Erkrankungen des Ohr knorpels anlangt, so ergibt der geschilderte
Befund, daß die Entzündung der Lederhaut Kramers identisch ist mit
unserem Erysipel und die chronische Entzündung mit unserem chronischen nässenden
und schuppenden Ekzem der Ohrmuschel.
Als Entzündung der Knorpelhaut wird die Perichondritis auriculae
und das Othämatom beschrieben. Das letztere hat Kr am er merkwürdigerweise
während einer mehr als 46jährigen Praxis kein einziges Mal beobachtet. Seine
Darstellung entnimmt er den Arbeiten des Psychiaters Franz Fischer*). Da dieser
in der Ohrblutgeschwulst neugebildeten Knorpel und Knochenplättchen gefunden hatte,
nahm Kramer an, daß es sich um einen entzündlichen Prozeß handle, weshalb er
die Erkrankung auch als Entzündung der Knorpelhaut des Ohres beschrieb.
Zur Besprechung der Krankheiten des äußeren Gehörgangs über-
gehend, gibt er eine Beschreibung seines Ohrenspiegels, der nur eine Modifikation
des Spekulums des Fabricius Hildanus darstellt. Alle anderen zur Unter-
suchung des Gehörgangs und des Trommelfells empfohlenen Spekula werden als
unbrauchbar verworfen. Das Spekulum Kramers ist ein seiner Länge nach in
zwei Arme gespaltener metallener Trichter. Beide Hälften sind an ihrem oberen
Rande mit zwei durch ein Schloß vereinigten Zangenarmen verbunden. Sonnenlicht
wird der künstlichen Beleuchtung vorgezogen. Für letztere bedient er sich einer
Arg and sehen Lampe mit einer abgeblendeten Oeffnung im Glaszylinder, von der
aus das Licht durch einen Hohlspiegel in den Gehörgang reflektiert wird. Zur Kon-
zentration des Lichtes dient eine in einem Rohr angebrachte Sammellinse. Die An-
wendung der Sonde zu diagnostischen Zwecken wird verworfen.
*) Die Ohrblutgeschwulst der Seelengestörten. Allgm. Zeitschr. f. Psychiatrie
1847 u. a.
Tafel XXXI
WILHELM KRAMER
Kramer. 459
Von den Krankheiten des äußeren Gehörgangs wird die Ent-
zündung der Oberhaut erwähnt. Als ihr Produkt betrachtet er die patho-
logische Anhäufung von Cerumen. Die Therapie stimmt im wesentlichen mit
unserer jetzigen überein. „Das Wesen unserer Krankheitsform," sagt Kr am er,
„ist unzweifelhaft eine entzündliche Reizung, von welcher die Oberhaut des Gehör-
ganges ergriffen wird, wodurch die darunter liegenden Ohrenschmalzdrüsen sympa-
thisch zu vermehrter Absonderung eines entarteten Ohrenschmalzes angeregt werden."
Als Ursache der Entzündung bezeichnet er Erkältung hauptsächlich nach kalten Bädern.
Die „Entzündung der Leder haut" des Gehörganges ist unsere Otitis ex-
terna diffusa acuta, während das Bild der chronischen Entzündung unserem
chronischen juckenden Ekzem des äußeren Gehörgangs entspricht. Hieran schließt
sich eine Besprechung der Fremdkörper im Ohre, von denen er behauptet, daß
ihre Entfernung stets durch bloßes Ausspritzen gelingt. „Niemals aber sind mecha-
nische, noch so sinnreich ausgedachte Hilfsmittel zur Entfernung fremder Körper
aus dem Gehörgange zu rechtfertigen." Unsere Otitis externa furunculosa
nennt er Entzündung der Zellhaut des Gehörganges und behandelt sie mit heißen
Breiumschlägen von Hafergrütze, Oel, Speck, Blutegel etc., ohne die wirksame In-
zision des Furunkels zu empfehlen. Endlich beschreibt er unter dem Titel Entzün-
dung der Knochenhaut des Gehörganges einige Fälle von Caries, Polypen und
Fisteln, sowie Stenosen und Atresien des äußeren Gehörgangs, ohne ihr
häufigstes Grundleiden, die chronische Mittelohreiterung, zu erkennen.
Im dritten Abschnitte des ersten Kapitels beschreibt Kram er die Krank-
heiten des Trommelfells. Unter diese subsumiert er irrtümlich alle Erkran-
kungen, welche nach moderner Auffassung sowohl die primären als auch die häufigeren
sekundären, durch Entzündungsprozesse des Mittelohrs bedingten Veränderungen der
Membran betreffen. Er rangiert somit eine große Gruppe akuter und chronischer
Mittelohrentzündungen unter den Begriff „Entzündung des Trommelfells".
In der Rubrik „Akute Entzündung des Trommelfells" beschreibt Kr am er
Krankheitsbilder, die wir heute als milde Formen der Otitis med. acuta simpl. und
suppurativa deuten müssen. Auch die in vielen Fällen im Anschlüsse an traumatische
Perforationen entstehende Entzündung faßt er als isolierte Erkrankung des Trommel-
fells auf. Mit der ihm eigenen Heftigkeit wendet er sich gegen die Behauptung
Wildes, daß an der eitrigen Entzündung stets auch die Trommelhöhle und die
Warzenfortsatzzellen beteiligt seien. Geschwüre des Trommelfells, die vor ihm von
zahlreichen Autoren beschrieben wurden, hat Kr am er nie gesehen und er betont
mit Recht, daß in den Fällen mit Substanzverlust stets alle drei Schichten des
Trommelfells durchbrochen seien.
Zur Behandlung empfiehlt er antiphlogistische und zerteilende Mittel (Um-
schläge, Oel, Blutegel etc.).
Der zweite Abschnitt „Chronische Entzündung des Trommelfells"
enthält die verschiedenen Formen der Otitis med. suppur. chron. Er unterscheidet
die einfache chronische Entzündung, die Entzündung mit Polypenbildung, die Ent-
zündung mit Perforation und die mit Erkrankung der Trommelhöhle, der Hirnhäute
und Hirnsubstanz komplizierte Entzündung. Kr am er ist in dem Irrtum befangen,
daß auch in diesen Fällen das Trommelfell der Ausgangspunkt der Erkrankung sei.
Er spricht seine Ansicht so dezidiert aus, daß wir uns nicht versagen können, seine
eigenen Worte zu zitieren: „Leidet die Schleimhaut der Trommelhöhle bei durch-
löchertem Trommelfelle mit, so ist dies die natürliche, wenn auch nicht immer not-
wendige Folge der durch das Loch im Trommelfell zur Trommelhöhle eindringenden
kalten, reizenden, atmosphärischen Luft."
460 Kramer.
lieber die einfache chronische Entzündung des Trommelfells (d. h. die un-
komplizierten Formen der chronischen Mittelohreiterung) bringt Kr am er nichts
Neues. Er betont das häufige Zurückbleiben von Verdickungen des Trommelfells
und wendet sich gegen die in diesen Fällen häufig angewendete Durchbohrung des-
selben. Irrtümlich hält er die Perforation des verdickten Trommelfells für technisch
unausführbar.
In dem Abschnitte über die chronische Entzündung des Trommelfells
mit Polypenbildung bespricht er ausführlich die verschiedenen Formen der Polypen,
die er nur nach ihrer Konsistenz unterscheidet, während er in der Annahme, daß
sie sämtlich vom Trommelfelle ausgehen, ihren Sitz vollständig unberücksichtigt läßt.
Das so häufige Vorhandensein von Cholesteatom bei den mit Polypenbildung einher-
gehenden Ohreiterungen ist ihm vollständig unbekannt. Die Entfernung der Polypen
geschieht durch Wegätzen mittels des von ihm angegebenen und in seinem Buche
(Fig. 3) abgebildeten Aetzsteinträgers (befestigte Lapisstifte), oder durch Abschnüren,
oder endlich durch Abschneiden mit dem ebenfalls von ihm angegebenen und abge-
bildeten Messerchen (Fig. 5 a, b).
Die dritte Abteilung (chronische mit Perforation verlaufende Entzündung des
Trommelfells) enthält die schon in der ersten Gruppe beschriebenen unkomplizierten
Fälle von chronischer Mittelohreiterung, bei denen eine deutliche, scharf abgegrenzte
Perforation im Trommelfell besteht. Als vierte Gruppe der chronischen Entzündung
des Trommelfells endlich werden alle komplizierten Formen von Otitis med. supp.
chron. , die Caries des Schläfebeins, sowie die cerebralen Erkrankungen otitischen
Ursprunges: die Meningitis purulenta, der Kleinhirn- und Schläfelappenabszeß zu-
sammengefaßt. Angaben über Diagnose und Diflerentialdiagnose dieser Prozesse ver-
missen wir in dem Buche Kramers. Ganz unbekannt scheint ihm das klinische
Bild der typischen otogenen Sinusthrombose und Pyämie gewesen zu sein. Die
Ursachen der otitischen Komplikationen sind nach ihm in der Perforation des
Trommelfells zu suchen, durch die äußere Schädlichkeiten gegen die tieferen Teile
eindringen können.
Die von Kr am er angegebene Behandlung der eitrigen Ohrprozesse ist selbst in
den schweren, mit Abszeß im Warzenfortsatz kombinierten Fällen eine konservative.
Sehr richtig ist die am Schluß dieses Kapitels angefügte Bemerkung Kramers,
daß der Ohrenfluß nur als ein Symptom, nicht aber als selbständige Krankheitsform
im Sinne „Itards samt allen seinen Vorgängern und Nachfolgern" aufgefaßt wer-
den dürfe.
Das zweite Kapitel des Kr am ersehen Werkes enthält die Krankheiten
des mittleren Ohres, d. i. der Ohrtrompete und Trommelhöhle mit allen im
Mittelohre enthaltenen Organteilen. Die Schilderung der einzelnen Abschnitte dieses
Kapitels umfaßt: die Entzündung der Trommelhöhlenschleimhaut mit krankhafter
Schleimansammlung oder mit Verengerung oder Verwachsung der Tube; die Er-
krankung der sensiblen Nerven der Trommelhöhle und den nervösen Obrenschmerz.
Wie geringschätzig Kram er pathologisch-anatomische Befunde für die Ent-
wicklung unseres Faches wertete, beweist folgender Ausspruch: „Verwachsung des
Steigbügels in der Fenestra ovalis, Verknorpelung, Entartung der Haut des runden
Fensters und ähnliche Raritäten gehören in die anatomische Pathologie, doch nicht
in die Ohrenheilkunde, da solche Strukturveränderungen am Lebenden weder
erkannt noch behandelt werden können."
Die Besprechung der „Entzündung der Schleimhaut des mittleren
Ohres" wird mit der Darstellung des Katheterismus tubae eingeleitet. Kram er
gibt eine noch jetzt vielfach gebräuchliche Methode an. Seine Silberkatheter sind
Kramer. 4(31
den jetzt benüzten ähnlich. Als anatomischen Anhaltspunkt benützt er den hinteren
Tubenwulst, über den er den nach außen leicht gedrehten Katheterschnabel zurück-
zieht, worauf dieser meist von selbst in die Tubenmündung einschnappt. Die richtige
Lage des Instrumentes erkennt er daraus, daß die mit dem Munde eingeblasene Luft
leicht bis ans Trommelfell durchströmt. Man hört dieses Einströmen deutlich, „rein,
frei und leicht ohne Schleimbrodeln". Klingt der Luftstrom aber „matt" und gelingt
es nur mit Anstrengung, Luft durch den Katheter zu blasen, so hat man sich
noch mittels der Luft presse von der Durchlässigkeit oder Undurchlässigkeit der
Tube zu überzeugen. Ist diese frei, hört man bei direkter Anlegung des eigenen
Ohres an das Ohr des Patienten beim Oeffnen der Luftpresse die Luft brausend und
rauschend einströmen. Hört man nichts, so liegt entweder der Katheter nicht in
der Tubenmündung oder der Tubenkanal ist undurchgängig. Zur genaueren Fest-
stellung des mechanischen Hindernisses bediente sich Kr am er der Einführung
von Darmsaiten durch den Katheter bis in die Trommelhöhle, ja sogar bis an die
innere Fläche des Trommelfelles. Er empfiehlt, möglichst enge Katheter anzuwenden,
um ein Umbiegen der Bougie bei ihrem Heraustreten aus dem Katheter unmöglich
zu machen. An der Darmsaite wird die Länge des Katheters markiert und 13/V
hinter dieser Marke eine zweite angebracht, die die Länge des Katheters und der
K asthenischen Röhre angibt.
Unter der Ueberschrift „Entzündung der Schleimhaut des mittleren
Ohres mit krankhafter Absonderung und Anhäufung des Schleimes"
beschreibt Kr am er nicht nur Fälle, die wir jetzt als sekretorische oder exsudative
Mittelohrkatarrhe bezeichnen, sondern auch Adhäsivprozesse nach abgelaufenen Mittel-
ohreiterungen. Die Diagnose wird ohne Rücksicht auf Trommelfellbefund und Funk-
tionsprüfung aus dem Auskultationsgeräusche beim Katheterismus gestellt, wie über-
haupt detaillierte Befunde über Narben, Kalkflecke am Trommelfelle in dem Buche
Kramers fehlen. Nur stellenweise finden sich Angaben über Abweichungen der
Farbe, des Glanzes und der Durchsichtigkeit der Membran. Bei der Auskultation
hört man die Luft entweder mit schwach feuchtem, schleimig brodelndem Tone,
oder mit entschiedenem Schleimrasseln nach dem Ohre strömen.
Die Therapie dieser Krankheitsgruppe besteht in Katheterismus der Ohr-
trompete, wobei die Luft mit dem Munde oder mittels einer Luftpumpe in das Mittel-
ohr gepreßt wird. Mit dieser Behandlungsmethode will Kram er selbst in ver-
alteten Fällen, nicht nur eine vollkommen normale Hörweite, sondern auch Beseitigung
des lästigen Ohrentönens erzielt haben. Der schon damals vielfach vertretenen
Annahme eines häufigen Zusammenhanges der Mittelohraffektionen mit Erkrankungen
des Nasenrachenraumes wird von Kr am er entschieden widersprochen.
Unter dem Titel „Entzündung der Schleimhaut des mittleren Ohres mit An-
schwellung derselben", die wir jetzt als katarrhalische Adhäsivprozesse im Mittelohre
bezeichnen, beschreibt er Fälle von chronischer hochgradiger Schwerhörigkeit, bei
denen eine starke, durch Bougierung schwer zu überwindende Tubenstenose besteht.
Die Diagnose wird aus den bei der Tubenstenose wahrnehmbaren abnormen Aus-
kultationsgeräuschen gestellt. Die Prognose bezüglich des Gehörs ist meist ungünstig.
Als Therapie empfiehlt Kramer Injektionen von 1 — 2 Tropfen einer Jodkalilösung
in die Ohrtrompete. Gerade in diesen Fällen, bei denen die Bougierung angezeigt
ist, wird sie von Kr am er entschieden widerraten.
Den Schluß der Krankheiten des Mittelohrs bildet das Kapitel „Entzündung
der Schleimhaut des mittleren Ohres mit Verwachsung der Eustachischen Ohrtrompete",
in welchem er gegen die bei Tubenatresie empfohlene Durchbohrung des Trommelfells
polemisiert.
462 Kramer.
Der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels behandelt die „Reizung der
sensiblen Nerven des mittleren Ohres (Otalgie)". Kramer schildert
hier nur den bei Zahncaries öfters auftretenden Ohrenschmerz, ohne andere Formen
der Otalgie zu erwähnen.
Das dritte Kapitel enthält „Die Krankheiten des inneren Ohres".
Nach Schilderung eines Falles von akuter Entzündung des Labyrinths, der
infolge eines Traumas mit einer Stricknadel durch purulente Menigitis letal endete,
und Mitteilung des Sektionsbefundes, wendet sich Kramer der nervösen Schwer-
hörigkeit und Taubheit" zu.
Sehr anschaulich schildert Kr am er in diesem Kapitel Krankheitsbilder plötz-
licher Taubheit und progressiver Schwerhörigkeit, rechnet aber, wie aus den
Krankengeschichten ersichtlich, außer wirklichen Erkrankungen des Hörnerven auch
Fälle von Otosklerose , hysterischer Taubheit und traumatischer Affektion des Hör-
nerven und des Labyrinthes zur Nerventaubheit. Namentlich weisen die Fälle, bei
denen er erbliche Anlage annimmt, auf Otosklerose hin. Kr am er faßt diese von
ihm als „Nervöse Schwerhörigkeit und Taubheit" bezeichnete Krankheitsform als
p r im äre Erkrankung des Hörnerven auf. Es ergibt sich hieraus, daß Kram er von
der schon zu seiner Zeit durch Toynbee bekannt gewordenen Tatsache, daß viele
als nervös bezeichnete Hörstörungen auf Ankylose des Stapes beruhen, keine Notiz
genommen hat. In vorgerückten Stadien dieser „nervösen Schwerhörigkeit" tritt als
häufige und für den Kranken sehr lästige Begleiterscheinung Ohrentönen hinzu. Das
Ohrentönen steigert sich gewöhnlich mit der zunehmenden Schwerhörigkeit und
hält meist kontinuierlich an. Die Diagnose wird jedoch nicht aus diesen subjektiven
Symptomen, sondern per exclusionem gestellt, wenn bei plötzlicher oder progressiver
Schwerhörigkeit bei der Untersuchung das Trommelfell normal und die Ohrtrompete
wegsam gefunden wird. Charakteristisch für diese Fälle sei, daß nach einer Luftein-
treibung in das Mittelohr Schwerhörigkeit und subjektive Geräusche zunehmen.
Für das Wesen dieser Erkankung hält Kr am er die erhöhte Reizbarkeit und
Schwäche eines oder beider Hörnerven.
Das Prinzip , auf welchem die Behandlung der nervösen Schwerhörigkeit
beruht, besteht nach Kr am er darin, die erhöhte Reizbarkeit der Hörnerven zu
beruhigen. Er versucht dies in Einleitung von Dämpfen (von Haferschleim, Gummi
arabic. etc.) durch den Katheter in das Mittelohr mittels eines von ihm konstruierten
Apparates und behauptet, einige Fälle nach dieser Methode geheilt zu haben, doch
gibt er zu. daß die Therapie meist aussichtslos sei. Im Anhange zu diesem Kapitel
beschreibt Kr am er noch mehrere Fälle von „nervösem Ohrentönen ohne
Schwerhörigkeit".
In einem vierten Abschnitt des dritten Kapitels gibt Kr am er eine umfassende
und klinisch gut beobachtete Darstellung der Taubstummheit, in der er mit
scharfer Kritik alle Angaben über angebliche Heilung der Taubstummheit als Täu-
schung hinstellt.
Im fünften Abschnitte werden zwei Fälle von „akuter Entzündung des N.
facialis innerhalb des Fallop. Kanals" geschildert, deren Deutung jedoch wegen
mangelhafter Beobachtung schwer ist. Der letzte Abschnitt enthält die Kranken-
geschichte eines Falles von „Tuberkelbildung im Felsenbein", deren Darstellung es
kaum zweifelhaft erscheinen läßt, daß hier ein typisches Cholesteatom vorgelegen hat.
Das vierte Kapitel „Aftergebilde in der Schädelhöhle, welche den Bau des
Gehörorgans zerstören", enthält einige Fälle von malignen Tumoren in der Schädel-
höhle, welche auf das Gehörorgan übergegriffen haben. Die klinische Analyse dieser
nach anderen Autoren zitierten Krankengeschichten ist sehr mangelhaft.
Lincke. £(33
Das fünfte und letzte Kapitel beschäftigt sich endlich mit den „Hörmaschinen".
Er zählt die große Anzahl der damals üblichen Hörapparate auf und teilt sie ein
in solche, die durch ihre Größe den Schall verstärken, und in solche, die durch die
eigentümlich vibrierende Eigenschaft des verwendeten Materials den durchgehenden
Schallwellen eine größere Schärfe verleihen. Das künstliche Trommelfell wird von
Krämer nirgends erwähnt *).
Gustav Lincke**). In scharfem Gegensatz zu Kramer steht Karl
Gustav Lincke, der bei Anerkennung der neuen Errungenschaften die
Leistungen der Alten sorgfältig sammelte und in seinem umfassenden
Werke bestrebt war, die Erfahrungen der Vorgänger der Vergessenheit
zu entreißen. Gerade in der Zeit, in welcher die Beschäftigung mit
geschichtlich-medizinischen Studien als überflüssig erachtet wurde und
Kr am er mit seiner ganzen Autorität die pathologische Anatomie des
Ohres für nutzlos erklärte, ist der rastlose Eifer, den Lincke dem Studium
der alten Literatur widmete, rühmend anzuerkennen.
Der zweite Band von Linckes „Handbuch der theoretischen und
praktischen Ohrenheilkunde" enthält in kurzen Umrissen das Ergebnis
der gesamten älteren und zeitgenössischen otiatrischen Literatur. Trotz
der nicht geringen Zahl irrtümlicher Daten und Zitate und der weit-
schweifigen Darstellung, die er häufig ganz wertlosen Arbeiten einräumt,
wird das Werk Linckes dem Geschichtsforscher stets ein wertvoller
Führer bleiben.
Von dem zur Herausgabe gelangten dreibändigen Werke Linckes
sind nur die zwei ersten Bände Originalarbeit. Durch Krankheit außer
stände gesetzt, die Darstellung der Acusticus- und Labyrintherkrankungen,
der Taubstummheit und der wichtigsten Ohroperationen zu bearbeiten,
war er genötigt, die Abfassung des den dritten Band bildenden Ab-
schnittes der Ohrerkrankungen dem Berliner Arzt Phil. Heinrich Wolf
zu übertragen.
Nach einer sehr ausführlichen Darstellung der Geschichte und Literatur der
Ohrenheilkunde, sowie einer allgemeinen Anweisung zur Untersuchung des kranken
Gehörorgans wendet sich Lincke zur speziellen Besprechung der Ohrenkrank-
heiten. Der Haupteinteilung der entzündlichen Affektionen des Ohres liegen folgende
Gesichtspunkte zu Grunde: 1. die einfachen Ohrentzündungen, die ihre Entstehung
einer lokalen Ursache verdanken; 2. die gemischten Ohrentzündungen, die der Aus-
druck einer Allgemeinerkrankung sind. Jede Ohrentzündung, ob einfach oder ge-
mischt, ist akut oder chronisch.
Ueber die Erkrankungen des äußeren Ohres bringt Lincke nichts Nein •-.
Hervorzuheben ist aber, daß er die Scheu seiner Vorgänger, das Ekzem zu beseitigen,
*) Vgl. Magnus, Nekrolog Krämers im Arch. f. Ohrenheilk. Bd. XI, S. 25,
und Lucae, Biographisches Lexikon der hervorragenden Aerzte von Gurlt und
Hirsch, Bd. III, S. 541.
**) Geboren 1804 in Kosmin, l'rov. Posen. Gestorben in Leipzig 1849.
464 Lincke.
abgelegt hat und in einer rationellen Behandlung desselben keinen Nachteil für den
Organismus erblickt. An der Ohrmuschel und im äußeren Gehörgange unterscheidet
er folgende Krankheitszustände : Entzündungen , Störungen durch normwidrige
Trennung, Störungen durch abnorme Kohärenz, durch veränderte Lage der Teile,
durch veränderte Form der Teile, Hypertrophien. Aftergebilde, abnorme Sekretionen,
Fremdkörper.
Zu den Erkrankungen des äußeren Ohres und Gehörgangs rechnet er
auch die Inflammatio membranae tympani sive Myringitis.
Er ist der Ansicht, daß bei der Myringitis die Entzündung primär im
Trommelfelle entsteht und entweder glatt in Heilung übergeht oder zum Geschwür
und schließlich zur Perforation mit Eitererguß in die Trommelhöhle oder in den
äußeren Gehörgang führt. Dagegen liege der Otitis interna (damit meint Lincke
die jetzt als Otitis media bezeichnete Krankheitsform) eine Entzündung der Trommel-
höhlenschleimhaut zu Grunde.
Der Trommelfellbefund und der Symptomenkomplex der heute als Myringitis
bezeichneten Erkrankung waren Lincke nicht bekannt, und so imponierte ihm
eine große Zahl von akuten und chronischen Otitiden als primäre Trommelfellent
zündung. Man gewinnt den Eindruck, daß er die leichteren Otitiden zur Myringitis,
die schwereren zur Otitis interna rechne.
Die Otitis interna teilt er in eine primäre und sekundäre ein. Unter der
sekundären versteht er die Otorrhoea cerebralis. Er gibt zwar zu, daß „die Fälle
die häufigsten sind , wo dem Gehirnleiden die Otitis vorausgeht" (IL p. 292) , hält
aber die Möglichkeit einer cerebralen Otorrhoe aufrecht. Sowohl die primäre als
sekundäre Otitis interna kann akut oder chronisch sein. Die chronische entwickelt
sich wohl meist aus der akuten , kann sich aber auch selbständig schleichend
entwickeln.
Eine sehr ausführliche Schilderung widmet der Verf. den pathologisch-anato-
mischen Befunden bei Otit. univers. int. Bei Eiterung im Warzenfortsatze befür-
wortet er die baldige Inzision der Weichteile und die Trepanation, warnt aber bis
zum Spontandurchbruch zu warten.
Im allgemeinen huldigt er dem Prinzipe, neben der Lokalbehandlung auch
die allgemeine nicht zu vernachlässigen. Er perhorresziert den Gebrauch von reizen-
den Substanzen (Brechweinsteinsalbe etc.) in unmittelbarer Nähe des Ohres, sondern
wendet sie stets an entfernteren Stellen (Nacken , Oberarm . Wade) an. Der Rat
Linckes, zur Entleerung des Eiters aus der Trommelhöhle dem Patienten den
Valsalvaschen Versuch zu empfehlen, ist als schädlich zu verwerfen; widersinnig
ist es ferner, den Kranken bei verschlossenem Munde und zugehaltener Nase Inspi-
rationsbewegungen machen zu lassen, indem „hierdurch der Eiter in der Trommel-
höhle durch die Eustachische Röhre herausgeholt wird." IL p. 313.
Unter Otitis erysipelatosa versteht Lincke das typ. Erysipel der Ohrmuschel
und ihrer Umgebung, mit eventuell eintretender sekundärer Otit. m. suppur. ac; unter
Otitis catharrhalis die akute und chronische Mittelohreiterung mit vorwiegend
schleimig-eitriger Sekretion. Diese tritt meist im Gefolge von Erkrankungen des
Nasenrachenraumes auf. Die gonorrhoische Otitis kann entweder als Metastase
eines Trippers oder durch direkte Infektion des Ohres mit Trippersekret ent-
stehen. Bei der Diagnose ist neben dem ätiologischen Moment hauptsächlich die
Beschaffenheit des Eiters zu berücksichtigen. Für die übrigen genannten Formen
von Otitis kann Lincke keine markanten Symptome anführen. Die Diagnose stützt
sich daher hauptsächlich auf das ätiologische Moment. Therapeutisch kommt in
erster Linie die Behandlung der Grundkrankheit in Betracht.
Lincke. 4(35
Zu den gemischten Entzündungen zählt Lincke die erysipelatöse, katarrha-
lische, gonorrhoische, rheumatische, gichtische, skrophulöse, syphilitische, morbillöse,
skarlatinöse, variolöse, ekzematöse und die herpetische Ohrentzündung.
Die Entzündung der Eustachischen Röhre, Inflammatio tubae Eust.
sive Syringitis entspricht unserem Tubentrommelköhlenkatarrh. Als höchsten Grad
nimmt Lincke eine eitrige Entzündung der Tube mit Einbruch des Eiters in die
Trommelhöhle und Perforation des Trommelfelles an.
Einen eigenen Abschnitt bilden die „Störungen durch normwidrige
Trennung". Die Behandlung geschieht im wesentlichen nach den bekannten da-
mals geübten chirurgischen Grundsätzen. Bei Besprechung der Trommelfellrupturen
legt Lincke zu großes Gewicht auf die direkte Gewalteinwirkung als ätiologischen
Faktor, während er den durch Kompression der Luft im äußeren Gehörgange (durch
Ohrfeige, Schlag, Stoß etc.) entstandenen Rupturen geringe Bedeutung beimißt.
Was die Therapie anlangt, steht Lincke auf dem noch heute uneingeschränkt
geltenden Standpunkt, jede medikamentöse Behandlung zu unterlassen.
Was die Fraktur der Ohrmuschel betrifft, so hielt er den Vorgang, wie
er von alten Aerzten (Hippokrates, Celsus, Aetius, Paul v. A e gina, Vesa 1,
Vidus) geschildert wird, für unmöglich und erwähnt ihn nur. aus „historischer1'
Rücksicht. Als Coloboma auriculae bezeichnet Lincke jene Bildungsanomalie, bei
der die Ohrmuschel oder das Ohrläppchen eine Spalte zeigt, in die sich die äußeren
Bedeckungen fortsetzen. Bei dem angeborenen Kolobom des Ohres sind die Spalt-
ränder glatt und von der äußeren Haut überzogen, bei dem erworbenen mehr oder
minder unregelmäßig und schwielig.
Unter Störungen durch abnorme Kohärenz versteht Lincke die Erwei-
terung und Verengerung, die Kompression und den Kollaps des Gehörganges und die
Atresie desselben, ferner die Erweiterung und Verengerung, die Obturation, den
Kollaps und die Atresie der Eustachischen Ohrtrompete. Die Erweiterung des
Gehörgangs führt Lincke auf den Schwund des subkutanen Fettgewebes zurück,
wie dies vornehmlich bei kachektischen und marantischen Individuen vorkommt.
Die Verengerung des Gehörgangs kann eine temporäre oder bleibende sein. Sie
ist entweder durch Veränderungen der Weichteile oder des Knochens bedingt. Zur
Entscheidung dieser Frage empfiehlt Lincke stets die Untersuchung mit der Sonde.
Die Kompression des Gehörgangs, gewöhnlich eine Folge in der Umgebung des
Ohres wuchernder Geschwülste, kann durch Einlegen der von ihm angegebenen
Röhrchen behoben werden; ebenso der Kollaps des Gehörganges.
Die Atresie kann die ganze Länge des Gehörgangs betreffen, oder nur durch
eine Membran an irgend einer Stelle bedingt sein. Solche Membranen können näher
oder weiter entfernt vom Trommelfelle liegen. Die nahe am Trommelfelle befind-
lichen Membranen hält Lincke für die abgehobene Cutisschichte des Trommelfells.
Anschaulich geschildert sind die subjektiven und objektiven Symptome der
Verengerung der Eustachischen Ohrtrompete. So beschreibt er das Geräusch
bei der Luftdusche, wenn die Verengerung durch eine chronische Blennorrhoe der
Eustachischen Ohrtrompete und der Trommelhöhle — womit er offenbar den sekre-
torischen Katarrh meint — bedingt ist, „von der Art, als wenn man ein Stäbchen
oder einen Löffel in steif gekochte Stärke einsinkt und dann etwas schnell wieder
herauszieht". Bei der Behandlung dieser Zustände legt Lincke großen Werl auf
die allgemeine interne Medikation, empfiehlt aber, wenn diese nicht zum Ziele führt,
adstringierende Injektionen und Bougierung der Ohrtrompete.
In den Kapiteln über Störungen durch veränderte Lage und Form
der Teile behandelt Lincke mit ermüdender Weitschweifigkeit ganz unbedeutende
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 30
4(i6 Lincke.
Anomalien des äußeren Ohres, z. B. das abstehende Ohr als eigene Krankheitsforrn.
Die in dem Abschnitt „Hypertrophien" aufgestellten Krankheitsbilder wie Hirsuties
meatus auditorii , Pannus des Trommelfelles etc. entsprechen noch weniger einem
praktischen Bedürfnis. Zu den Hypertrophien rechnet er auch die Exostosen, über
die er jedoch nichts Neues bringt.
Die Polypen teilt Lincke hinsichtlich ihrer Konsistenz in weiche und harte,
hinsichtlich ihres Sitzes in Polypen des Gehörganges, des Trommelfells, der Trommel-
höhle und der Eustachischen Röhre. Er betont, daß die Polypen des Gehörganges
im hinteren Teil desselben entspringen und führt dies auf die zartere Beschaffenheit
oder, wie er sich ausdrückt, „schleimhäutige Natur" dieses Teiles zurück. Außer
den Polypen zählt er noch die Warzen, Condylome, Balggeschwülste, Krebs und
Markschwamm als Aftergebilde des Ohres auf.
Zur Entfernung von Fremdkörpern empfiehlt er mehrere in seinem
Werke abgebildete Instrumente, so eigene Pinzetten, eine der Geburtszange ähnliche
Zange mit getrennt einlegbaren Zangenblättern und schließlich ein hebelartiges
Instrument.
Der dritte von P. H. Wolff bearbeitete Band behandelt die nervösen
Erkrankungen des Ohres, die Taubstummheit und die Ohroperationen.
Nach einleitenden physiologischen Bemerkungen über die Funktion der Nerven
des Gehörorgans, geht er auf die Schilderung der eigentlichen nervösen Erkran-
kungen des Ohres über. Er teilt diese in Gefühlsneurosen (Neuralgie und An-
ästhesie), Bewegungsneurosen (Krampf und Lähmung), Ernährungsneurosen und Sinnes-
neurosen.
Der ganze Abschnitt enthält nichts Neues. Ein großer Teil gehört überhaupt
nicht in das Gebiet der Ohrenheilkunde, sondern hätte besser seinen Platz in den
Lehrbüchern der Nervenkrankheiten behalten, denen er zum Teil entnommen ist.
Alles übrige ist Kramer, Itard u.a. entlehnt und unter den oben angeführten
Gesichtspunkten zusammengestellt.
In dem Abschnitte „Taubstummheit" erörtert er in ermüdender Weise die
Funktion der Sprachorgane und ihrer Teile und das Zustandekommen der einzelnen
Sprachlaute. Ueber den Taubstummenunterricht fügt er dem bereits Bekannten
nichts Neues hinzu.
In dem Abschnitt über Ohroperationen erwähnt Wolff die von ihm an-
gegebene subkutane Durchschneidung der äußeren Ohrmuskeln zur Verbesserung
des Gehörs bei eng am Schädel anliegenden Ohren.
Zu den Operationen rechnet er auch das Stechen der Ohrläppchen, die
Otoplastik, die Durchbohrung des Warzenfortsatzes, die Entfernung
von Ohrenschmalz, von Fremdkörpern und Polypen. Behufs Zerstörung von Pseudo-
membranen im Gehörgange empfiehlt er einen Kreuzschnitt und die Exzision der
vier Lappen. Ausführlich beschreibt er die Erweiterung des verengten, bezw. die
Eröffnung des verschlossenen Gehörgangs, die Perforation des Trommelfells, den
Katheterismus und die Bougierung der Ohrtrompete, ohne Neues vorzubringen. Zur
Verbesserung des Katheterismus gab Wolff einen Doppelkatheter an, der indes
keinen Vorteil gegenüber den einfachen Kathetern besitzt und den Katheterismus
nur unnützerweise kompliziert. Für den Katheterismus durch die entgegengesetzte
Nasenöffnung, den schon Deleau und später Cerutti für gewisse Fälle angegeben
hatten, konstruierte Wolff sogar einen dreifachen Katheter. Er besteht aus drei
ineinander passenden Kathetern, deren mittlerer um 1 Zoll, deren innerer um
2 Zoll länger ist als der äußere. So ineinander geschoben, daß am Schnabelende
keiner den anderen überragt, werden sie in die Nase eingeführt und erst im
Lincke. 467
Nasenrachenraum der mittlere und innere vorgeschoben und dadurch eine größere
Schnabellänge erreicht. Auch dieser geistvoll ersonnene Katheter hat sich praktisch
nicht bewährt.
Damit schließt eine Epoche, die zwar den wissenschaftlichen Aufbau
der Otiatrie durch mannigfache Ansätze vorbereitete, aber selbst noch
weit entfernt von diesem Ziele blieb. Zu einer Zeit, da andere Zweige
der Medizin von der anatomischen Denkweise bereits durchdrungen waren,
verharrte die Ohrenheilkunde noch im wesentlichen bei der symptomati-
schen Krankheitsauffassung und bei einer zum Teile obsolet gewordenen
Therapie. Rokitansky und Skoda hatten den Weg gewiesen, der
allein zu einer Neubegründung der Medizin führen konnte: steter Ver-
gleich der klinischen Phänomene mit den Befunden an der Leiche und
nüchterne Krankenbeobachtung. Diesen Weg mußte auch die Otiatrie
betreten. Nur dadurch konnte sie jene ergebnisreiche wissenschaftliche
Tätigkeit entfalten, auf die sie gegenwärtig mit voller Befriedigung zurück-
blicken darf. Es war das Verdienst Toynbees, Wildes, v. Tröltschs,
Moos' und anderer Männer zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, die Aera der wissenschaftlichen Otiatrie eröffnet zu haben.
Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Die anatomische und histologische
Zergliederung1 des menschlichen Gehörorgans
im normalen und kranken Zustande
für Anatomen, Ohrenärzte und Studierende.
Von Prof. Dr. A. Politzer.
Mit 164 Holzschnitten und 1 in den Text gedruckten Tafel,
gr. 8°. 1889. geh. M. 10.—
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medizinische Studie. Mit 1 Kärtchen, gr. 8°. 1899. geh. M. 2.—
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und chronische Ernährungs-Anomalien. gr.8°. 1883. geh. M.12. —
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drei Abteilungen, gr. 8°. 1886. geh. M. 14.—
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Holländer, Dr. E., Die Karikatur und Satire in der Medizin. Mediko-
kunsthistorische Studie. Mit 10 farbigen Tafeln und 223 Abbildungen
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Holländer, Dr. E., Die Medizin in der klassischen Malerei. Mit 165 Text-
abbildungen, boch 4°. 1903. geh. M. 16. — ; in Leinw. geb. M. 18. —
Marcuse, Dr. med. Jul. , Bäder und Badewesen in Vergangenheit und
Gegenwart. Eine kulturhistorische Studie, gr. 8°. 1903. geh. M. 5. —
Marcuse, Dr. med. Jul., Hydrotherapie im Altertum. Eine historisch-
medizinische Studie. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. W. Winternitz.
8°. 1900. geh. M. 2.—
Müllerheim, Dr. R., Die Wochenstube in der Kunst. Eine kulturhistorische
Studie. Mit 138 Abbildungen, hoch 4°. 1904. kart. M. 16.— ;
in Leinw. geb. M. 18. —
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I. Band. gr. 8°. 1906. geh. M. 9.— ; in Leinw. geb. M. 10.40.
Neuburger, Prof. Dr. M., Die historische Entwickclung der experimentellen
Gehirn- a. Bücke umarksphysiologie vor Flourens. 8°. 1897. geh. M.10. —
Neuburger, Prof. Dr. M., Die Vorgeschichte der antitoxischen Therapie
der akuten Infektionskrankheiten. Vortrag, gehalten auf der 73. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Arzte in Hamburg. In er-
weiterter Form herausgegeben. 8°. 1901. geh. M. 1.60.
Opitz, Dr. K., Die Medizin im Koran. 8°. 1906. geh. M. 3 —
Handwörterbuch der gesamten Medizin.
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II. Band (I — Z). gr.8°. 1900. 74Bogen. Geh.M.29.60; in Halbfrz. geb. M. 32.60.
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gr. 8°. 1906. geh. M. 22.60; in Leinw. geb. M. 25.—
Lehrbuch der
Chirurgischen Krankheiten des Ohres.
Von Prof. Dr. H. Schwartze.
Mit 129 Holzschnitten, gr. 8°. 1885. geh. M. 11.—
(Sonderausgabe der „ Deutschen Chirurgie" Lief. 32.)
Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Soeben erschien:
Handbuch der praktischen Chirurgie.
In Verbindung mit
Prof. Dr. v. Angerer in München, Prof. Dr. Borchardt in Berlin, Prof. Dr. v. Brämann in
Halle, Prof. Dr. v. Eiseisberg in Wien, Prof. Dr. Friedrich in Greifswald, Prof. Dr. Graft
in Bonn, Prof. Dr. Graser in Erlangen, Prof. Dr. v. Hacker in Graz, Prof. Dr. Henle in
Dortmund, Prof. Dr. Hoffa in Berlin, Prof. Dr. Hofmeister in Stuttgart, Prof. Dr. Jordan
in Heidelberg, Prof. Dr. Kausch in Schötteberg-Berlin , Prof. Dr. Kehr in Halberstadt,
Prof. Dr. Körte in Berlin, Prof. Dr. F. Krause in Berlin, Prof. Dr. Krönlein in Zürich,
Prof. Dr. Kümmel in Heidelberg, Oberarzt Dr. Kümmell in Hamburg, Prof. Dr. Küttner
in Marburg, Prof. Dr. Lexer in Königsberg, Primararzt Dr. Lotheißen in Wien, Dr. Nasse,
weil. Prof. in Berlin, Dr. Nitze, weil. Prof. in Berlin, Stabsarzt Dr. Rammstedt in Münster
i. W., Oberarzt Dr. Reichel in Chemnitz, Prof. Dr. Riedinger in Würzburg, Prof. Dr. Römer
in Straßburg, Prof. Dr. Rotter in Berlin, Dr. Schede, weil. Prof. in Bonn, Prof. Dr. Schlange
in Hannover, Prof. Dr. Schlatter in Zürich, Oberarzt Dr. Schreiber in Augsburg, Prof.
Dr. Sonnenburg in Berlin. Prof. Dr. Steinthal in Stuttgart, Oberarzt. Dr. Wiesmann in
Herisau, Prof. Dr. Wilms in Leipzig
Bearbeitet und herausgegeben von
Prof. Dr. E. von Bergmann und Prof. Dr. P. von Bruns
in Berlin, in Tübingen.
Dritte umgearbeitete Auflage.
Fünf Bände.
I. Band : Chirurgie des Kopfes.
Mit 167 in den Text gedruckten Abbildungen, 62 Bogen Groß-Oktav.
Preis geheftet M. 22. — , in Leinwand gebunden M. 24. —
II. Band : Chirurgie des Halses, der Brust u. d. Wirbelsäule.
.Mit 265 in den Text gedruckten Abbildungen, 61 Bogen Groß-Oktav.
Preis geheftet M. 21.60, in Leinwand gebunden M. 23.60.
Y. Band: Chirurgie der Extremitäten.
Mit 564 in den Text gedruckten Abbildungen, 71 Bogen Groß-Oktav.
Preis geheftet M. 25. — , in Leinwand gebunden M. 27. —
Kaum drei Jahre sind seit dem Erscheinen der zweiten Auflage des Hand-
buches der praktischen Chirurgie verflossen und schon ist die Ausgabe der dritten
Auflage nötig geworden. Die neue Auflage erscheint — ohne erhebliche Ver-
mehrung des Umfanges — statt in vier in fünf Bänden, um den Stoff gleich-
mäßiger auf dieselben zu verteilen. Die Trennung der Chirurgie des Bauches
und des Beckens in zwei Bände war unerläßlich , weil der eine umfangreiche
Band zu wenig handlich geworden wäre, da gerade auf diesen Gebieten die
Chirurgie zur Zeit schnellere Fortschritte als auf den anderen aufzuweisen hat.
Die Herausgeber haben es sich angelegen sein lassen, das ganze Werk
immer gleichmäßiger und einheitlicher zu gestalten, und die Verfasser der
einzelnen Abschnitte haben sich bemüht, die Errungenschaften des letzten
Trienniums zu verwerten. So stellt die neue Bearbeitung wiederum in
allen ihren Teilen den Stand der gegenwärtigen Forschung dar.
Besondere Aufmerksamkeit ist bei der neuen Auflage der Ausstattung
mit guten und klaren Abbildungen geschenkt worden, deren Zahl erheblich
vermehrt wurde (der fünfte Band ist mit 564 Abbildungen ausgestattet).
Die dritte Auflage des Handbuchs der praktischen Chirurgie ist im Druck so weit
vorgeschritten, daß sie in einigen Monaten vollständig erscheinen wird.
Yerlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
In zweiter, vollständig umgearbeiteter Auflage
ist erschienen
Handbuch der praktischen Medizin.
Bearbeitet von
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Brieger in Berlin , Prof. Dr. Darnach in Göttingen, Prof. Dr. Dehio
in Dorpat, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ebstein in Göttingen, Prof. Dr. Edinger in Frankfurt
a. M., Prof. Dr. Epstein in Prag, Dr. Fiulay in Havanna, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Für-
bringer in Berlin, Prof. Dr. E. Grawitz in Charlottenburg, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Harnack
in Halle a. S., Prof. Dr. Jadassohn in Bern, I. Oberarzt Dr. Kiimmell in Hamburg, Prof. Dr. Laache
in Christiania, Prof. Dr. Lenhartz in Hamburg-Eppendorf , Prof. Dr. Lorenz in Graz, Stabsarzt
Prof. Dr. Marx in Frankfurt a. M., Prof. Dr% Mendel in Berlin, Prof. Dr. Nicolaier in Berlin, Prof.
Dr. Obersteiner in Wien, Hofrat Prof. Dr. Pribram in Prag, Prof. Dr. Redlich in Wien, Oberarzt
Dr. Reiche in Hamburg-Eppendorf, Prof. Dr. Roniberg in Tübingen, Prof. Dr. Rosenstein in
Leiden, Prof. Dr. Rumpf in Bonn, Prof. Dr. Schwalbe in Berlin, Prof. Dr. Sticker in Münster
i. W., Prof. Dr. Strübing in Greifswald, Medizinalrat Prof. Dr. Unterricht in Magdeburg, Prof.
Dr. Wassermann in Berlin, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ziehen in Berlin.
Unter Redaktion von
Dr. W. Ebstein und Prof. Dr. J. Schwalbe
Geh. Medizinalrat, o. Professor in Göttingen Herausgeber der Deutschen med. Wochenschrift
herausgegeben von W. Ebstein.
Vier Bände.
232 Bogen. Mit 261 Textabbildungen, gr. 8°. 1905/06.
Geh, M. 77.—, in Leinw. geb. M. 85.—
I. Band: Krankheiten der Atmungs-, der Kreislaufsorgane, des Blutes und der
Blutdrüsen. 67 Bogen. Mit 75 Textabbildungen, gr. 8°. 1905. Geh. M. 22.—,
in Leinw. geb. M. 24. —
II. Band: Krankheiten der Verdauungs-, der Harnorgane und des männlichen
Geschlechtsapparates. Venerische Krankheiten. 61 Bogen. Mit 54 Text-
abbildungen, gr. 8°. 1905. Geb. M. 20.—, in Leinw. geb. M. 22.—
III. Band: Krankheiten des Nervensystems (mit Einschluß der Psychosen). Krank-
heiten der Bewegungsorgane. 59 Bogen. Mit 81 Textabbildungen, gr. 8°.
1905. Geh. M. 20.—. in Leinwand geb. M. 22.—
IV. Band: Infektionskrankheiten, Zoonosen, Konstitutionskrankheiten, Vergiftungen
durch Metalle, durch Tier- und Fäulnisgifte. 45 Bogen. Mit 51 Abbildungen,
gr. 8°. 1906. Geh. M. 15.—, in Leinw. geb. M. 17.—
Chirurgie des praktischen Arztes.
Mit Einschluß der Augen-, Ohren- und Zahnkrankheiten.
Bearbeitet von Prof. Dr. A. Fraenkel in Wien. Geh. Medizinalrat Prof. Dr. K. Garre in Breslau,
l'rof. Dr. H.Hackel in Stettin, Prof. Dr. C.Hess in Wür/.bui-g, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. F. König
in Berlin-Grunewald, Prof. Dr. W. Kümmel in Heidelberg, I. Oberarzt Dr. H. Kiimmell in Ham-
burg-Eppendorf, Prof. Dr. G. Ledderhose in Strassburg i. E., Prof. Dr. E. Leser in Halle a. S.,
Prof. Dr. W. Müller in Rostock i. M., Prof. Dr. J. Scheflf in Wien, Prof. Dr. O. Tilmann in Köln.
Mit 171 Abbildungen, gr. 8°. 1907. geh. M. 20.—, in Leinw. geb. M. 22.—
(Zugleich Ergänzungsband zum Handbuch der praktischen Medizin, 2. Auflage.)
Die erste Hälfte des I. Bandes des Handbuchs erschien im Harz 1905, mithin ist die
neue Auflage innerhalb Jahresfrist vollendet w-ordeni Da auch jede Umfang-
überschreitung vermieden wurde, ist das „Handbuch der praktischen Medizin" in seiner
neuen Auflage unter ähnlichen Werken früherer und jetziger Zeit tatsächlich eines der
gedrängtesten und billigsten Sammelwerke über das Gesamtgebiet der inneren
Medizin, und vermöge der letzteren Eigenschaft seine Anschaffung einem jeden Arzte
ersucht.
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